Simenon | Die Phantome des Hutmachers | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 66, 288 Seiten

Reihe: Georges Simenon

Simenon Die Phantome des Hutmachers

E-Book, Deutsch, Band 66, 288 Seiten

Reihe: Georges Simenon

ISBN: 978-3-311-70092-0
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der angesehene Hutmacher Léon Labbé und der kleine Schneider Kachoudas. Viel haben die beiden nicht gemein, auch wenn sie in der Rue du Minage, einer Geschäftsstraße in der Hafenstadt La Rochelle, dicht beieinander leben und arbeiten. Nur durch einen Zufall findet der Schneider heraus, dass es der Hutmacher ist, der seit Wochen die Stadt in Angst und Schrecken versetzt: In fünf verregneten Nächten hat er, scheinbar wahllos, fünf Frauen ermordet. Die ausgesetzte Belohnung würde dem Schneider einige Sorgen nehmen, aber er weiß, dass man ihm, dem Einwanderer, nicht glauben wird. Und während sein Schweigen ihn zum Komplizen macht, schlägt der Mörder erneut zu.Der Stoff um die komplizierte Beziehung zwischen einem Mörder und seinem Nachbarn ließ Simenon nicht los, er behandelte ihn zunächst in zwei Erzählungen und erst dann in Romanform. Die Erzählung »Der kleine Schneider und der Hutmacher«, die Simenon 1947, ein Jahr vor dem Roman, geschrieben hat, findet sich im Anhang dieser Ausgabe.
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2
Als er ankam vor seinen Fensterläden, die Valentin zugemacht hatte, blieb er stehen und knöpfte sich den Mantel auf, um den Schlüsselbund aus der Hosentasche zu holen. Er machte stets die gleichen Bewegungen, wenn er abends nach Haus kam. Jemand war an der Ecke zur Rue du Minage stehen geblieben. Es war Kachoudas, der darauf wartete, dass die Tür des Hutmachers sich wieder schloss, ehe er seinerseits nach Haus ging. Monsieur Labbé hob den Blick und bemerkte in der Werkstatt im ersten Stock die Frau des Schneiders. Ein wenig beunruhigt, hatte sie soeben einen Blick aus dem Fenster geworfen. Er drehte den Schlüssel im Schloss, trat in die warme Dunkelheit, schloss die Tür wieder, ehe er den Lichtschalter drehte und die Querstange vorlegte; dann blieb er stehen, das Gesicht gegen einen Spalt im Fensterladen gepresst. Endlich kam der kleine Schneider, vorsichtshalber immer noch in der Straßenmitte, auf Höhe seines Hauses an. Er ging komisch, irgendwie ruckartig … Zum ersten Mal fiel Monsieur Labbé auf, dass er ein Bein nach außen hin nachzog. Auch Kachoudas blickte nach oben, doch war seine Frau gerade zurück in die Küche gegangen. Er platzte in sein Geschäft, aus dem er aber noch mal zurück auf die Straße musste, um die Läden vorzulegen, denn er hatte keinen Gehilfen, der das an seiner Stelle machte. Alle seine Bewegungen waren nervös, abgehackt. Zur Treppe gewandt – der gleichen Wendeltreppe wie in der Hutmacherei –, hatte er wohl gerufen: »Ich bin’s!« Er beeilte sich, verriegelte die Tür. Das Licht im Erdgeschoss ging aus und kurz darauf in der Werkstatt an, wo der kleine Schneider gar nicht schnell genug aus dem Fenster sehen konnte. Monsieur Labbé zog sich zurück von seinem Beobachtungsposten, legte den Rest von dem Geld, das er mitgenommen hatte, zurück in die Kassenschublade, ging in das Hinterzimmer und fingerte dort einen Moment lang an einem Gegenstand herum, den er aus der Tasche gezogen hatte und der einem Spielzeug ähnelte, zusammengebastelt von irgendeinem Straßenjungen: zwei durch eine Art Schnur miteinander verbundene Holzstücke. Noch immer hatte er seinen durchnässten Mantel an, und als er sich vorbeugte, tropfte es von seinem Hut. Er nahm ihn erst ab am Fuß der Treppe, wo ein Kleiderständer war und wo er unter der Küchentür einen Lichtstreifen sah. Der Tisch war gedeckt, mit einem einzelnen Teller und Besteck, einer weißen Decke, einer Flasche Wein, in der ein Korken mit silberner Kappe steckte. »Guten Abend, Louise. Madame hat nicht gerufen?« »Nein, Monsieur.« Das Hausmädchen blickte auf seine Füße, während er sich vor den Ofen setzte, kam mit Pantoffeln in der Hand und kniete sich hin. Nie hatte er sie dazu aufgefordert. Bestimmt war sie auf dem Bauernhof dazu abgerichtet worden, den Männern die Schuhe auszuziehen, ihrem Vater und ihren Brüdern, sobald die vom Feld zurückkamen. Es war genauso warm wie im Laden, die Luft stand, war ebenso drückend, fasste die Gegenstände ein und verlieh ihnen ein starres, unabänderliches Aussehen. Hinter dem Fenster, das auf den Hof ging, war immer noch der Regen zu hören, und hier war es eine alte Uhr in ihrem Kasten aus Nussbaum, die eine kupferne Scheibe hin und zurück bewegte, langsamer, hätte man schwören können, als überall sonst. Die angezeigte Zeit war nicht dieselbe wie in der Hutmacherei, weder auf Monsieur Labbés Uhr noch auf dem Wecker im ersten Stock. »Ist niemand vorbeigekommen?« »Nein, Monsieur.« Sie zog ihm seine Pantoffeln aus feinem Ziegenlackleder an. Der Raum war eher ein Esszimmer als eine Küche, denn Herd und Spüle waren nebenan, in einer schmalen Abseite. Der Tisch war rund, die lederbezogenen Stühle mit Nägeln beschlagen. Es gab viel Kupfergeschirr und, auf einer Bauernanrichte, alte, in Auktionslokalen erstandene Fayencen. »Ich geh nach oben und sehe nach, ob Madame etwas braucht.« »Kann ich die Suppe servieren?« Er verschwand auf der Wendeltreppe, und sie hörte oben im Ersten die Tür aufgehen, Schritte, ein Murmeln, das Geräusch der Rollen des Sessels, der durchs Zimmer geschoben wurde, so wie jeden Abend. Als er wieder nach unten kam, sagte er, indem er sich an den Tisch setzte: »Sie möchte nur ein bisschen. Was gibt es zu essen?« Er hatte sein Buch vor sich hingelegt, seine Hornbrille aus ihrem Etui genommen. Der Ofen wärmte ihm den Rücken. Er ließ sich Zeit beim Essen. Louise trug ihm auf, und zwischen den Gängen wartete sie, den Blick leer, reglos in ihrer schmalen Abseite. Sie war noch keine zwanzig. Ziemlich dick und sehr dumm war sie, ausdruckslos glotzten ihre Froschaugen vor sich hin. Das Kabuff, das als Küche diente, war nicht breit genug, um einen Tisch hineinzustellen. Manchmal aß sie dort im Stehen, manchmal wartete sie, bis der Hutmacher fertig und gegangen war, und setzte sich auf seinen Platz. Er konnte sie nicht ausstehen. Sie einzustellen war ein schlechtes Geschäft für ihn gewesen, aber es war noch genug Zeit, später darüber nachzudenken. Um Viertel vor acht wischte er sich den Mund ab, schob seine zusammengerollte Serviette in den Silberring, steckte den Korken zurück in seine Flasche, von der er bloß ein Glas getrunken hatte, und stand seufzend auf. »Ist fertig«, sagte sie. Daraufhin nahm er das Tablett, auf dem ein weiteres Abendessen angerichtet war, und ging erneut zur Treppe. Wie oft am Tag ging er sie hinauf, diese Treppe? Das Schwierige war, mit der einen Hand das Tablett zu halten, ohne etwas zu verschütten, während die andere den Schlüssel aus der Tasche holte und im Schloss drehte, denn diese Tür war immer verschlossen, selbst wenn er im Haus war. Er drehte den Lichtschalter, sodass von gegenüber Kachoudas das Rollo hell werden sah. Er stellte das Tablett ab, immer an denselben Platz, und schloss hinter sich die Tür wieder ab. Alles das war sehr kompliziert. Es sich einspielen zu lassen hatte Zeit gekostet. Das Kommen und Gehen des Hutmachers folgte einer präzisen Ordnung, die enorme Bedeutung besaß. Zunächst musste gesprochen werden. Er machte sich nicht immer die Mühe, die Wörter deutlich auszusprechen, denn unten kam davon ohnehin nur wirres Gemurmel an. Heute zum Beispiel sagte er immer wieder mit gewisser Befriedigung: »Du würdest einen Fehler begehen, Kachoudas!« Es gab diesen Abend kein besonders gutes Essen, er nahm sich aber trotzdem das zarteste Stück Kalbskotelett. Es gab Tage, da aß er auch das zweite Abendessen ganz auf. Er trat ans Fenster. Er hatte Zeit. Er schob das Rollo etwas beiseite und bemerkte den kleinen Schneider, der mit dem Essen schon fertig war und wieder Platz nahm auf seinem Tisch, während die Mädchen in der Stube auf dem Boden spielten und die Älteste zusammen mit ihrer Mutter bestimmt das Geschirr abwusch. Mit lauter Stimme sagte er, indem er zu dem Tablett zurückging: »Hast du gut gegessen? Bestens.« Und daraufhin leerte er die Teller – bis auf den Kotelettknochen – in die Toilette, wobei er darauf achtete, nicht die Spülung zu betätigen. Zuerst hatte er das noch gemacht, aber das war ein Fehler gewesen. So wie diesen hatte es eine Menge Fehler und Unvorsichtigkeiten gegeben, die er nach und nach korrigiert hatte. Mit den leeren Tellern ging er wieder nach unten, wo Louise auf seinem Platz zu Abend aß. Um nicht so viel Geschirr spülen zu müssen, nutzte sie zum Essen den Teller und zum Trinken das Glas ihrer Herrschaft. Sie las während des Essens, sie genauso, allerdings Groschenheftchen. »Sie gehen nicht raus, Louise?« »Hab keine Lust, mich erwürgen zu lassen.« »Gute Nacht.« »Guten Abend, Monsieur.« Es war fast geschafft. Noch ein paar tagtägliche Verrichtungen waren auszuführen: sich vergewissern gehen, dass die Ladentür gut abgeschlossen war, das Licht ausmachen, noch einmal die Treppe hinaufsteigen, den Schlüssel aus der Tasche holen, aufmachen, zumachen. Nachher würde Louise raufgehen, um sich im Hinterzimmer schlafen zu legen, und er für eine gute Viertelstunde noch ihre schweren Schritte hören, bis der Bettrost kreischte unter ihrem Gewicht. »Ein Kalb ist das!« Er hatte das Recht, die Stimme zu erheben. Von Zeit zu Zeit war das fast eine Notwendigkeit. Er konnte jetzt ebenso die Toilettenspülung ziehen, sich des Kragens, der Krawatte, des Jacketts entledigen, seinen braunen Morgenmantel überziehen. Nur war er ja noch nicht ganz fertig mit allem, denn es blieben drei, vier Scheite im Kamin nachzulegen. Louise war es, die sie morgens nach oben schaffte und stapelte auf dem Treppenabsatz im ersten Stock. Alle Häuser in der Straße hatten das gleiche Alter, sie stammten aus der Zeit Ludwigs XIII. Von außen waren sie mit ihren Arkaden und ihrem steil abfallenden Dach gleich geblieben, im Lauf der Jahrhunderte aber hatte jedes im Inneren diverse Veränderungen erfahren. Über dem Kopf von Monsieur Labbé beispielsweise existierte ein zweites Stockwerk, das man allerdings nur über die Straße erreichte. Neben dem Geschäft war eine Tür zu einem schmalen Gang, der zum Innenhof führte. Und dort fing die Treppe an, die in den zweiten Stock führte, ohne aber mit dem ersten irgendwie in Verbindung zu stehen. Früher, als dort oben noch Mieter wohnten, war das praktisch gewesen. Die Zimmer standen seit Langem jedoch leer, nämlich seit dem ersten Jahr der Erkrankung von Mathilde, die es nicht aushielt, den ganzen Tag lang Schritte über sich zu hören. Einen Prozess hatte man anstrengen müssen, um die Leute aus dem Zweiten loszuwerden. Und...


Aubert, Juliette
Juliette Aubert, geboren 1975 in Brest, lebt als Übersetzerin und Autorin in Hamburg. Sie schreibt Lyrik und Kurzprosa und ist Daniel Kehlmanns französische Stimme. Neben »Die Vermessung der Welt« (Les Arpenteurs du monde, Grand Prix du livre des dirigeants 2007), »Ruhm« (Gloire, Prix Cévennes 2010 für den besten europäischen Roman in französischer Übersetzung) und »Tyll« (2019) übersetzte sie zahlreiche weitere Bücher Kehlmanns ins Französische, außerdem Romane von u.a. Nele Neuhaus, Klaus Modick, Alissa Walser und Benedict Wells (Euregio- Schüler-Literaturpreis 2018 für die französische Übersetzung von »Vom Ende der Einsamkeit«).

Simenon, Georges
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Bonné, Mirko
Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt als freier Schriftsteller und Übersetzer in Hamburg. Sein Œuvre umfasst neben viel beachteten Romanen Gedichtbände, Erzählungen, Aufsätze und Reisejournale sowie Übersetzungen aus dem Englischen und Französischen. Sein Werk wurde unter anderem mit dem Prix Relay (2008), dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis (2010), dem Rainer-Malkowski-Preis (2014) und dem Hamburger Literaturpreis für Übersetzung 2020 ausgezeichnet. 2025 erhielt er von der Hansestadt Hamburg den Hubert-Fichte-Preis für seinen Roman Alle ungezählten Sterne.


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