Wagner | Die Deutschen und der Gehorsam | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 236 Seiten

Wagner Die Deutschen und der Gehorsam

Von der Aufklärung bis zur Gegenwart
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-593-45821-2
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Von der Aufklärung bis zur Gegenwart

E-Book, Deutsch, 236 Seiten

ISBN: 978-3-593-45821-2
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Galten die Deutschen bis zur frühen Neuzeit noch als freiheitsliebend und schwer zu unterwerfen, verkehrte sich dieses Stereotyp seit dem späten 18. Jahrhundert zunehmend ins Gegenteil. Doch so oft die deutsche Identität seitdem auch mit dem Wert oder Unwert des Gehorsams verknüpft wurde, so hat man bislang nie eingehend untersucht, was Gehorsam in Deutschland in verschiedenen Epochen im Detail bedeutete und wie sich Rechtfertigung und Kritik dieses Werts verschoben. Wurde Gehorsam mit der Autorität der Befehlenden gerechtfertigt oder mit der Rationalität des Befehls? Mit der heroischen Leistung der Gehorchenden oder schlicht pragmatisch damit, dass ein gewisses Maß an Gehorsam für das Funktionieren gesellschaftlicher Prozesse notwendig ist? Was veränderte sich zudem im Diskurs über Gehorsam, je nachdem ob man von Gehorsam gegenüber personaler Macht oder legalen Strukturen spricht? Und in welchem Maße kann Gehorsam als das Produkt einer freien Entscheidung gelten? Martin Wagner verfolgt die Wandlungen des Gehorsamsbegriffs von der Aufklärung bis zu den Protesten der »Querdenker:innen« in der jüngsten Vergangenheit und schafft damit die Grundlage für eine historisch informierte Debatte über ein Reizwort der deutschen Geschichte.

Martin Wagner ist Professor of German an der University of Calgary (Kanada).
Wagner Die Deutschen und der Gehorsam jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1.Das Ende des Gehorsams oder die Erfindung des Gehorsams? Von der Aufklärung bis zu den Befreiungskriegen (1750–1815)


Die vorliegende Geschichte nimmt ihren Ausgang in einer Epoche, in der es mit dem Gehorsam in einem gewissen Sinne bereits zu Ende ging – oder sogar schon zu Ende gegangen war. Nicht ganz zu Unrecht erweckt der Begriff des Gehorsams Bilder des Mönchstums und der Vasallen im Mittelalter sowie von absolutistischen Herrschern und ihren Untertanen in der Frühen Neuzeit. Tatsächlich sprießte noch im 16. und 17. Jahrhundert eine Literatur, die den Gehorsam der Heiligen Familie (von Maria, Josef und Jesus) als Ideale menschlicher Lebensführung anpries.79 Für diese älteren Epochen ist der Gehorsam Gegenstand einiger angeregter Forschung gewesen. Mit der Aufklärung aber wendete sich das Paradigma, und die Werte individueller Freiheit und Selbstbestimmung wurden – wie gebrochen auch immer – zu den neuen Richtwerten des Nachdenkens über den Einzelnen und die Gesellschaft.

Natürlich lebte die Tugend des (teilweise sogar als blind oder unbedingt konzipierten) Gehorsams noch hie und da bis tief ins 18. Jahrhundert hinein fort. Das gilt für die diese Epoche prägenden moralischen Wochenschriften, die ihre eigene Existenz mitunter explizit über ihr Potenzial, bei den Untertanen Gehorsam zu generieren, rechtfertigten.80 Das gilt allemal fürs (preußische) Militär, worauf im Laufe des Kapitels noch näher eingegangen wird. Aber das gilt auch für den religiösen Diskurs, der eine wesentliche Stütze des Gehorsams überhaupt darstellte. Zedlers (1731–1752) leitet noch allen Gehorsam vom Gehorsam gegenüber Gott ab. Der Gehorsam gegenüber weltlichen Autoritäten ist nur ein Derivat des Gottesgehorsams:

»Weil nun aber denen Absichten Gottes zuwieder, uns selbst zu regieren, als sind wir solchen Gehorsam denen schuldig, so an Gottes Stadt da sind, als Obrigkeiten, Eltern, Vorgesetzten, Herrn und Frauen.«81

Damit bleibt Zedlers Enzyklopädie in gewissem Maße den biblischen Vorgaben aus dem Brief des Paulus an die Römer treu. Dort findet sich im 13. Kapitel die berühmte Rechtfertigung weltlicher Macht als gewollt von Gott:

»Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, ist sie von Gott angeordnet. Darum: Wer sich der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt Gottes Anordnung; die ihr aber widerstreben, werden ihr Urteil empfangen. Denn die Gewalt haben, muss man nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes, dann wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut.«82

Freilich zeigt ein genauerer Blick durchaus auch Unterschiede zwischen Zedler und Paulus. Denn wenn der Gehorsam im Zedler auch an Gottes Autorität gebunden ist, so wird als zusätzliches motivierendes Element die Vernünftigkeit von Gottes Vorgaben eingeführt. Wir folgen Gott, »weil eben in der Beobachtung derer Gesetze unser Wohl besteht« und unsere Unterwerfung unter Gott resultiert aus unserer »vernünftige[n] Bereitwilligkeit«.83 Damit ist der Zedler fast schon näher an Hegels vernünftigem Gesetzesgehorsam als an Paulus traditionellem Gottesgehorsam.

Ein strikteres und noch traditionelleres Lob des Gehorsams wurde im 18. Jahrhundert im Katholizismus kultiviert. Wenn die Assoziation der Katholiken mit (blindem) Gehorsam auch vor allem eine strategische Außenzuschreibung durch die Protestanten darstellte, die damit die Überlegenheit der eigenen Konfession hervorhoben,84 finden sich zumindest vereinzelt Stimmen im katholischen Lager, die den hohen Wert des Gehorsams – selbst des blinden Gehorsams – nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber der geistlichen Obrigkeit ausdrücklich bejahten.

Ein einschlägiges Beispiel des katholischen Bekenntnisses zum unbedingten Gehorsam im Zeitalter der Aufklärung bietet die Predigt »Von dem Klostergehorsame« des beliebten französischen Jesuiten Louis Bourdaloue (1632–1704), die, mit einiger Verzögerung, 1767 auch in deutscher Übersetzung in Prag erschien.85 In dieser speziell an Nonnen adressierten Predigt preist Bourdaloue den Gehorsam noch vor der Armut und Keuschheit als »vollkommenste« Tugend im Ordensleben.86

Verlangt wird von den Ordensschwestern, was Bourdaloue (nach Bernard von Clairvaux) als Gehorsam des Tuns, Gehorsam des Willens und Gehorsam des Urteils kategorisiert. Die Nonne muss also nicht nur tun, was ihr befohlen wird, sondern sie muss es auch wollen und es als richtig anerkennen. Bordaloue betont gleichzeitig, dass der Gehorsam der Nonnen ein blinder Gehorsam zu sein habe – ja, dass der Ordensgehorsam gerade erst in seiner Blindheit seinen besonderen Wert erlange:

»Der wahre Gehorsam ist wirklich ein blinder Gehorsam; er ist übrigens bei seiner Blindheit weit erleuchteter, weit richtiger, und weit sicherer, als alle Weisheit des menschlichen Verstandes, so scharfsichtig er auch immer seyn mag, oder sich zu seyn einbildet. Ich wiederhole es nochmals, und sage: Ja, dieser Gehorsams ist blind. Er ist blind wie der Gehorsam Abrahams […].«87

Eine Nonne, so Bordaloue, solle niemals bei ihrem Ordensvorsteher um die Rechtfertigung eines Befehls bitten (bei »gewissen Gelegenheiten« jedoch dürfe das Ordensmitglied »auf eine demühtige, einfältige und gelehrige Weise« seine Gedanken über einen Befehl präsentieren).88

Auch wenn Bordaloue dabei anführt, dass Gott die Menschen in höherer Stellung mit besonderer Weisheit segne, behauptet er interessanterweise nicht, dass die Ordensoberen immer recht hätten. Aber das Verhalten der gehorsamen Nonne bleibe immer ein Rechtes und Kluges (auch wenn der Befehl unrecht ist), da sie, im Gegensatz zu dem irrenden Ordensoberen, qua ihres Gehorsams Gottes Wort folge.89 Zudem wisse man ja eigentlich nie so recht, ob der Befehl vielleicht nicht doch berechtigt sei und man nur nicht alle Informationen habe (die die Oberin vielleicht geheim halten müsse).

Die Predigt Bordaloues erinnert uns daran, dass es im 18. Jahrhundert kein eindeutiges Abrücken von der Kategorie selbst des unbedingten Gehorsams gab. Doch wichtiger für die Einschränkung der These einer Verabschiedung des Gehorsams im Zeitalter der Aufklärung als einzelne Gegenbeispiele bei konservativen (katholischen) Autoren ist ein anderer Aspekt. Anders betrachtet nämlich beginnt die Geschichte des Gehorsams – verstanden als eine Geschichte kontroverser Debatten über diesen Wert oder Unwert – gerade erst in dem Moment, wo der Gehorsam als dominantes Paradigma gebrochen wird und (nur) als reaktionärer Stein des Anstoßes oder als Korrektiv zum neuen Paradigma der Autonomie sein hartnäckiges Nachleben führt. In diesem spezifischen Sinne ließe sich auch davon sprechen, dass die Aufklärung nicht (nur) die Autonomie, sondern vor allem (auch) den Gehorsam erfunden habe.

In diesem Kapitel wird die Erfindung des Gehorsams aus dem neuen Geist der Autonomie in einem breiten Panorama zeitgenössischer Diskurse nachgezeichnet. Ausgangspunkt ist die philosophische »Erfindung der Autonomie« bei Immanuel Kant. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden die Debatten der Aufklärungsphilosophie eingebettet in ein breiteres Diskursfeld. Vor allem drei thematische Blöcke geraten dabei ins Blickfeld: (1) die Ambivalenz eines an rationale Gesetze gebundenen Gehorsams in der politischen Theoriebildung; (2) eine Inkorporation der Idee individueller Freiheit in das Konzept des militärischen Gehorsams; und (3) die Umdeutung des Gehorsams als Treue in den literarischen Sklavenstücken der Epoche. In allen drei Debatten ist dabei zu beobachten, wie sich die Idee des Gehorsams in dessen Kritik neu einschreibt.

Erfindung der Autonomie?


Die simple Erzählung vom Ende des Gehorsams im Zeitalter der Aufklärung ist nicht einfach als historiographisches Ammenmärchen aus alten Zeiten zu verabschieden. Noch 1998 hat der bedeutende amerikanische Ideenhistoriker J. B. Schneewind in seinem 600 Seiten starken Band



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.