E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Winklmann Last Christmas
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-451-84017-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Weihnachten in der Popmusik
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-451-84017-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein britischer Radiosender veranstaltet seit einigen Jahren das Spiel "Whamageddon". Die Regeln sind einfach: Wer es in der Vorweihnachtszeit schafft, das Lied "Last Christmas" der Band "Wham" nicht zu hören, gewinnt. Eigentlich eine unmögliche Aufgabe, auch hier in Deutschland. Weihnachtspopmusik hat keinen leichten Stand, das zeigt dieses Spiel.Für Musik-Aficionados ist sie der Inbegriff von Kitsch, religiös musikalische Menschen bringen sie oft mit der Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes in Verbindung. Dass beides nicht stimmen muss, möchte dieses Buch zeigen. Als Einstieg in den Weihnachtspop-Kosmos versammelt es Texte, die einzelne Lieder oder Pop-Genres erschließen und aufzeigen, dass auch ein Popsong die Weihnachtsbotschaft transportieren kann.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religionssoziologie und -psychologie, Spiritualität, Mystik
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christentum/Christliche Theologie Allgemein
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikwissenschaft Allgemein
Weitere Infos & Material
Weihnachten in der Popmusik –
Einführung
Michael Winklmann Driving home for Christmas
Heilig Abend 2021 – Driving home for Christmas. Meine Familie und ich sind auf dem Weg zu den Großeltern und hören Radio. Der Sender rühmt sich damit, den Weihnachtsdauerbrenner „Last Christmas“ nicht zu spielen. Stattdessen läuft Weihnachts-Rock, Weihnachts-HipHop, Weihnachts-Soul. Bei „Christmas in Hollis“ der Rap-Crew Run DMC wird meine Frau hellhörig: „Das ist auf der Kassette, die meine Mutter immer an Weihnachten eingelegt hat.“ It was December 24th on Hollis Ave in the dark When I see a man chilling with his dog in the park I approached very slowly with my heart full of fear Looked at his dog, oh my God, an ill reindeer Bei den Schwiegereltern halte ich die besagte Kassette in Händen und erfahre, dass sie ein Weihnachtsgruß von Verwandten aus den USA war. Das Cover zeigt Maria – oder Josef? – und das Jesuskind. Die charakteristische Strichzeichnung lässt sofort auf ihren Urheber schließen: Keith Haring. Das Album „A very special Christmas“ wurde 1987 zur Unterstützung der Special Olympics, der größten Sportbewegung für Menschen mit geistiger Behinderung, veröffentlicht. Für die Familie meiner Frau bedeutete die Musik von Sting, Whitney Houston, Madonna und anderen, die auf diesem Album zusammengestellt wurde, aber vor allem eines: Weihnachten. Diese kleine Anekdote zeigt: Weihnachten und Musik – das gehört zusammen. Bei keinem anderen Fest, in keiner anderen Jahreszeit gibt es einen so großen, das öffentliche Leben prägenden musikalischen Kanon. Von „Hochkultur“ – Bachs Weihnachtsoratorium – zu Radio-Pop – „All I Want For Christmas Is You“ (Mariah Carey) – prägt Musik diese Zeit akustisch. Ehrlicherweise muss man dabei allerdings feststellen, dass spätestens seit den 1950er Jahren – der Geburtsstunde1 des Pop – vor allem populäre Musik dabei einen großen Einfluss hat. Das kann ein Auszug aus den offiziellen deutschen Single-Charts der Weihnachtswoche 2022 illustrieren. Diese werden auf Basis von Verkaufs-/Zugriffszahlen (physische Tonträger, Downloads, Streaming-Dienste, …) ermittelt. 1. All I Want For Christmas Is You Mariah Carey 2. Last Christmas Wham! 3. Merry Christmas Everyone Shakin’ Stevens 4. Driving Home for Christmas Chris Rea 5. Rockin’ Around the Christmas Tree Brenda Lee2 Auf Platz 1 befindet sich, wie in den USA seit Veröffentlichung im Jahr 1994 übrigens jedes Jahr, die selbsternannte „Queen of Christmas“ Mariah Carey. Auch die nachfolgenden Titel sind vielen Menschen bekannt. Würde man diese Liste beliebigen Personen vorlegen: Mindestens einen Titel würde wahrscheinlich jede und jeder schon einmal gehört haben. Achtet man bei diesen Liedern nun genau darauf, was die Künstlerinnen und Künstler eigentlich singen, fällt auf: Auch wenn jeder der Songs das Wort „Christmas“ im Titel trägt, geht es im Großteil der Weihnachtspopmusik eigentlich gar nicht um Weihnachten. Die Theologie von Weihnachten oder eine Bezugnahme auf die Erzählungen von der Geburt Jesu finden in der Regel nicht statt. Ein Blick auf das erste jemals aufgenommene Weihnachtslied zeigt: Das ist schon seit über 100 Jahren so. Oh what fun it is to ride in a one-horse open sleigh!
Die früheste erhaltene Aufzeichnung eines Weihnachtsliedes – konserviert auf einer Edison-Walze – ist kein Kirchenlied, kein ernstes, theologisch mit der Weihnachtsbotschaft aufgeladenes Stück Musik. Das Edison-Quartett – eine Musikgruppe, die ursprünglich zur Aufnahme von Walzen für den Edison-Phonographen gegründet wurde – nahm 1898 einen zweiminütigen Klamauk mit dem Titel „Sleigh Ride Party“3 auf, in dem sie das Lied „Jingle Bells“ zum Besten geben. Das Lied wird heute als Weihnachtslied wahrgenommen, entstand in den 1850er Jahren aber als Schlittenlied. Es handelt von einem Pferdeschlittenrennen und ist vielleicht der Grund dafür, dass bis heute kein Weihnachtssong ohne „Sleigh bells“ – rhythmisch klingelnde Schlittenglocken – auskommt. Schon das Edison-Quartett verwendet sie in ihrer Interpretation des Liedes. Auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt, war diese erste (Nicht)Weihnachtslied-Aufnahme eine Blaupause für das, was ab Mitte des 20. Jahrhunderts an Christmas-Pop veröffentlicht werden sollte. Abgesehen von Coverversionen von Kirchenliedern, z.?B. „We Three Kings of Orient Are“ von den Beach Boys, beschäftigt sich Weihnachtspop bis heute – zumindest vordergründig – nicht mit dem Weihnachten der Bibel. Aber worum geht es in diesen Liedern dann? Für einige Songs beantwortet das dieses Buch. Es enthält elf Tiefenbohrungen, die Lieder und Genres im Detail vorstellen und aufzeigen, wie vielfältig die Annäherung an die Weihnachtsbotschaft in populärer Musik ist. Als Einstieg soll aber ein breiter Zugang die Gesamtheit des Phänomens „Weihnachtspop“ beleuchten. A Billboard Christmas
Über die Frage, was Popmusik eigentlich ist, wird – in der Kneipe und im Hörsaal4 – viel diskutiert. Popmusik kann über ihre Vermarktung definiert werden. Sie ist dann Musik, die eng mit dem Star verknüpft ist, der sie interpretiert. Man kann sich Pop aber auch über seine Verbreitung annähern. Er ist dann Musik, die von vielen Menschen gehört wird. Führt man sich vor Augen, dass beispielsweise eine Aufnahme der Goldberg-Variationen des weltberühmten chinesischen Pianisten Lang Lang 15 Wochen in den deutschen Album-Charts war und um seine Person durchaus ein Starkult betrieben wird, so muss eine Popmusik-Definition noch um ein Ausschlusskriterium ergänzt werden: Pop grenzt sich von klassischer Musik auf der einen und von Volksmusik auf der anderen Seite ab. Es gäbe noch viele weitere Kriterien. Für dieses Buch wurde bewusst ein sehr breiter Pop-Begriff angelegt, der sich auf die eben beschriebenen Merkmale stützt. Einen entscheidenden Einfluss auf die Frage, was Pop ist, hat seit Mitte des 20. Jahrhunderts der amerikanische Medienkonzern Billboard. Er erhebt unter anderem die offiziellen Single- Charts in den USA. Lange Zeit galt auch, für die USA und darüber hinaus: Was in den Billboard-Charts stattfindet, ist Pop. Seit 2011 gibt es spezielle Weihnachtscharts, die „Holiday 100“, außerdem erstellte Billboard die „Greatest of all Time Holiday 100 Songs“. Diese Chartlisten – die „Holiday 100“ wurden von 2011– 2022 berücksichtigt – liefern einen Weihnachtssong-Korpus, der eine repräsentative Darstellung dessen bietet, was in der Weihnachtszeit in den USA im Radio läuft, in den Läden gekauft, was gestreamt oder heruntergeladen wird. Dieses Abbild englischsprachiger Weihnachtspopmusik hat wiederum weltweit Einfluss auf den Weihnachtsklangteppich. Mit Hilfe von Techniken zur Analyse großer Datenmengen ist es nun möglich, z.?B. Worthäufigkeiten im Songkorpus zu untersuchen. Die Grafik zeigt die 25 häufigsten Wörter in Weihnachtssongs. Wenig erstaunlich ist, dass das am häufigsten vorkommende Wort „Christmas“ (530 Erwähnungen) ist. „Baby“ (128), „love“ (127), „happy“ (66) und „mistletoe“ (61) lassen sich dem Wortfeld der romantischen Liebe zuordnen. „Home“ markiert das Motiv des „Nachhause-Kommens“. Das wird vor allem dann sichtbar, wenn man überprüft, in welchem Kontext das Wort immer wieder auftaucht („Baby, please come home“, „There is no place like home for the holidays“ …). Christinnen und Christen feiern an Weihnachten die Geburt Jesu, sein Name liegt in der Worthäufigkeitsliste auf Platz 49. Joseph kommt im Songkorpus gar nicht vor, Maria immerhin 24- mal. Die Stadt Bethlehem wird sechsmal erwähnt. All das zeigt: Der Löwenanteil erfolgreicher Weihnachtspopmusik bedient nicht das religiöse Konzept Weihnachten, sondern feiert Weihnachten als romantisches, friedliches, nostalgisches „Fest der Liebe“.5 So this is Christmas
Es wäre ein Leichtes, diese Herangehensweise an Weihnachten kategorisch abzulehnen. Und in der Tat kann ein Weihnachtsfest, das vor allem als Inszenierung von Konsum gefeiert wird, nicht kritiklos belächelt werden. Der Wunsch, das Weihnachtsfest wieder als dezidiert religiöses Fest zu begehen – „Keep Christ in Christmas“ – verkennt aber die Tatsache, dass Weihnachtsfeierlichkeiten von Beginn an eine Melange aus christlichen Motiven und bereits existierenden Winterfeierlichkeiten waren.6 Der Religionswissenschaftler Bruce David Forbes verwendet in diesem Zusammenhang das Bild eines „three-layer cake“7 – eines Kuchens mit drei Schichten. Die unterste Schicht steht dabei für jahreszeitliche Feierlichkeiten, die weit in der Geschichte zurück gehen. Diese werden von einer zweiten, religiösen Schicht überlagert, etwa wenn das Christentum „attempts to supplement, co-opt, or transform the meaning of an already existing seasonal celebration.“8 Die dritte Schicht bildet moderne populäre Kultur. Damit ist...