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E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 205 mm, Gewicht: 400 g

Zipfel Nichts als Papier

Roman
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7011-8294-7
Verlag: Leykam
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten, Format (B × H): 130 mm x 205 mm, Gewicht: 400 g

ISBN: 978-3-7011-8294-7
Verlag: Leykam
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gibt es die menschliche Güte? Ein Roman über die von Rechtspopulisten vereinnahmte Zeit der Wiener Türkenbelagerung, auf der Suche nach Vernunft und Frieden. 1683. Wien steht kurz vor der Belagerung durch die Osmanen, tatarische Reiter verbreiten Angst und Schrecken. Während der Kaiser mit seinem Hofstaat bereits die Stadt verlässt, reist der deutsche Rechtsgelehrte Samuel von Pufendorf nach Wien, um seinen verschwundenen Bruder Esaias zu suchen. Schon nach kurzer Zeit wird er der Spionage bezichtigt und muss gemeinsam mit dem zwielichtigen Geschichtenerzähler und Sänger Gustl wieder aus der belagerten Stadt fliehen. Inmitten eines immer unübersichtlicher und grausamer werdenden Krieges will er den Beweis für die menschliche Güte erbringen, auch wenn er selbst zunehmend zwischen die Fronten gerät. Ein Roman, der zeigt, wie aktuell die Vergangenheit ist, und dass die Fronten angesichts zahlreicher Interessen niemals so klar sind, wie sie zu sein scheinen.

Daniel Zipfel, 1983 in Freiburg geboren, lebt und arbeitet in Wien als Autor und Jurist in der Asylrechtsberatung. Sein Roman »Eine Handvoll Rosinen« (Kremayr & Scheriau 2015) wurde von der Kulturabteilung des österreichischen Bundeskanzleramts als »besonders gelungenes Debüt« ausgezeichnet und erhielt eine Buchprämie der Stadt Wien, ebenso sein zweiter Roman »Die Wahrheit der anderen« (Kremayr & Scheriau 2020).
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Wien


Der Gustl und der Tod seien Freunde, sagte man. Der Gustl sei in die Pestgrube gefallen und aus der Pestgrube wieder herausgekommen. Der Tod, so sagte man in Wien, sei für den Gustl zu schade, denn einer wie der Gustl, mit all dem Branntwein, den Trinkgeldern und den undurchsichtigen Geschäften, der habe es verdient, bis in alle Ewigkeit im finsteren Tal des Lebens zu wandeln.

Und so wandelte er pfeifend durch die Gassen, während alle schon schliefen, seinen Dudelsack unter den Arm geklemmt, rieb dreimal das Kruzifix um seinen Hals, denn die Gassen waren nicht so leer, wie sie zu sein schienen, das wusste er besser als alle anderen. Er bewegte seine Lippen stumm zum Ave Maria, hob seine Hand an den spitzen Hut, erwiderte den Gruß des Männleins mit der Hahnenfeder, das an einer Laterne lehnte. Dort, wo die Gassen sich ins Dunkle verengten, hörte er Ratten vorbeihuschen und den abscheulichen Basilisken, hörte ihn in den nächsten Brunnen gleiten, und hinter sich hörte er das Schlurfen nasser Füße, die aus der Donau kamen. Er bräuchte sich nur umzudrehen, um dem Nöck ins schuppige Gesicht zu schauen, aber das wäre ein schwerer Fehler gewesen, weil den Wassermann sah man nur einmal, und im nächsten Moment hatte er einen schon in die Donau gezogen.

So ging er weiter, der Gustl, ging festen Schrittes, denn er wusste, sie würden ihm nichts antun, denn er war einer von ihnen, eine Gestalt, die es nur im Dunklen gab.

Erst als er bei dem erleuchteten Palais angelangt war, machte er ein Kreuzzeichen und drehte sich um, damit er die Nachtgestalten nicht mit über die Schwelle nahm, damit sie nicht heimlich an ihm vorbeischlichen. Aber als er sich umwandte, war die Gasse leer, und er spürte einen leichten Stich im Herzen, einen Hauch von Enttäuschung, dass sie nicht da waren.

„Der Herr Kolschitzky?“ Mit diesen Worten empfing ihn ein Diener in schwarzer Livree, hielt ihm eine Kerze entgegen.

„Der Herr Gustl. Den Gustl wolltet’s haben, nicht den Kolschitzky. Also ist der Gustl gekommen.“

„Natürlich. Ihr seid spät. Die Trauergäste sind schon da.“

Der Diener ließ den Gustl eintreten, verschloss das schwere Tor mit den Kupferbeschlägen hinter ihm, ging mit langen Schritten durch die Eingangshalle voraus.

Die Fliesen waren aus Marmor, die hohen Spiegel verhüllt mit schwarzer Seide. Durch die offenen Fenster brachte ein Luftzug den morastigen Geruch der Donau herein. Die Öllämpchen an den Wänden flackerten.

Eine Flügeltür wurde aufgestoßen, entließ einen Schwall Stimmen, bevor sie jäh wieder zuschlug. Ein Priester kam dem Gustl entgegen, eine kleine Ledertasche an die Brust gedrückt, und würdigte ihn keines Blickes.

Als der Gustl in den Raum trat, erhob sich ein Klatschen und Kreischen. Das gleißende Licht eines Kristalllusters blendete ihn, er musste einmal, zweimal blinzeln und als er die Augen öffnete, wurde ihm schon ein Glas in die Hand gedrückt, nicht Branntwein oder Bier, sondern Champagner. Der Widerschein Hunderter Kerzen schimmerte in den Goldornamenten, den Farben der Ölgemälde. Nur die zahlreichen Spiegel an den Wänden, in den Nischen, an der Decke waren ebenso mit schwarzer Seide verhüllt wie die Spiegel im Flur. In all dem Licht, in Wolken aus Puder und Parfum, Zimt und Lavendel standen Grafen und Gräfinnen, torkelte die vornehmste Wiener Bürgerschaft in Perücken, die ihnen über die Schultern fielen, in teuren Westen und weiten Roben, alle sturzbetrunken.

Nur die Bediensteten trugen Schwarz, drängten sich durch die Gäste, die zwischen den weiß gedeckten Tischen wankten, füllten Gläser nach, reichten Silbertabletts mit Häppchen und kontrollierten auf dem Weg in die Küche, ob die Seidentücher über den Spiegeln nicht verrutscht waren.

„Der Gustl soll auf den Tisch! Auf den Tisch!“ Der Ruf wurde von der Menge aufgenommen, zehnfach, hundertfach, Männerkehlen und Frauenkehlen skandierten: „Auf den Tisch! Den Tisch!“

„Amen, amen!“, brüllte ihnen der Gustl aus vollem Hals entgegen. „Der Gustl hört euch, ihr armen Seelen!“

Er kippte den Champagner hinunter, warf das Glas über die jauchzenden Köpfe hinweg, stieg auf einen der Tische, hob seinen Rock und zeigte sein Hinterteil.

Dann blies er mit vollen Backen in das Holzröhrchen des Dudelsacks. Die Menge sang, tanzte, drehte sich zur jaulenden Musik, und von hier oben, aus den Augenwinkeln, während er im Takt stampfte, konnte der Gustl auch den Leichnam des Gastgebers sehen, des alten Generals von Sporck, eingewickelt in ein weißes Tuch. Sie hatten ihn auf den Samtkissen eines Kanapees aufgebahrt, über ihm das größte seiner geliebten Gemälde, die Schlacht des glorreichen Jahres 1664, wo fast zwanzig Jahre zuvor türkische Reiter von den Fluten der Raab weggerissen wurden, über ihnen die christlichen Dragoner mit blitzenden Säbeln.

Noch auf dem Totenbett solle der ehrwürdige General seine Regimenter befehligt und die Einnahme der Raab-Brücke angeordnet haben, während der Leibarzt seine Zehen nach Würmern untersuchte und eine Dienerin ihm den Nachttopf ausleerte. Um die elfte Stunde solle er seinen Geist ausgehaucht haben, nachdem ihm die Gottesmutter Maria in glänzendem Harnisch erschienen war.

Der Gustl blies stärker in die Sackpfeife, neben seinem Tisch bildeten Männer und Frauen lachend einen Kreis. Ein junger Adeliger mit hochroten Wangen trat in die Mitte, drehte einige Pirouetten, bevor er unter dem Jubel der anderen die Arme hochwarf, zusammenbrach und am Boden liegen blieb.

Die Menge verstummte. Der Gustl setzte die Sackpfeife ab, zog ein Tuch aus seiner Tasche, wischte sich den Schweiß von der Stirn und nahm einem Diener die Weinflasche vom Tablett.

Langsam erhoben sich die Stimmen wieder, begannen einen lamentierenden Totengesang, der hinaufstieg zum Stuck der Decke, zu den Dragonern und Heiden auf den Ölgemälden.

Im nächsten Moment lösten sich kichernd einige Damen aus dem Kreis, küssten den Liegenden auf die Wangen und auf die Stirn. Im allgemeinen Jubel stand der junge Mann auf, verbeugte sich in alle Richtungen und tänzelte zurück in den Kreis. Der Gustl nahm das Mundstück erneut zwischen die Lippen und blies in den Dudelsack. Er trat im Takt, einmal, zweimal, gleich würde sich der Tanz wiederholen, diesmal würde eine Frau hervortreten in die Mitte und all die alten Grafen würden losstürzen, sich aus dem Weg schubsen, um die Liegende zu erwecken, noch bevor der Totengesang zu Ende wäre.

Dreimal, viermal stampfte der Gustl auf. Die Menge unter ihm wogte hin und her, als er auf einmal den Kristallluster und die Engel am Deckengewölbe sah und dann erst merkte, wie das Tischtuch unter seinen Füßen rutschte, der Tisch auf einer Seite nachgab und er fiel. Die Tanzenden schrien auf und stoben davon, während er auf den Boden krachte, dabei Gläser und Stühle mitriss. Am Boden blieb er liegen und verhedderte sich im Tischtuch. Sein Hut war ihm vom Kopf geflogen, der Dudelsack lag irgendwo.

Die Menge hielt inne, irritiert über das Aussetzen der Musik, über die Störung im Ablauf. Mit geweiteten Augen starrten sie den Gustl an, der sich fluchend aufrappelte, aber kurz darauf huben sie wieder an zu singen, drehten sich weg und kreischten nach mehr Champagner, nach Wein, nach Bier, brauchten den Gustl schon gar nicht mehr, hatten ihn längst vergessen.

Schimpfend stieg er aus dem Tischtuch, schnappte sich eine Weinflasche und stellte sich an die Wand, unter einen Dragoner, der einen Heiden in die Knie zwang. Er rieb sich die schmerzenden Beine und nahm einen Schluck.

„Das ist Eurer, oder?“ Ein großer Mann mit Goldringen an den Fingern hielt ihm den Spitzhut hin. Der Gustl verbeugte sich, nahm seinen Hut.

„Seid Ihr Georg Franz Kolschitzky?“ Der Mann hatte einen fremdländischen Akzent, den der Gustl nicht gleich zuordnen konnte. Er nahm noch einen Schluck Wein.

„Der Kolschitzky bin ich, solang es hell ist. In der Nacht bin ich der Gustl.“

Der Mann lächelte, lehnte auf seinem Spazierstock. Sein Kostüm war nach französischer Mode geschnitten, das bekam kein Schneider in ganz Wien so sauber hin.

„Ein gottloses Treiben“, stellte er fest.

Der Gustl schob seinen Hut in die Stirn. „Ihr meint die Tanzleich? Ist schon die dritte diese Woche, werter Herr. Die Menschen haben eine Freud dran, wenn wer stirbt. Gott müsst Ihr woanders suchen. Nicht in Wien.“

„Gott ist zumeist nicht zu finden.“ Der Fremde lächelte noch immer. „Ihr wurdet mir empfohlen. Es heißt, Ihr kennt viele Leute. Ihr sprecht viele Sprachen.“

„Mehr Sprachen, als es Leut gibt, edler Herr, und mehr Leut kenn ich, als es Namen gibt. Mit wem hab ich das Vergnügen? Seid Ihr Sachse?“

Der Fremde...


Zipfel, Daniel
Daniel Zipfel, 1983 in Freiburg geboren, lebt und arbeitet in Wien als Autor und Jurist in der Asylrechtsberatung. Sein Roman »Eine Handvoll Rosinen« (Kremayr & Scheriau 2015) wurde von der Kulturabteilung des österreichischen Bundeskanzleramts als »besonders gelungenes Debüt« ausgezeichnet und erhielt eine Buchprämie der Stadt Wien, ebenso sein zweiter Roman »Die Wahrheit der anderen« (Kremayr & Scheriau
2020).



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