E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Streisand Hufeland, Ecke Bötzow
19002. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2169-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-2169-1
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lea Streisand, geboren 1979 in Berlin, studierte Neuere deutsche Literatur und Skandinavistik. Sie schreibt Kolumnen für die taz und hat eine wöchentliche Hörkolumne auf Radio Eins. Ihre Romane erscheinen bei Ullstein, zuletzt Hätt' ich ein Kind (2022). Im Wintersemester 2022/23 übernimmt Streisand die Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller an der Universität Paderborn, eine der traditionsreichsten Poetikdozenturen Deutschlands. Die Autorin lebt in ihrer Heimatstadt Berlin.
Autoren/Hrsg.
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Annabel
Meine Banknachbarin in der Schule hieß Annabel. Sie war ein winzig kleines Ma¨dchen, du¨nn wie ein Blatt Papier mit dicken, langen schwarzen Haaren, die ihr bis zur Hu¨fte reichten.
Sie trug eine Latzhose mit Flicken an den Knien. Ein breiter Cordrand unten verlängerte die zu kurz gewordenen Hosenbeine. Die Hose war aus dem Westen, das sah ich auf den ersten Blick. Annabel wohnte ebenfalls in der Hufelandstraße, Hausnummer 6, fast Ecke Greifswalder, im Hochparterre, genau gegenu¨ber der Zoohandlung, dem scho¨nsten Gescha¨ft der Straße, in dessen Schaufenster Hamster, Meerschweinchen und Kaninchen durch Sa¨gespa¨ne wuselten.
Annabel besaß zwei Wellensittiche namens Rosa und Karl, die waren zahm und legten manchmal Eier. Wenn einer der beiden Schnupfen hatte, stellte Annabel eine Rotlichtlampe vor den Ka¨fig und gab ihnen Kamillentee zu trinken.
Ich hatte nicht einmal geahnt, dass Vo¨gel u¨berhaupt Schnupfen haben konnten. »Ich dachte, dazu braucht man Nasen«, sagte ich.
»Wellensittiche haben Nasen!«, erwiderte Annabel streng. Woraufhin ich bescha¨mt nickte und die Ha¨nde hinterm Ru¨cken verschra¨nkte.
Wenn ich nach der Schule mit zu Annabel ging, wechselten wir vor ihrer Haustür oft noch einmal die Straßenseite, um der Zoohandlung einen Besuch abzustatten. Normalerweise konnten wir Kinder das Schaufenster nur von außen bewundern. Wir hinterließen Fettflecken auf der Fensterscheibe, bis der Zooha¨ndler uns fortjagte – in den Laden hinein durfte nämlich nur, wer etwas kaufte. Weshalb Annabel doppelt gesegnet war: Sie nannte nicht nur Wellensittiche ihr Eigen, die gefüttert und mit Vogelsand versorgt werden mussten, ihre Mutter hatte außerdem ein Aquarium. Und um Aquarienbesitzer scharten sich alle, weil die fast täglich eine Tüte frische Wasserflo¨he für ihre Fische brauchten. Lebendfutter. Der dicke Zooha¨ndler krempelte dafu¨r den rechten A¨rmel seines blauen Arbeitskittels hoch und tauchte seinen haarigen Unterarm todesmutig in einen Eimer mit lebenden Flo¨hen!
Annabel liebte das Bötzow-Viertel. Sie war hier geboren worden und aufgewachsen. Sie kannte nichts anderes. Sie zeigte Rico und mir, wie man den bröckelnden Putz im Hof aus der Wand brach und als Kreide benutzen konnte, um Hopse zu spielen. Sie trug einen gebogenen Draht in der Tasche, den sie Dietrich nannte und mit dem sie jede Tür öffnen konnte. Und sie konnte klettern wie ein Eichhörnchen. Annabel hatte zwei große Brüder, sie waren schon zwölf und vierzehn. Meistens ignorierten sie uns. Einmal klingelte ich bei Annabel, und ihr großer Bruder öffnete mir die Tür. Er war blond und muskulös, die nassen Haare hingen ihm ins Gesicht, bekleidet war er nur mit einem Handtuch. Ich konnte gar nicht hinsehen. Er musterte mich kurz, machte auf dem Hacken kehrt und rief in den finsteren Flur: »Annabel! Deine kleine hässliche Freundin Franzi ist da!« Ich wollte schier im Boden versinken.
Mit Annabel wurde meine Welt größer und bunter. Sie erklärte mir, warum der Eingang von Hausnummer 4 so schön war: Die Greifswalder war Protokollstrecke, zwei Mal am Tag segelten die Limousinen des ZK auf der grünen Welle aus Wandlitz zur Arbeit nach Mitte und wieder zurück. Deswegen waren die Eingänge der Hausnummern 2 und 4 stets mit frischer Farbe gestrichen und die Bordsteine sauber, damit die Herren aus den Autos einen schönen Ausblick hatten. Für Nummer 6 hatte es nicht mehr gereicht.
Durch Annabel lernte ich den Marionettenbauer kennen, der den ganzen Tag mit grimmigem Gesicht vor seinem Laden saß und an seinen Puppen schnitzte. Man durfte ihn nicht fragen, was er schnitzte, sonst wurde er böse und fing an zu schimpfen, er sei kein Auskunftsbüro, wir sollten uns wegscheren und jemand anderem auf die Nerven gehen.
»Geht mir aus der Sonne!«, motzte er, was merkwürdig war, denn sein Geschäft befand sich ebenso auf der Nordseite der Hufelandstraße wie unser Hauseingang, die und Mamas Balkon, wo einzig Efeu und fette Henne gediehen. »Ich wollte immer einen Balkon mit Blümchen«, klagte meine Mutter, »nun hab ich einen Friedhof vorm Fenster.«
Annabel kannte auch ganz neue Spiele. So legten wir, zum Beispiel, Pfennige auf die Straßenbahnschienen in der Greifswalder, damit die Straßenbahnen sie zu platten Medaillen walzten. Oder wir spielten Damenhacken sammeln. Dazu setzte man sich in eine gepflasterte Hofeinfahrt und wartete, bis eine Dame vorbeikam. Damen waren Frauen mit Hackenschuhen, deren spitze Absätze regelmäßig in den Ritzen im Kopfsteinpflaster stecken blieben – zwischen den »Katzenköppen«, wie Annabel sie nannte. Manche Frauen brachen sich dabei die Absätze ab, doch darum ging es gar nicht. Unter jedem Hacken war ein kleines Metallplättchen angebracht. Sozusagen der Pfennig unter dem Pfennigabsatz, und diese Pfennige waren dem Berliner Pflaster einfach nicht gewachsen. Die Plättchen hatten kleine Löcher in der Mitte, durch die wir sie problemlos auf Zwirn fädeln und uns klimpernde Halsketten daraus basteln konnten.
»Je höher der Absatz, desto besser«, erklärte Annabel. »Dann sind die Plättchen kleiner.«
Annabel wurde schnell meine beste Freundin. Ich vergötterte sie. Annabel und ihre Brüder schliefen in Hochbetten, die ihr Vater eigenhändig für sie gebaut hatte. Behauptete sie zumindest. Die langen Paneele für die Seiten waren Sargbretter, die Sprossen der Leiter, die hoch zum Bett führten, gekürzte Besenstiele.
Bei Annabel zu Hause durfte man an die Wände malen, und überall lagen Instrumente und Bücher herum. Ein Schlitten stand im Küchenregal. Mitten im Sommer. Und wenn man hinten aus dem Badezimmer über den Hof guckte, konnte man die Damen aus der Strickmodenfabrik bei ihrer Arbeit beobachten, die hauptsächlich darin bestand, dass sie in Omakitteln am Fenster standen und Glitzerpullover mit Sprühflaschen besprühten. Pfft, pfft.
Wenn der Regen in den Hinterhöfen auf die Mülltonnen trommelte und rostrote Rinnsale in die Kohlenasche zeichnete, saßen Annabel und ich oft in ihrem Zimmer auf dem Teppich, malten Malbücher aus und hörten Märchenplatten. Mit Vorliebe . Oder . Rico leistete uns nur selten Gesellschaft, er fand Märchenschallplatten langweilig, »Mädchenkram«.
Einmal kam Annabels Mutter unangekündigt ins Zimmer. Wir hörten gerade , eins meiner Lieblingshörspiele. Der Märchenwolf hat keine Lust mehr auf seinen Job und ist aus dem Märchenwald in die Stadt geflohen. Er will keine Großmütter mehr fressen müssen und mit Steinen im Bauch in den Brunnen geworfen werden. Er möchte Kinder zum Lachen bringen, nicht das Fürchten lehren. Deshalb hat er Rotkäppchens Kappe geklaut und will beim Zirkus als Clown anheuern.
Annabels Mutter war eine traurige kleine Person mit ernstem Gesicht, die immer rauchte und nie zuhörte. Oft saß sie zusammengekauert an einem Nähmaschinentischchen und nähte, während in der Ecke des Zimmers ein Fernseher lief, den niemand beachtete.
»Du bist so eine Schlampe!«, schimpfte sie nun unvermittelt. »Eine richtige Schlampe! Dass du dich nicht schämst, in einem so unordentlichen Zimmer Besuch zu empfangen! Franzi ist bestimmt nicht so unordentlich!«
Ich sah erstaunt auf. Warum sollte jemand für mich sein Zimmer aufräumen? Ich war doch keine Erwachsene. Andererseits erfüllte mich der Gedanke mit Stolz, ich könnte wichtig genug sein, damit Annabel für mich … Ich blickte zu Annabel hinüber, sie blickte zu Boden. Mein Stolz war wie weggeblasen. Meine Freundin mit der Latzhose starrte den beigefarbenen Teppichboden an, vielleicht in der Hoffnung, er möge sich öffnen und sie unter sich begraben, zudecken, die Geräusche der Mutter dämpfen, sie beschützen, wärmen und schlafen lassen. Unterdessen schimpfte die Mutter weiter. Annabel sank immer mehr in sich zusammen. Ganz dicht über dem Boden kauerte sie, wie das Häschen in der Grube, und wartete, dass der Sturm vorüberzog. Meine Kehle knotete sich zusammen vor Mitleid. Ich musste etwas tun. Etwas sagen. »Reden hilft«, behauptete meine Mutter immer. Ich holte tief Luft.
»Ähm naja aber ach so«, sagte ich, ganz schnell hintereinander.
Annabels Mutter hielt überrascht inne, ihre Unterlippe zitterte. Für einen kurzen Moment dachte ich, sie wäre den Tränen nahe. Aber das konnte nicht sein. Erwachsene weinten doch nicht. Ich nahm allen Mut zusammen und setzte nach: »Zirka.«
Woraufhin Annabels Mutter kurz schnaubte, sich auf dem Absatz umdrehte und die Tür hinter sich zuknallte. Wir lauschten dem leiser werdenden Stampfen auf dem langen Korridor.
Annabel atmete flach. Sie wagte nicht, mich anzusehen. Ich lauschte sehr konzentriert dem Fortgang des Märchens. Knarzend und knackend tönte die tiefe Stimme des Wolfs aus dem Lautsprecher, sie sang: