E-Book, Deutsch, 124 Seiten
Wörtche Das Mörderische neben dem Leben. Ein Wegbegleiter durch die Welt der Kriminalliteratur
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-944818-27-6
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 124 Seiten
ISBN: 978-3-944818-27-6
Verlag: CulturBooks Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
»Kriminalliteratur, mit einer gewissen intellektuellen Wollust genossen, ist ein wunderbar funkelndes, facettenreiches Ding. Man kann sie von allen Seiten betrachten, man kann sich von ihr holen, was sie finden lässt. Reduzieren aber auf die Frage ?Wer war's?? darf man sie nicht.« Eine Auswahl an Artikeln, Vorträgen und Aufsätzen von Literaturwissenschaftler und Kritiker Thomas Wörtche zur Kriminalliteratur. »Wörtches Blick auf die Kriminalliteratur ist unverkrampft, da er sich nicht ausschließlich mit diesem Literaturgenre beschäftigt - seine Interessen gelten auch der Musik, dem Comic, der Geschichte und Kunstgeschichte und - natürlich - der Literatur als solcher. ?Wer nur von Kriminalliteratur etwas versteht, versteht auch von Kriminalliteratur nichts? ist sein Credo.« Thomas Przybilka, Krimi-Tipp
Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler, beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen. Er ist Mitglied der Jury der KrimiZeit-Bestenliste und Herausgeber von CrimeMag/CulturMag. Außerdem ist er Herausgeber der Reihe penser pulp bei diaphanes. Für den Unionsverlag gab er die Reihe metro heraus. Er lebt und arbeitet in Berlin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kriminalliteratur tanzt, schwimmt und rudert auf vielerlei Grenzlinien
Ein Vorwort
Kriminalliteratur ist die Literatur, die – weltweit gesehen – am meisten gelesen wird. Immer noch. Die Konkurrenz aus Fantasy (im Gefolge von Harry Potter und dem Herrn der Ringe) und Romance (Liebesromane, bei uns charmant »Nackenbeißer« genannt) war hart, hat sich aber als Modetrend wieder zurechtgemendelt. Neue Konkurrenz erwächst der Kriminalliteratur allmählich aus dem großen, vielfältigen Genrezusammenhang der Crime-Fiction selbst, aus ihren multimedialen Spin-offs sozusagen: Komplexe Comics kommen nach den dürren Jahren der Manga-Alleinherrschaft wieder, viele mit kriminalliterarischen Stoffen und Motiven. Die Science-Fiction hat zunehmend einen Tinge of noir angenommen. TV- und Film-Konzepte werden ästhetisch zunehmend innovativer, und Computerspiele beginnen gerade erst mit ihrer kreativen Evolution – und zwar explosionsartig. Dennoch behauptet sich die klassisch dargebotene Kriminalliteratur, vornehmlich als Kriminalroman – vermutlich, weil sie keine Modewelle ist. Wenn auch eine Menge ihrer Produkte dem blanken Kalkül des mehr oder weniger gelungenen Trenddesigns folgen. Das aber gehört schon immer zum Spiel und sieht nur zeitgeistig verschieden aus. Ein Buch wie dieses gönnt sich den Luxus, Kriminalliteratur und das Nachdenken über sie als zunächst einmal (allgemein-)konsensfreie Zone zu betreiben. Ein betriebswirtschaftlich kamikazeskes Projekt, vielleicht, aber schon okay, Verleger und Autor lassen sich – Suspense muss sein – gern davon überraschen, wie viele stille Sympathisantinnen und Sympathisanten dennoch darauf warten. Leute, die sich eben auch mit dem, was sie tun, denken und leben, in zunächst (allgemein-)konsensfrei erscheinenden Zonen bewegen. Für sie sind die bisher weit verstreuten Texte in diesem Band versammelt. Ein paar von ihnen, an den verschiedensten Orten erschienen, manche verschollen und wiedergefunden, manche eher prominent geworden, werden in der Buchfassung haltbarer. Auch wird die schiere Dauer etlicher Diskussionen sichtbar. Manche Argumente, denen man heute wie selbstverständlich begegnet, tragen hier ihr Copyright nebst Datum auf der Stirn – und das mag 10 bis 15 Jahre oder noch länger in der Vergangenheit liegen. Im letzten Jahrhundert also. Das 20. Jahrhundert war auch das Jahrhundert der Kriminalliteratur. Es war noch vieles viel Wichtigeres mehr. Seine gewalttätige Signatur hat sich indes eine literarische Form geschaffen: den Kriminalroman. Da beginnen die Probleme schon. Die Kriminalliteratur ist, genauer betrachtet, keine Form. Sie ist nicht die »eine Form«. Das ist ein Missverständnis. Auch von diesem Missverständnis handelt dieses Buch. Es ist nämlich ein erfreuliches Missverständnis, ein unterhaltsames und ein produktives. Aber nach 150 Jahren Kriminalliteraturgeschichte, in der Jetztzeit, fängt die Rede vom »Krimigenre« an, ein wenig ärgerlich zu werden, weil immer wieder aufgewärmt wird, was eh nie so richtig gestimmt hat. Die Geschichte der Kriminalliteratur ist keine von den Weltläufen und den anderen Signaturen der Zeit isolierbare Geschichte, keine Evolutionsstory eines reinen Unterhaltungsgenres von E. A. Poe bis Fred Vargas, exterritorial zu anderen historischen, kunst- und literaturhistorischen, zeitgeschichtlichen und politischen Parametern. So etwas wird Ihnen hier auch nicht angeboten, sorry to say. Denn auf den ersten Blick ist ja klar: Eine Father-Brown-Geschichte von Gilbert K. Chesterton und ein Roman von Derek Raymond, ein Miss-Marple-Roman von Agatha Christie und ein nicht-linearer Roman aus dem Harlem-Cycle von Chester Himes, ein Hausfrauen-Grimmi von Inge Noll und ein polyphoner Berlin-Roman von Pieke Biermann, ein ambitionierter Backstein von Elizabeth George und ein provokativer Radikal-Roman von Helen Zahavi, ein Ekel-Schlocker von Karin Slaughter und ein politischer Roman von Raúl Argemí, Faschistoides von Mickey Spillane und Bizarres von William Marshall, antisemitischer Quack von Ernest Tidyman und moderner NYC-Tribalismus von Jerome Charyn mögen das eine oder andere Standardmotiv (A ermordet B, C jagt D) teilen. Aber keine »Form«, Struktur, Erzählperspektive, keine gemeinsame Poetik oder gemeinsame »ideologische Grundentscheidung«, keine gemeinsame Funktion, und schon gar keinen gemeinsamen Blick auf die Welt. Never ever. Wohl aber teilen sie Themen, Konstellationen, Widersprüche und Problemfelder – auf allen Ebenen. Kriminalliteratur, mit einer gewissen intellektuellen Wollust genossen, ist ein wunderbar funkelndes, facettenreiches Ding. Man kann sie von allen Seiten betrachten, man kann sich von ihr holen, was sie finden lässt. Reduzieren aber auf die Frage »Wer war’s?« darf man sie nicht. »Wer war’s?«- und »Ohne Krimi geht die Mimi ...«-Albernheiten sind vermutlich unausrottbar, harmlos wie Gartenzwerge oder wie den Kölner Dom aus Streichhölzern nachbauen oder Bierfilze sammeln. Wer sich mit der 17-millionsten Variante der »Wer war’s?«-Frage nicht beschäftigen mag, darf sich bei der Lektüre von intelligenter Kriminalliteratur dafür wahlweise delektieren an den Spannungsfeldern von Realität und Fiction, von Gewalt und ihrer Darstellung, von Ordnung und Chaos, von Aufklärung und Gegenaufklärung. von Erhellung und Verschleierung, von Ideologie und Ironie, von Transzendenz und Kontingenz, von Suspense und Langeweile, von Subtilität und Action, von Tempo und Entschleunigung, von Loyalität und Verrat, von Macht und Grausamkeit, von Terror und Horror, vom Verhältnis der Geschlechter, von Narration und Ästhetik, von Vor-, Post- und Metamoderne, von Komik und Tragik, von Kitsch und Kunst, vom Hohen Ton und von Vulgarität, von Seriosität und Trivialität, von gutem und schlechtem Geschmack, von Multimedia, von Bildern und Zeichen ... Und deswegen geht auch kriminalliterarisch gesehen vorläufig noch das 20. im 21. Jahrhundert weiter – seine Strukturen, Themen, Problemlagen haben sich bis jetzt vom Datum nicht beirren lassen und machen uns kontinuierlich weiter zu schaffen. Wovon in den folgenden Texten wenig die Rede sein wird, weil sich das von selbst versteht: dass es neben der Kriminalliteratur noch andere Literatur und Kunst gibt, die ebenfalls die Themen Verbrechen, Tod, Gewalt, Mord, Gier und niedere Triebe behandeln, ohne deswegen irgendwie kriminalliterarisch verdächtig zu sein. Das gilt vor allem für die Kunst und Literatur früherer Zeiten ab Homer, Sophokles, Euripides und Aischylos. Ja: auch Shakespeare, Dostojewski und Doderer, die Märchen der Gebrüder Grimm und die Bildweiten von Callot, Goya, Dix und Grosz und Co. Ja, die Bibel und vor allem das Alte Testament. Ebenso wenig interessieren uns hier die diversen Realismus- und Widerspiegelungsdebatten, die tendenzielle Vermischung von fiktionalen Texten und »realen« Ereignissen in den kultursemiotischen Auslegungsalgorithmen. die Genre- und Gattungsdebatten und ihre Defizite, auch nicht die einschlägigen Essays von Brecht, Bloch, Kracauer & Co. Wir müssen auch nicht breit ausführen, dass es nirgendwo auf diesem Planeten ein einigermaßen brauchbares Übersichtswerk über die globale Kriminalliteratur gibt, wohl aber – bis auf den deutschsprachigen Raum – ein paar hilfreiche Steinbrüche zur angelsächsischen, franko- und iberophonen Kriminalliteratur, meistens als »Encyclopedia of ...«, »Encyclopaedia of ...« oder »Dictionary of ...« und gerne auch als Mega-Bibliographien. Solche Werke sind extrem nützlich, aber sie müssen enorme Mengen von Material sammeln und verarbeiten. Abertausende Titel im Jahr, weltweit und ohne Ende ... Da bleiben wenige Ressourcen fürs Reflektieren. Es ist ein wahrer Material-Tsunami: Allein in Deutschland erscheinen, arg vorsichtig geschätzt, pro Monat mehr als hundert einschlägige Primärtitel. Wichtiges und Gutes steht neben reinem Quatsch und sinnfreien Marginalien, scheindemokratisch gleichwertig angeordnet; quasijournalistische Kolumnen neben echten, halbanalphabetisches Gebrabbel neben anständigen Texten. Die schiere Menge der Produktion nivelliert alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner hin. Das ist beileibe nicht kriminalliteraturspezifisch, trifft aber günstig auf einen Zeitgeist, demzufolge es keine Kriterien gibt, sondern nur zielgruppengenaue gelungene oder verfehlte Ansprachen. So hängen dann letztendlich Primärproduktion, Sekundär- und Tertiärproduktion am selben Tropf: dem Diktat der Quote resp. der Verkaufszahlen. Natürlich erzielt man mit »barrierefreien« Texten mehr Auflage und Clicks, nicht etwa nur aus Kalkül, sondern weil eine analoge Schlichtheit zwischen Produzent und Rezipient herrscht – das ist das Geheimnis von vielen Bestsellern. Wenn wirklich ein Autor namens Andreas Franz einer der meistverkauften deutschen Krimi-Autoren ist (man kann seine Bücher jenseits aller ästhetischen und anderen Barrieren zu lesen versuchen ...), dann erscheint eine solche Kongruenz als hochplausibel. Ja, ich weiß auch, welche Namen von Sekundärarbeitern, Nach- und Be-denkern man jetzt als Gegenbeispiele anführen wird ... Auf diesem Gebiet kann ich Ihnen leider auch keinen Konsens anbieten: Ich bin mit nichts davon wirklich zufrieden oder gar einverstanden. Und weiß gleichzeitig doch, dass hinter dem sekundärliterarischen Defizit ein produktionsökonomisches, ein wertungstheoretisches und ein forschungsstrategisches Problem steckt. Weil die Akademie, die z. B. eine Geschichte der Kriminalliteratur finanziell stemmen könnte, den Gegenstandsbereich nicht genug kennt, vor allem, was die lebensweltlichen Kontexte angeht. Weil die Internationalität der Kriminalliteratur die Grenzen der Einzelphilologien sprengt....