E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6210-2
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jan Wilm, geboren 1983, ist Schriftsteller und Übersetzer. Unter anderem übertrug er Werke von Maggie Nelson, Arundhati Roy und Frank B. Wilderson III. 2016 erschien das Buch The Slow Philosophy of J. M. Coetzee, 2019 sein Roman Winterjahrbuch. 2019 gab er im Rahmen der Ror Wolf Werke den Supplementband Alles andere später. Über Ror Wolf II heraus und 2022 das Freundschaftsbuch Ror.Wolf.Lesen. Mit Joshua Cohen arbeitet er schon lange zusammen, hat seine Bücher besprochen und ihn als Moderator auf Lesereisen begleitet. Jan Wilm lebt in Frankfurt am Main.
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TRANCHIREN· COLLAGEN Meine Bilder erscheinen, Bild um Bild, sie erscheinen wie Schnepfen in großen Bögen mit weiten Schwüngen im Verlaufe der Zeit FORTSETZUNG DES BERICHTS Das Werk Ror Wolfs ist für mich am ehesten aus der Collage heraus zu denken. Die Collage ist dabei für mich das zentralste Verfahren, der innerste Aspekt nicht nur von Wolfs Werk, sondern darüber hinaus eines der Kernelemente aller ästhetischer Arbeit. Wenn ich Rors Werk als Gesamtes lesen will, dann habe ich eine Collage im Kopf, und so versuche ich, meine Definition des Begriffs Collage als etwas möglichst Umfassendes zu denken: Die Collage als Sammlung von Zerstückeltem; die Collage als ein Kombinationsverfahren, das Brüche sichtbar macht durch die Nebeneinanderstellung von Unzusammenhängendem; die Collage als Mittel zur Bedeutungsgenerierung durch die Zusammenstellung von Unbekanntem. Das trifft auf bildende Kunstwerke zu, aber auch auf Texte, so wie seit Beginn der Moderne immer wieder Brüche und Risse Textlandschaften durchreißen, zum Beispiel bei einem Autor, der das Ende klassischen realistischen Erzählens markiert und gleichzeitig den Beginn modernistischen Schreibens: Flaubert: eine Art und Weise, den Diskurs zu schneiden, zu durchlöchern, ohne ihn unsinnig zu machen. Barthes Ich gehe aber noch weiter und gehe bewusst theoretisch ungenau vor, und ich denke die Collage viel umfassender, als es etwa die Reallexika und ästhetischen Theorien es tun, nicht allein, weil ich kein Theoretiker bin, sondern auch, weil der Collage ein ur-radikales und destruierendes Moment innewohnt, das einschneidend gegen das geordnete Vorgehen von allem Realismus rebelliert. Doch das Zerbrechen und Zerschneiden ist nur ein einzelner Teil des Collageverfahrens als Arbeiten mit Realitätsfragmenten. Der Teil, der auf die Zerstörung folgt, ist die Neuordnung, die Kombination und Verschmelzung zu etwas anderem. So verschmelze ich theoretisch unsauber Bedeutungen von Montage und Kombinatorik, wenn ich im Gesamtwerk von Ror Wolf überall die Collage erkenne. Reallexikon Damit bin ich nicht allein, noch ist diese Einsicht eine ganz revolutionäre, sind doch im Gesamtwerk von Ror Wolf Montage und Collage wie bei keinem anderen Autor der Gegenwart das wesentliche Text und Bild generierende Verfahren bzw. das Kernmoment seiner kompositionellen Ästhetik, ob er nun Hörspiele macht, Bildcollagen herstellt, Prosa schreibt oder Bild- und Textcollagen in seinen Büchern wie der monumentalen Enzyklopädie für unerschrockene Leser kombiniert. Michael Lentz Rund 4000 Bildcollagen hat Ror im Laufe seines Lebens geklebt. Bis zuletzt arbeitete er an diesen visuellen Kunststücken, und die Bildarbeit ist mit den Anfängen seines Schreibens verbunden. Frühe Fingerübungen dieser Art gab es schon während der 50er Jahre. Einen heftigen Schub vermerkt Wolf für die Zeit in St. Gallen 1965/66 ›angesichts der Alpen‹, einen weiteren 1980/81, als in einem ›großen Rausch‹ (Wolf) Hunderte von Collagen parallel zur Arbeit an den Texten der Enzyklopädie entstanden. Franz Mon Alle Bildcollagen, die vormals Unzusammenhängendes verkleben, so wie es sich nach dem Wortstamm des französischen »collager« (kleben) eben gehört, sind auf der Rückseite von ihrem Autor signiert und datiert. Manche weisen drei oder vier gelegentlich viele Jahre auseinanderliegende Daten auf. Nein, falsch: die Bildcollagenrückseiten sind nicht eigentlich von ihrem Autor signiert, sondern von ihren Autoren. Denn auf allen Collagen finden sich immer zwei Namen. Neben der wie Wasserwellen oder eine Arztunterschrift aussehenden Signatur »ror wolf« sind die Collagen gestempelt mit einem ovalen, wie ein gestauchter Donut scheinenden Siegel. Zwei Kreise, die in der Mitte ein Loch lassen, und in dem sich ergebenden ovalen Band steht oben Raoul Tranchirer und unten Moritaten & Collagen. Die Collage in Rors Werk ist so zentral, dass sie selbst Teil seines Namens – seiner Namen – darstellt. Denn Ror Wolf ist vor allem Raoul Tranchirer. Und der Häckselkünstler und Zerschnetzelspezialist Raoul Tranchirer, Rors Pseudonym, Rors Alter Ego, ist, wie die erste intensivste Schaffensperiode der Bildcollagen, eng mit der Schweiz verbunden. Zumindest einem Gedicht von 1966 nach: Ankunft in Basel 21 Uhr 40 Hier angekommen aus Sankt Gallen speis ich, ans Licht gekrochen, Alter vierunddreißig, ein Eis, bedeckt gewittrig, deshalb schmeiß ich den Löffel nicht ins Korn und nicht ins Reisig, zwölf Grad jetzt in der Nacht: Tranchirer heiß ich, ach alter Junge lieber Gott was weiß ich. Als ich zu Ror einmal sagte: Raoul Tranchirer ist also Schweizer, lachte er, erhob aber den rechten Zeigefinger und sagte: Zur Hälfte Frankfurter. Geboren wurde jene Persona aus Rors Kosmos, die am ehesten seinem Collagen-Geist zuzurechnen ist – geboren wurden Name und Kunstfigur Raoul Tranchirer etwa zehn Jahre vor dem Aufenthalt in der Schweiz, wo Rors Frau Erika eine Stelle im Marketing annahm. Mitte der 1950er-Jahre kam Raoul Tranchirer in Frankfurt am Main zur Welt, wo Ror Wolf seit 1954 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität unter anderem bei Theodor W. Adorno und Walter Höllerer Literatur, Philosophie und Soziologie studierte. Pläne, bei dem Germanisten Kurt May eine Dissertation über Humor im Werk von Franz Kafka zu schreiben, verwarf er bald, auch weil die eigene schriftstellerische Arbeit sich in den Vordergrund schob. Zum Glück. Das Studium ist dennoch von Bedeutung für Rors künstlerische Arbeit, da sich in der Studierzeit erstmals die Möglichkeit zum Publizieren eigener Texte ergab. Und so wie Ror seinen Raoul Tranchirer später in das Gedicht »Ankunft in Basel 21 Uhr 40« und somit in die Welt der Wirklichkeit einschrieb, so begann er schon während der Studienzeit, sich in die Literatur einzuschreiben. Damals war Ror für die Studentenzeitschrift Diskus als Redakteur und Autor tätig, in der er unter anderem Rezensionen zu Literatur, zum Film und zu seinem geliebten Jazz veröffentlichte, bevor er darin mit ersten literarischen Texten und Bildcollagen debütierte. Diskus war 1951 gegründet worden und trug damals noch den trockeneren Namen Frankfurter Studentenzeitung, war aber schon in Diskus umgetauft worden, bevor der erste Jahrgang im Druck war. Im Goldenen Zeitalter des Wirtschaftswunders wurde Rors Tätigkeit für die Studentenzeitschrift übrigens nicht schlecht bezahlt. Erstmals verdiente er Geld mit seiner Kunst. Der lang gehegte Wunsch, als freier Autor zu leben, rückte etwas näher. Im Rahmen seiner Publikationsarbeit für den Diskus geschah es dann auch, dass sich der Autor nicht nur einen, sondern gleich zwei Künstlernamen zulegte. Beide Namen sind eng verflochten mit dem lebenslang und kunstlang wichtig gebliebenen Motiv der Collage, mit dem Verfahren des Zerteilens und Zerschneidens, das die verschiedensten Dimensionen seines Œuvres zusammenklebt. Der Bruch innerhalb der einzelnen Werke schafft motivisch den Zusammenhalt des Gesamtwerks. Im Diskus erschienen zunächst einige Texte unter Rors bürgerlichem Namen Richard Wolf. Allerdings gab es zur damaligen Zeit bereits einen mehr oder weniger bekannten Autor namens Richard Wolf, der von 1900 bis 1995 lebte und von 1958 bis 1965 Direktor des Goethe-Instituts war. So zerlegte der Autor, dessen vollständiger Name Richard Georg Wolf lautete, seine beiden Vornamen in Einzelteile und collagierte sich zu Richard Georg Wolf. Bald publiziert er im Diskus nicht mehr nur unter dem Namen Richard Wolf, sondern unter dem Kürzel »R.W.« und schließlich unter dem Mononym »rorwolf«, bevor er Anfang der 1960er-Jahre seine ersten Prosatexte als »Ror Wolf« veröffentlicht. In dieser Anfangszeit des Schreibens geht darüber hinaus aber auch ein Bruch durch Wolfs öffentliche Schriftsteller-Persona, denn während er seine bürgerlichen Vornamen zerschnitt und hinter sich ließ wie die ehemalige Heimat in der DDR, trennte er zwei in seiner Brust schlagende Schreibseelen: Den Autor von Prosa und den Autor von Gedichten und Bildcollagen. Denn die Moritaten und verstreuten Bilder, die zur selben Zeit im Diskus erschienen, veröffentlichte er unter dem Namen, der das Zerstückeln auf noch andere Weise in sich trägt, als es Ror Wolf tut: Raoul Tranchirer. Ror beteuerte, der Name Tranchirer sei eine verformte Spiegelung des Namens richard – – drahcir – tranchir – Tranchirer. Es ist nicht auszuschließen, dass sich dahinter eine nachträgliche Interpretation verbirgt, denn der Name passt schlicht und ergreifend bestens zu einem Collageur. Der geschnetzelte Name tritt Anfang der 1960er-Jahre in Erscheinung, als eine Reihe von Moritaten und Bildcollagen unter dem Namen »Roul Tranchirer« publiziert werden. Damals fehlte dem Vornamen noch das »a«, das vielleicht dem poetologischen Tranchierbesteck seines Besitzers zum Opfer gefallen ist. Später fügte er das »a« wieder ein, wenngleich selbst der tranchierte Nachname eine subtile Zerlegung des deutschen Wortes »tranchieren«...