Wyrwa | Einspruch und Abwehr | Buch | 978-3-593-39278-3 | sack.de

Buch, Deutsch, 372 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 476 g

Reihe: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust

Wyrwa

Einspruch und Abwehr

Die Reaktion des europäischen Judentums auf die Entstehung des . Antisemitismus (1879-1914)

Buch, Deutsch, 372 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 215 mm, Gewicht: 476 g

Reihe: Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust

ISBN: 978-3-593-39278-3
Verlag: Campus


Die Entstehung des Antisemitismus im 19. Jahrhundert stellte die jüdische Bevölkerung in Europa vor eine gänzlich neue Situation. Sie sah sich neuartigen Formen von Angriffen, Ausgrenzungen und Anfeindungen ausgesetzt. In einem breiten europäischen Panorama beschreibt das Jahrbuch die politischen und intellektuellen Reaktionen der Juden auf diese Bedrohung. Die Gegenwehr der Juden wird dabei nicht nur in den nationalen Kontexten vorgestellt, es werden auch die transnationalen Verflechtungen diskutiert. Insbesondere das Bild der Juden als wehrlose Opfer wird kritisch hinterfragt und korrigiert.
Wyrwa Einspruch und Abwehr jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Inhalt

Vorwort 9

Einleitung

Ulrich Wyrwa
Die Entstehung des Antisemitismus in Europa und die Reaktion
des europäischen Judentums: Eine Einleitung 13

"Alte" und "Neue" Nationalstaaten

Ulrich Wyrwa
Die Reaktion des deutschen Judentums auf den Antisemitismus
im Deutschen Kaiserreich: Eine Rekapitulation 25

Rafael Arnold
Das nationale und internationale Engagement französischer Juden:
Die Alliance Israélite Universelle 43

Susanne Terwey
Reaktionen britischer Juden auf Anfeindungen und Antisemitismus
vom ausgehenden Viktorianischen Zeitalter bis zum Ende des Ersten Weltkrieges 70

Daniel Gerson
Gemeinschaftsbildung und "demokratischer" Antisemitismus:
Das Entstehen eines Schweizer Judentums im Spannungsverhältnis
von Akkulturation, Einwanderung und Ausgrenzung 93

Christoph Leiska
"Das Geschrei des Herrn von Germanenstolz":
Dänisch-jüdische Intellektuelle und der moderne Antisemitismus
im deutschen Kaiserreich 114

Ulrich Wyrwa
"Aber der Fortschritt wird sich Bahn brechen": Der Antisemitismus
in der Sicht des italienischen Judentums. Zur Berichterstattung der Zeitschrift Il Vessillo Israeltico (1879-1915) 131

Länder der Habsburgermonarchie

Gerald Lamprecht
"Allein der Antisemitismus ist heute nicht mehr eine bloße Idee…":
Strategien gegen den Antisemitismus in Österreich 153

Michal Frankl
Zwischen Staat und Nation: Tschechisch-jüdische Reaktionen
auf den Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg 180

Tim Buchen
"Herkules im antisemitischen Augiasstall": Joseph Samuel Bloch
und Galizien in der Reaktion auf Antisemitismus in der
Habsburgermonarchie 193

Miloslav Szabó
Gegen die "weltvergiftende Idee des Antisemitismus": Publizistik als Gegenwehr. Jüdische Reaktionen auf den Antisemitismus in der ungarischen Provinz um 1900 215

Marija Vulesica
"… dieses Pfäfflein erlaubte sich von der Kanzel herab die
Bevölkerung unseres ruhigen Städtchens gegen Juden und Serben aufzuregen": Die Reaktion der kroatischen Juden auf den
Antisemitismus 230

Neue Staaten aus Osmanischem Erbe

Maria Margaroni
Das "viel ersehnte" Saloniki oder der griechische Antisemitismus
und die Reaktion der Juden (1879-1914) 251

Iulia Onac
"Die antisemitische Hydra hebt den Kopf": Aspekte der jüdischen Reaktion auf den Antisemitismus in Rumänien vom Ende des
19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts 269

Veselina Kulenska
"Die blödeste und kraftloseste Doktrin": Die Antwort der
bulgarischen Juden auf den Antisemitismus am Ende des
19. und Anfang des 20. Jahrhunderts 281

Provinzen und Regionen des Zarenreiches

Maciej Moszy?ski
Die "Hydra von der Spree": Die Warschauer Zeitschrift Izraelita
und die Anfänge des modernen Antisemitismus im Deutschen
Kaiserreich 299

Klaus Richter
"Bereitet euch zum Selbstschutz vor": Die Reaktion der Litwaken
auf Gewalt und rechtliche Diskriminierung in den litauischen Gouvernements (1881-1914) 313

Zusammenfassung

Ulrich Wyrwa
Das europäische Judentum und der Antisemitismus in Europa:

Strategien des europäisch-jüdischen Abwehrkampfes 337

Ortsverzeichnis 361
Personenverzeichnis 365
Autorinnen und Autoren 370


Die Entstehung des Antisemitismus in Europa und die Reaktion des europäischen Judentums: Eine Einleitung
Ulrich Wyrwa

"Warum ich mich in Disput eingelassen, fragen Sie
mich? Ich wollte nur, ich hätte mich etwas mehr
eingelassen. […] Hat mancher geglaubt, zu allem
stillschweigen zu müssen; ich glaube es nicht."
Moses Mendelssohn an Elkan Herz
(16. November 1770)

"Den Antisemitismus kann nicht bekämpfen, wer zu
Aufklärung zweideutig sich verhält."
Theodor W. Adorno, Zur Bekämpfung des
Antisemitismus heute (1962)

Die Entstehung des Antisemitismus hat die jüdische Bevölkerung vor eine gänzlich neue Situation gestellt, sie sah sich ungeahnten Formen von Bedrohung, Verfolgung und Anfeindung ausgesetzt. Judenfeindschaft hat eine lange Tradition in Europa, mit dem immer wieder behinderten, von vielen Seiten bekämpften Prozess der Emanzipation artikulierte sich diese jedoch in neuer Gestalt. Der Begriff für diese neue Form von Judenfeindschaft - Antisemitismus - wurde genau in jenem historischen Moment geprägt, in dem die politische und rechtliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung auf dem Berliner Kongress zu einem Grundsatz der europäischen Diplomatie und zur Bedingung für die völkerrechtliche Anerkennung der Staaten in Europa geworden war. Spektakulär zum Ausbruch gekommen waren die neuen judenfeindlichen Haltungen in den Hep-Hep-Krawallen von 1819, in den folgenden Jahrzehnten artikulierten sie sich vornehmlich in einzelnen Schriften und öffentlichen Debatten. Zu einer breite Schichten der Bevölkerung erfassenden sozialen Bewegung sowie zu einer in Parteien organisierten politischen Bewegung wurde diese neue Judenfeindschaft in dem Moment, als mit dem Begriff Antisemitismus ein wirkungsmächtiges Schlagwort geprägt war und erste Organisationen auftraten, die sich ganz in den Dienst ihrer antisemitischen Mission stellten.
In der Retrospektive haben nicht wenige jüdische Intellektuelle dem zeitgenössischen Judentum vorgeworfen, sich wehrlos ihrem Schicksal ergeben, die Gefahren ignoriert und keinen Widerstand gegen den aufkommenden Antisemitismus geleistet zu haben. Insbesondere die in der zionistischen Bewegung aktive junge Generation um 1900 hatte das jüdische Establishment beschuldigt, sich nicht hinreichend gegen den Antisemitismus zur Wehr gesetzt und keinen effizienten politischen Widerstand organisiert zu haben. Hannah Arendt hatte in den 1940er Jahren den Juden ein "völliges Unverständnis für Politik" vorgeworfen, und in ihrer 1951 erschienenen Studie zum Antisemitismus in dem Band Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft entwickelte sie die These, dass die Juden dem Antisemitismus gegenüber "immer hilflos gewesen" seien, weil sie "ohnehin eine wehrlose Gruppe waren".
Tatsächlich aber gehörten Juden bereits im 18. Jahrhundert, als sie begannen aus dem sozialen Abseits in die Mitte der Gesellschaft einzutreten und gleichzeitig heftiger Widerstand dagegen erhoben wurde, zu den ersten und oftmals einzigen, die den Angriffen und Zurücksetzungen widersprachen sowie den Beleidigungen und Verunglimpfungen entgegentraten. Moses Mendelssohn forderte bereits in den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts öffentlich Toleranz gegenüber Juden ein, und Mitte der 1770er Jahre protestierte er gegen eine in Warschau erhobene Ritualmordbeschuldigung. Zusammen mit Vertretern der jüdischen Gemeinde von Berlin appellierte er an polnische Adlige, gegen diese Verleumdungen vorzugehen.
Mit den neuen Formen von Politik und der Entstehung einer politischen Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert lernten Juden die Möglichkeiten zu nutzen, die sich ihnen zur Vertretung ihrer Interessen boten. Ihr Kampf um Anerkennung und bürgerliche Gleichberechtigung wurde zugleich zu einem Kampf um die öffentliche Meinung und die kulturelle Hegemonie. In den immer wiederkehrenden öffentlichen Debatten über die Stellung der Juden in der Gesellschaft wie dem Grattenauer-Streit oder der Streckfuß-Debatte traten Juden den darin geäußerten judenfeindlichen Bekenntnissen nachdrücklich entgegen. So waren es in dem von dem Berliner Historiker Heinrich von Treitschke 1879 ausgelösten "Berliner Antisemitismusstreit" zunächst allein jüdische Bürger, die gegen die Verunglimpfungen und Verdächtigungen Einspruch erhoben.
Unmittelbar nachdem der Begriff Antisemitismus im Umfeld des politischen Schriftstellers und Journalisten Wilhelm Marr im Herbst 1879 in Berlin geprägt worden war, verbreitete sich dieser Neologismus sehr rasch in alle europäischen Sprachen. Die in diesem neuen Terminus zum Ausdruck kommende neue Form von Judenfeindschaft wurde zu einem europäischen Phänomen.
Im Unterschied zur traditionellen, religiös begründeten Judenfeindschaft zeichnete sich der Antisemitismus dadurch aus, dass er sich gegen ein grundlegend verändertes Judentum richtete. Die jüdische Bevölkerung war in weiten Teilen Zentraleuropas keine im Abseits der Gesellschaft stehende, verachtete und religiös ausgegrenzte Gruppe mehr, sondern eine religiös besondere Gruppe innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. In dem historischen Augenblick, als mit der Durchsetzung der freien Marktordnung und der Industrialisierung die Menschen vor bisher gänzlich ungewohnte Anforderungen gestellt und sich tiefen sozialen Erschütterungen sowie mentalen Verwerfungen ausgesetzt sahen, flüchteten sich nicht wenige der von diesen kulturellen und alltagsgeschichtlichen Umbrüchen zutiefst verunsicherten Zeitgenossen dahin, den Juden die Schuld an diesen gesellschaftlichen Umwälzungen zuzuweisen. Die Verantwortung für die Zersetzung der über Jahrhunderte tradierten Subsistenzökonomie sowie der alten moral economy, die Schuld dafür, dass eine kapitalistische Marktordnung und ein kommerzialisiertes Alltagsleben an dessen Stelle getreten ist, schrieben verunsicherte und verängstige Zeitgenossen den Juden zu. Die tradierten Feindbilder von Juden als Wucherern und Händlern boten ihnen eine vermeintliche Erklärung an. Den Juden wurde, wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung herausgearbeitet haben, "das ökonomische Unrecht" des gesamten Wirtschaftssystems aufgebürdet. Die Probleme der europäischen Gesellschaft verschärften sich dadurch, dass die Umwälzung von der traditionalen Subsistenzökonomie hin zur kapitalistischen Marktordnung mit einer exorbitanten Zunahme der Bevölkerung einherging: Lebten in der Mitte des 19. Jahrhunderts knapp 270 Millionen Menschen in Europa, so waren es um 1914 schon nahezu 460 Millionen.


Ulrich Wyrwa ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam und Projektleiter am Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.