E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Wayne Der Gewinner
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-455-01721-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-455-01721-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Teddy Wayne ist Autor von sechs Romanen. Er wurde mit dem Whiting Writers' Award und einem NEA Creative Writing Fellowship ausgezeichnet und war Finalist für den Young Lions Fiction Award, den PEN/Bingham Prize und den Dayton Literary Peace Prize. Er schreibt regelmäßig für den New Yorker, die New York Times und McSweeney's.
Weitere Infos & Material
Cover
Titelseite
Für Phoebe, Angus und [...]
Ein wenig Wasser reint [...]
I
II
III
IV
V
DANK
Über Teddy Wayne
Impressum
I
1. Kapitel
Die Straße hinter dem weißen Sicherheitstor, umrahmt vom dichten Grün des Frühsommers, neigte sich sanft in die Ferne.
»Der Code?« Conor konnte sich nicht erinnern, dass John Price einen Torcode erwähnt hatte. »Das ist keine Sprechanlage?«
Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. »Um reinzukommen, brauchen Sie einen Code«, sagte er.
Conor wählte John Price an, doch die Verbindung kam gar nicht erst zustande – nur ein einsamer, winziger Balken Netz. Auch das Telefon des Fahrers fand keins.
»Vielleicht können Sie ja zu Fuß gehen«, meinte der Mann, wobei ihm sein verschlissener Mundschutz wie schon mehrmals während der Fahrt von der Nase rutschte. Conor war froh, dass seine Mutter wohlbehalten in ihrer Wohnung in Yonkers steckte, wo noch fast jeder in der Öffentlichkeit eine Maske trug.
Die Landkarte auf seinem Handy lud nicht, er wusste daher nicht, wo genau auf diesem drei Kilometer langen Zipfel, der an der Südküste von Massachusetts ins Meer ragte, Johns Haus war. Er musste einen vollgestopften Rucksack, einen Rollkoffer mit einem wackligen Rädchen, seine Tennistasche mit den drei Schlägern sowie, am unhandlichsten, seine zehn Kilo schwere Tischbesaitungsmaschine in einer weiteren Tasche transportieren. Auf jedem Abschnitt seiner Reise, den er an jenem Vormittag zu Fuß hatte bewältigen müssen – von der Wohnung seiner Mutter zu ihrem Mitsubishi, vom Auto zum Metro-North-Zug, aus dem Grand Central zum Taxi zur Port Authority, dort weiter zum Bus nach Providence, Rhode Island, dann vom dortigen Busbahnhof zu seinem Taxi –, musste er mühsam wie eine Raupe dahinkriechen.
Doch entweder ging er nun zu Fuß los, oder er musste bei laufender Uhr darauf warten, dass ein anderer Wagen das Tor öffnete. Conor bezahlte, holte seine Taschen aus dem Kofferraum und gelangte durch eine Tür für Fußgänger. Ein an einen Baum genageltes Holzschild grüßte ihn kursiv:
Privatgelände
Betreten Verboten
Vereinigung Cutters Neck
Die schmale, gewundene Cutters Neck Road, die die Halbinsel in zwei Hälften teilte, war bis auf Vogelgezwitscher und das metallische Schrillen der Insekten still. Das Geißblatt an der Straße dämpfte die scharfe Meeresluft. Zu seiner Linken dümpelte ein Segelboot in der ruhigen Bucht. Auch auf der anderen Seite des stilettartigen Neck war der Atlantik zu sehen.
Conor hatte Luftaufnahmen auf den Seiten von Immobilienmaklern gesehen, aber auf die weitgehend unberührte Schönheit, durch die er jetzt lief, hatten sie ihn nicht ganz vorbereitet. Und hier sollte er nun einen ganzen Sommer verbringen – er konnte es kaum fassen. Er machte ein Foto vom Meer, um es seiner Mutter zu schicken, sobald er wieder ein Netz hatte.
Er passierte die erste Zufahrt, einen Kiesbogen, der zu einem Haus mit Bullaugen führte, dessen schiefergraue Schindeln an manchen Stellen wie überreife Bananen gefleckt waren. Auf der Veranda verkündete beruhigend ein Schild BLACK LIVES MATTER; er hatte keine Ahnung, was er in einer geschlossenen Wohnanlage im stockkonservativen Neuengland in politischer Hinsicht zu erwarten hatte.
Die nächsten Häuser waren im selben Baustil gehalten, aber nicht weiter ausgeschmückt bis auf eine riesige amerikanische Fahne, die auf einer Veranda im Wind flatterte.
Conor stellte die Besaitungsmaschine ab und rieb sich den schmerzenden Arm. Er bereute es, sie mitgeschleppt zu haben, gut möglich, dass er während des Sommers gar keine Verwendung dafür haben würde. Ein Sportgeschäft in der Stadt besaitete noch Schläger, doch es ging ihm gegen den Strich, für etwas zu bezahlen, was er auch selbst machen konnte.
Das erste Anzeichen menschlichen Lebens in dieser Idylle kam von einem Golfwagen, der, von einem kleinen blonden Mädchen gelenkt, vorbeisauste; neben ihr saßen zwei jüngere und noch flachsblondere Kinder. Conor lächelte und winkte ihnen gutnachbarlich zu, doch das Trio starrte ihn nur mit ausdruckslosen Gesichtern an wie Kinderdarsteller in einem Horrorfilm.
Endlich erreichte er den Briefkasten vor Johns Haus, dessen Nummer er sich zum Glück gemerkt hatte. Auf halber Strecke der Rasenzufahrt, die durch eine Baumgruppe führte, zweigte ein kurzer, gerader Weg in ein Wäldchen ab. Dort stand, in eine kleine Lichtung geduckt und in Sichtweite von Johns Haus, eine kompakte Hütte, Conors kostenlose Bleibe bis zum Labor Day.
Vielmehr nicht kostenlos, sondern als Gegenleistung für Tennisstunden. Glücklos bei der Jobsuche, war er in Panik wegen des Darlehens über 144000 Dollar für sein Jurastudium, das er zurückzahlen musste, sobald die Regierung den Pandemie-bedingten Aufschub aufhob. Also hatte Conor im Mai den Upper-East-Side-Tennisclub kontaktiert, wo er während des Studiums Sommerjobs gehabt hatte. Wegen des Lockdowns hatte der Club schließen müssen, doch sein ehemaliger Chef hatte ihm ein Angebot weitergeleitet, das gerade hereingekommen war: Gegen Tennisunterricht an sechs Tagen die Woche wollte ein Mitglied jemanden über den Sommer in seinem Gästehaus am Meer wohnen lassen. Der Lehrer konnte noch etwas hinzu verdienen, indem er auch anderen Bewohnern Stunden gab.
Und nun war er da. Die Tür war angelehnt; als er nach den Schlüsseln gefragt hatte, hatte John ihm gesagt, auf dem Neck schließe niemand ab, was den gebürtigen New Yorker irritierte, war er doch ein abendliches Ritual mit Riegeln und Ketten gewohnt. Die kleine Hütte enthielt ein Einzelbett, einen Schreibtisch und eine Kochnische, dazu gab es ein kleines Duschbad. John hatte Kühlschrank und Schränke aufgefüllt und auch noch ein Fahrrad mit Korb und Helm für die zwanzigminütige Fahrt zum Markt im Dorf bereitgestellt.
Kaum Überflüssiges, aber auch kaum Ablenkungen: das ideale Hauptquartier, um sich zwischen dem Tennisunterricht acht Stunden täglich auf die Zulassung zum Anwalt vorzubereiten.
Conors Handy bekam nun ein Netz, wenn auch weiterhin nur mit einem Balken, und die sieben Jahre alte Batterie war fast leer. Er schickte seiner Mutter das Meeresfoto und John eine SMS, dass er angekommen war.
Wenige Minuten später klopfte es an der Tür. Als er aufmachte, stand ein schlanker Mann Mitte sechzig ein Dutzend Schritte von ihm entfernt. Er trug ein dunkles Jackett, Krawatte und dazu lachsfarbene Shorts und Slipper ohne Socken.
»Willkommen auf Cutters«, sagte John.
»Freut mich sehr, Mr. Price.« Obwohl sie einen Sicherheitsabstand wahrten, fischte Conor seinen Mundschutz aus der Tasche und setzte sie als Zeichen des Respekts auf.
»John, bitte. Und im Freien brauchen wir die Maske nicht.«
»Na klar«, sagte Conor. »Meine Mutter hat Diabetes, deshalb trage ich überall eine.«
Sein Blick senkte sich wieder auf Johns Unterkörper. Er hatte noch nie einen Mann in rosa Shorts gesehen.
John bemerkte es offensichtlich. »Ich war den ganzen Vormittag auf Zoom, Besprechungen, daher der Bermuda-Geschäfts-Look. Wahrscheinlich ist die Pandemie der neue Casual Friday.«
»Ich war den ganzen Tag im Bus von der Port Authority. Daher …« Conor deutete auf seinen zerknitterten Aufzug.
»Der Bahnhof in Providence ist auch nicht viel besser«, sagte John glucksend. »Jemand von hier hat mal seinen Wagen dort geparkt, am helllichten Tag – eine Viertelstunde später war er geklaut. Hatte ich Ihnen nicht Amtrak empfohlen?«
Das hatte er, aber das billigste Bahnticket kostete hundertneunzehn Dollar, der Bus dagegen vierunddreißig.
»Ich bin schon immer gern Bus gefahren«, sagte Conor.
John zählte die Eigenheiten der Hütte auf und meinte, am Morgen werde er ihm dann den Tennisplatz zeigen.
»Oh«, sagte er, nachdem er zwei Schritte gegangen war. »Heute Abend gibt’s auf dem Neck eine Party. Im Freien natürlich. Betrachten Sie sich bitte bei allen gesellschaftlichen Anlässen hier als mein Gast.«
»Vielen Dank«, sagte Conor. »Ich bin ziemlich kaputt, ich bleibe wohl erst mal hier.«
»Sicher? Ich weiß ja, mit einem Haufen steifer Wasps herumzustehen ist nicht gerade der aufregendste Abend, aber Sie könnten weitere Kunden kennenlernen. Vorausgesetzt, es stört Sie nicht, das Geschäftliche mit dem Privaten zu vermischen.«
Conor hatte neben Johns Stunden mit denen er ja die Miete zahlte, bislang nur drei weitere vereinbart. Selbst wenn aus allen etwas Wöchentliches wurde, müsste er in diesem Sommer noch viel mehr verdienen.
»Solange die Wasps nicht stechen«, sagte er.
Nach einigen quälenden Sekunden, in denen Conor Angst hatte, er habe ihn mit seinem schlechten Scherz gekränkt, lächelte John.
»Falls ja, dann spüren wir das selber gar nicht«, sagte er. »Gottes starres Volk.«
John hatte ihm gesagt, hinter der Hütte gebe es auch eine Außendusche, und die...