Seidel | Schon Mensch oder noch nicht? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 438 Seiten

Seidel Schon Mensch oder noch nicht?

Zum ontologischen Status humanbiologischer Keime
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-17-026662-9
Verlag: Kohlhammer
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark

Zum ontologischen Status humanbiologischer Keime

E-Book, Deutsch, 438 Seiten

ISBN: 978-3-17-026662-9
Verlag: Kohlhammer
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark



Wann habe ich zu existieren begonnen? Mit der Geburt? Mit der "Empfängnis"? Oder noch davor? Wenige Fragen berühren unser Selbstverständnis so sehr wie diese. Diesen Fragen wird transdisziplinär theologisch-philosophisch-naturwissenschaftlich nachgegangen. Gezeigt wird, welcher Status dem Vorgeburtlichen in Geschichte und Gegenwart zugeschrieben wurde bzw. wird; Begriffe wie "biologisches Individuum", "Spezies" und "aktive Potenz" werden geklärt; sodann wird diskutiert, welche ontogenetischen Ereignisse als "Beginn" - sei es des Organismus, des Individuums, des Menschen oder der Person - taugen.

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1;Deckblatt;1
2;Titelseite;4
3;Impressum;5
4;Inhalt;6
5;Vorwort ;12
6;1 Einleitung ;16
6.1;1.1 Zur Themenstellung und ihrem systematischen Hintergrund;16
6.2;1.2 Zur formal-inhaltlichen Vorgehensweise ;23
6.3;1.3 Bemerkung zu Literatur und Glossaren;24
7;2 Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese in Geschichte und Gegenwart ;26
7.1;2.1 Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese in der abendländischen Geschichte;26
7.1.1;2.1.0 Vorbemerkungen zum geschichtlichen Überblick ;26
7.1.1.1;2.1.0.1 Zweck und Methode des geschichtlichen Überblicks ;26
7.1.1.2;2.1.0.2 Hinweise zur naturwissenschaftlichen Kompetenz und zur Terminologie ;28
7.1.2;2.1.1 Dem Christentum vorgegebene Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese ;29
7.1.2.1;2.1.1.1 Bestandsaufnahme;29
7.1.2.2;2.1.1.2 Weiterführende Bemerkungen und Präzisierungen;47
7.1.3;2.1.2 Zum ontologischen Status menschlicher Keime in der kirchlich-mittelalterlichen Tradition ;51
7.1.3.1;2.1.2.1 Bestandsaufnahme;51
7.1.3.2;2.1.2.2 Weiterführende Bemerkungen und Präzisierungen ;88
7.1.4;2.1.3 Vorstellungen zur Ontogenese und zum ontologischen Status menschlicher Keime im säkularrechtlichen, medizinischen und wissenschaftlichen Denken der Neuzeit;97
7.1.4.1;2.1.3.1 Bestandsaufnahme ;97
7.1.4.2;2.1.3.2 Weiterführende Überlegungen und Präzisierungen;116
7.2;2.2 Gegenwartspositionen zum ontologischen Status des Un- und Neugeborenen ;122
7.2.1;2.2.1 Gegenwartspositionen zum ontologischen Status des Un- und Neugeborenen – Darstellung ;122
7.2.1.1;2.2.1.1 Die Karyogamie ist der Beginn der Person;123
7.2.1.2;2.2.1.2 Die Person wird durch zukunftsbezogene Wünsche konstituiert ;129
7.2.1.3;2.2.1.3 Das Individuum zählt ab der Reproduktionsreife ;136
7.2.1.4;2.2.1.4 Die Person wird durch den ehelichen Akt ins Dasein gerufen;138
7.2.1.5;2.2.1.5 Der Mensch beginnt mit der Geburt;139
7.2.1.6;2.2.1.6 Die menschliche Person tritt mit Ausschluss der Zwillingsbildung ins Dasein;142
7.2.1.7;2.2.1.7 „Menschliches wird zum Menschen“ mit der Anlage des Großhirns;145
7.2.1.8;2.2.1.8 Personales Leben beginnt mit der Funktionstüchtigkeit des Gehirns;149
7.2.1.9;2.2.1.9 Nur mit Positionsinformation ist die menschliche Wesensform komplett ;152
7.2.1.10;2.2.1.10 Stufenweise werden Information und aktive Potenz zum Menschen generiert ;154
7.2.2;2.2.2 Beobachtungen und Anmerkungen zur naturwissenschaftlichen Kompetenz in Gegenwartsbeiträgen zur Statusfrage des Un- und Neugeborenen ;157
8;3 Begriffe;168
8.1;3.1 Traditionell vorgegebene Begriffe ;168
8.1.1;3.1.1 Gottesbildlichkeit ;169
8.1.1.1;3.1.1.1 Gottesbildlichkeit im Schöpfungshymnus von Gen 1;170
8.1.1.2;3.1.1.2 Spätalttestamentliche und neutestamentliche Akzentuierungen des Bild-Gottes-Begriffs ;174
8.1.1.3;3.1.1.3 Mittelalterliche Rezeption: Umdeutung der funktionalen Gottesbildlichkeit zur ontologischen Gottebenbildlichkeit ;175
8.1.1.4;3.1.1.4 Zur Problematik der mittelalterlichen Umdeutung der Gottesbildlichkeit ;176
8.1.2;3.1.2 Person ;177
8.1.2.1;3.1.2.1 Der Personbegriff in Altertum und Mittelalter ;178
8.1.2.2;3.1.2.2 Der Personbegriff in der Neuzeit ;179
8.1.2.3;3.1.2.3 Der Personbegriff in der gegenwärtigen bioethischen Diskussion ;180
8.1.2.4;3.1.2.4 Personsein und Wissenschaft ;181
8.1.3;3.1.3 Mensch ;182
8.1.4;3.1.4 Seele ;183
8.1.5;3.1.5 Substanz;184
8.1.6;3.1.6 Individuum;185
8.1.7;3.1.7 Identität ;187
8.2;3.2 Kritisch diskutierte Begriffe ;188
8.2.1;3.2.1 Leben;188
8.2.1.1;3.2.1.1 Substantivischer Gebrauch von „Leben“ ;188
8.2.1.2;3.2.1.2 Lebensbegriff und Lebenskriterien ;188
8.2.1.3;3.2.1.3 Zu den Redeweisen vom „Beginn des Lebens“ und von der „Würde menschlichen Lebens“ ;190
8.2.2;3.2.2 Biologisches Individuum ;191
8.2.2.1;3.2.2.0 Methodische Vorbemerkung ;191
8.2.2.2;3.2.2.1 Organismus und Systembegriff ;194
8.2.2.3;3.2.2.2 Biologisches Individuum und Genom ;197
8.2.2.4;3.2.2.3 Kriterien biologischer Individualität ;215
8.2.2.5;3.2.2.4 Zur diachronen Identität des biologischen Individuums;217
8.2.2.6;3.2.2.5 Zur Organisation des vielzelligen Organismus;230
8.2.2.7;3.2.2.6 Doppelbildungsphänomene;242
8.2.3;3.2.3 Spezies;251
8.2.3.1;3.2.3.1 Zur Geschichte der biologischen Systematik und des Speziesbegriffs ;251
8.2.3.2;3.2.3.2 Zum Speziesverständnis der phylogenetischen Systematik;259
8.2.3.3;3.2.3.3 Zwischenergebnis;267
8.2.3.4;3.2.3.4 Weiterführende Überlegungen: Szenarien und Konsequenzen;269
8.2.3.5;3.2.3.5 Beobachtungen zur Rezeption des modernen Speziesverständnisses in der philosophisch-theologischen Literatur ;276
8.2.4;3.2.4 „Aktive Potenz“;281
8.2.4.1;3.2.4.1 Zur aristotelisch-scholastischen Begrifflichkeit des Werdens;282
8.2.4.2;3.2.4.2 Zum Selbstverständnis heutiger Entwicklungsbiologie;287
8.2.4.3;3.2.4.3 Problematisierung der aristotelisch-scholastischen Begrifflichkeit ;290
8.2.4.4;3.2.4.4 Zusammenfassung und Ergebnis ;312
8.2.5;3.2.5 Kontinuität ;316
8.2.6;3.2.6 Zusammenfassung;318
9;4 Ontogenetische Einzelereignisse unter ontologischer Rücksicht;319
9.1;4.0 Vorbemerkungen zur Skalierung und zur Terminologie;319
9.2;4.1 Entwicklung des menschlichen Neurosystems;322
9.2.1;4.1.1 Entwicklung des menschlichen Zentralnervensystems;323
9.2.1.1;4.1.1.1 Neurulation ;323
9.2.1.2;4.1.1.2 Neurogenese ;324
9.2.1.3;4.1.1.3 Migration ;325
9.2.1.4;4.1.1.4 Zelldifferenzierung;325
9.2.1.5;4.1.1.5 Synaptogenese;325
9.2.1.6;4.1.1.6 Selektion;326
9.2.1.7;4.1.1.7 Myelinisierung ;328
9.2.2;4.1.2 Paradigma Tastsinnentwicklung ;329
9.2.2.1;4.1.2.1 Entwicklung des Berührungsempfindens ;330
9.2.2.2;4.1.2.2 Entwicklung des Schmerz- und Temperaturempfindens;331
9.2.3;4.1.3 Paradigma Sehsinnentwicklung ;332
9.2.3.1;4.1.3.1 Entwicklung der Augenspezifität in den Schichten des seitlichen Kniehöckers ;334
9.2.3.2;4.1.3.2 Entwicklung der Augendominanzsäulen im primären visuellen Cortex;335
9.3;4.2 Ontogenetische Phasen und Zäsuren ;337
9.3.1;4.2.0 Wichtige Vorbemerkung zum methodischen Vorgehen;337
9.3.2;4.2.1 Adoleszenz;341
9.3.3;4.2.2 Spracherwerb, indexikalische Begriffe und Spiegelexperiment;343
9.3.4;4.2.3 Geburt und extrauterines Frühjahr;345
9.3.4.1;4.2.3.1 Sekundärer Nesthocker ;345
9.3.4.2;4.2.3.2 Das extrauterine Frühjahr ;348
9.3.4.3;4.2.3.3 „Sinn“ der „physiologischen Frühgeburt“ ;351
9.3.4.4;4.2.3.4 Die Geburt s. str. als Zäsur;353
9.3.4.5;4.2.3.5 Status der Placenta;356
9.3.5;4.2.4 Beginn der Fötalphase ;357
9.3.6;4.2.5 Primitivstreifen, Mehrlings- und Doppelbildungen;361
9.3.6.1;4.2.5.1 Vollständige Mehrlingsbildung als Form vegetativer Vermehrung;361
9.3.6.2;4.2.5.2 Der Dicephalus und die Entkoppelung organismischer und personaler Entwicklung ;363
9.3.6.3;4.2.5.3 Menschlicher Lebenszyklus und Metagenese ;365
9.3.7;4.2.6 Implantation ;366
9.3.7.1;4.2.6.1 Implantation als Rückkehr in den mütterlichen Organismus ;366
9.3.7.2;4.2.6.2 Implantation zwecks möglicher Nachlieferung von Positionsinformation;367
9.3.7.3;4.2.6.3 Implantation als Generation.grenze;370
9.3.8;4.2.7 Compaction ;371
9.3.9;4.2.8 Genexpression ;375
9.3.10;4.2.9 „Befruchtung“ ;376
9.3.10.1;4.2.9.0 Vorbemerkung zur Verwendung des Begriffs „Befruchtung“;376
9.3.10.2;4.2.9.1 Befruchtung im eigentlichen Sinne;378
9.3.10.3;4.2.9.2 Abschnürung des zweiten Polkörpers;380
9.3.10.4;4.2.9.3 Cytogamie;382
9.3.10.5;4.2.9.4 Aktivierung der Oocyte ;386
9.3.10.6;4.2.9.5 Anschlussbemerkungen zur „Befruchtung“ im weiteren Sinne;389
9.3.11;4.2.10 Besamung;390
9.3.12;4.2.11 Ovulation ;392
9.3.13;4.2.12 Abschnürung des ersten Polkörpers;395
9.3.14;4.2.13 Dearretierung des meiotischen Prophase I-Arrests ;396
9.3.15;4.2.14 Die Bildung primärer Oocyten ;397
9.3.16;4.2.15 Primordiale Keimzellen ;399
9.3.17;4.2.16 Weitere Zäsuren;401
9.3.18;4.2.17 Zusammenfassung;402
10;5 Schlussüberlegungen ;404
10.1;5.1 Die offene Frage nach dem moralischen Status;404
10.2;5.2 Theologisch-dogmatische Anschlussfragen ;405
10.2.1;5.2.1 Schnittstelle Christologie – ontologische Statusfrage ;405
10.2.2;5.2.2 Schnittstelle Eschatologie – Taufpastoral – ontologische Statusfrage ;406
10.2.3;5.2.3 Anmerkung zu Jesu Gespräch mit Nikodemus (Joh 3,1–21);410
10.3;5.3 Schlussbemerkung;411
11;Abkürzungen bei Literaturangaben ;414
12;Literaturverzeichnis;415


2 Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese in Geschichte und Gegenwart
In Teil 2 kommen Versuche zur Statusbestimmung humanbiologischen Keimmaterials in Geschichte und Gegenwart zur Darstellung – dies nicht als Selbstzweck, sondern in systematischer Absicht: In Teil 3 der Untersuchung werden zentrale Begriffe der Diskussion um den ontologischen Status des Vor- und Neugeburtlichen aufgegriffen und in Anwendung neuerer biologischer Erkenntnisse kritisch diskutiert. Mit diesem Begriffsinstrumentarium werden dann in Teil 4 verschiedene ontogenetische Phasen und Zäsuren daraufhin befragt, ob bzw. inwiefern sie als Beginn – sei es des Organismus, sei es des Individuums, sei es des Menschen, sei es der Person – taugen. 2.1 Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese in der abendländischen Geschichte
2.1.0 Vorbemerkungen zum geschichtlichen Überblick
2.1.0.1 Zweck und Methode des geschichtlichen Überblicks Im Zentrum der Untersuchung steht die systematische Frage nach dem ontologischen Status des humanbiologischen Keimmaterials in seinen verschiedenen ontogenetischen Entwicklungsphasen. Es stellt sich daher die Frage: Wozu ein historischer Überblick zur ontologischen Statusbestimmung humanbiologischen Keimmaterials1 in der abendländischen, insbesondere in der christlichabendländischen Geschichte? Erstens steht die systematische Frage von heute nicht geschichtslos im Raum, sondern sie hat eine Geschichte und ist das Produkt einer Geschichte. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte bekommt die heutige systematische Frage ihr spezifisches Profil.2 Zweitens macht ein derartiger geschichtlicher Überblick deutlich, welche ontogenetischen – wie auch immer (vor-)wissenschaftlich vorgestellten – Phasen und Ereignisse im Fokus der ontologischen Fragestellung standen und deshalb auf ihre systematische Relevanz hin zu befragen sind. Drittens lehrt ein geschichtlicher Überblick, wie eng – was die Frage nach dem ontologischen Status humanbiologischen Keimmaterials betrifft – (vor-)wissenschaftliche Embryologie, Ontologie, Anthropologie, Ethik und Recht miteinander verzahnt sind. Die Einbeziehung naturwissenschaftlicher Kompetenz in die Diskussion der Statusfrage ist deshalb geboten. Viertens aber – und das ist beim gegenwärtigen innerkirchlichen Diskussionsklima hervorzuheben – kann ein Blick in die Geschichte helfen, sich selbst verabsolutierende Positionen zu relativieren und die Angst vor einer ergebnisoffenen Diskussion der systematischen Frage nach dem ontologischen Status humanbiologischen Keimmaterials zu überwinden. Da die Aufgabenstellung dieser Untersuchung primär eine systematische und keine historische ist, impliziert das für den folgenden geschichtlichen Teil zweierlei: Es geht erstens nicht um eine erschöpfende Darstellung der in der Geschichte vertretenen Vorstellungen. Vergeblich wird man suchen, was z. B. Epikur oder das Konzil von Mainz 847 oder George-Louis Leclerc de Buffon (1707–88) oder Wilhelm His (1831–1904) usw. zur Ontogenese und zur ontologischen Statusbestimmung des Ungeborenen beizutragen wussten. Vielmehr geht es darum, repräsentativ die wichtigsten Autoren und Auffassungen zur Frage kurz vorzustellen oder mindestens zu nennen. Eine auf Vollständigkeit angelegte historische Arbeit zum Thema wäre nur als mehrbändiges Werk zu verwirklichen. Zweitens geht es nicht darum, historische Positionen und Gedankengänge direkt anhand von Quellen und Originaltexten herauszuarbeiten; vielmehr wird anhand der reichlich vorhandenen Sekundärliteratur ein repräsentativer Überblick in systematischer Absicht gegeben. Originaltexte wurden nur bei sehr wichtigen Autoren und Texten oder dann konsultiert, wenn die Sekundärliteratur Widersprüchliches bietet.3 Im geschichtlichen Überblickskapitel wird also nicht das Ergebnis eigener Quellenforschung vorgestellt, sondern es werden Erkenntnisse aus bereits vorliegenden Monographien, Aufsätzen und Artikeln zusammengetragen.
In der abendländischen Geschichte wurde die Statusfrage humanbiologischer Keime gemeinhin als Beseelungsfrage diskutiert. Da diese Diskussion aber nicht nur von theoretischem, sondern auch von höchst praktischem Interesse ist, z. B. für die Behandlung der Abtreibungsproblematik, wird man in sehr unterschiedlichen Kontexten fündig: Rechts- und embryologiegeschichtliche Arbeiten sind ebenso zu konsultieren wie philosophie- und theologiegeschichtliche Literatur. Die Zusammenschau unterschiedlicher Ansätze, Arbeiten und Ergebnisse führt allerdings – über die reine Darstellung hinaus – gelegentlich zu neuen, teilweise spannenden Erkenntnissen. Gegliedert ist der geschichtliche Überblick in drei Kapitel: Im Zentrum steht das zweite Kapitel mit seinen Ausführungen zum ontologischen Status humanbiologischer Keime in der mittelalterlich-christlichen Tradition. Im ersten Kapitel werden die dem Christentum vorgegebenen Traditionen vorgestellt: die griechisch-römische und die biblisch-jüdische. Im dritten Kapitel geht es um die sich von der mittelalterlich-christlichen Tradition emanzipierenden Sichtweisen des säkularen Rechts und der Embryologie. Gegliedert sind diese drei Kapitel in eine Bestandsaufnahme; jeweils nachgestellt sind weiterführende Überlegungen und Präzisierungen. 2.1.0.2 Hinweise zur naturwissenschaftlichen Kompetenz und zur Terminologie Biologie ist eine junge Wissenschaft. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts – mit der Formulierung der Zelltheorie, der Evolutionstheorie und der Mendel’schen Gesetze – wurde die Biologie zu einer Naturwissenschaft; erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Säugetieroocyte entdeckt, die Cyto- und die Karyogamie beobachtet. Mit anderen Worten und zugespitzt: Bis ins 19. Jahrhundert herrschten über „Beiwohnung“, „Empfängnis“ und frühembryonale Ereignisse Vorstellungen, die denen vor 10.000 Jahren ähnlicher waren als dem heutigen Wissensstand. Dies gilt es zu berücksichtigen, will man nicht bei Autoren von Aristoteles bis Kant Antworten auf Fragen finden, die sie noch gar nicht stellen konnten. Die meisten für die heutige Fragestellung relevanten Begriffe waren in der abendländischen Tradition inhaltlich anders gefüllt bzw. wurden anders verwendet als heute. Einige Hinweise zum Verständnis des geschichtlichen Überblicks sollen deshalb vorausgeschickt werden: Unter „Empfängnis“ wurde nicht die Befruchtung oder die Nidation verstanden, sondern irgendein fiktives Gesamtereignis aus Koitus und Schwangerschaftsbeginn.
Unter „Samen“ und „Sperma“ verstand man keine Spermatozoen, sondern Samenflüssigkeit; man sprach nicht nur von männlichem, sondern auch von weiblichem Samen.4 Anders als heute waren die Begriffe „Embryo“, „Fötus“5, „(Leibes-)frucht“ – von mir noch ergänzt um die wertneutralen Begriffe „Ungeborenes“, „Vorgeburtliches“, „Keim“ – weitgehend gegeneinander austauschbar. Der von mir verwendete Begriff „humanbiologisches Keimmaterial“ ist – keineswegs abwertend gemeint!6 – dort sinnvoll, wo eine Verwendung der anderen aufgeführten Begriffe zu kurz greifen würde: wenn z. B. bereits der „Samen“ als beseelt gedacht wird und „Samen“ und „Föten“ etc. unter einem Begriff zusammengefasst werden sollen.
In der mittelalterlich-christlichen Tradition wurde mit Blick auf die Embryonalentwicklung gemeinhin unterschieden zwischen einer Phase, in der der Keim als schon „reif“, „ausgebildet“, „geformt“, „gegliedert“, „belebt“, „(vernunft-)beseelt“ und damit ontologisch als Mensch angesehen wurde – die Begriffe sind austauschbar7 –, und einer Phase, in der er als noch „unreif“, „unausgebildet“, „ungeformt“, „ungegliedert“, „unbelebt“ und „unbeseelt“ galt – wobei „unbelebt“ und „unbeseelt“ die Negation von Belebt- und Beseeltsein bedeuten konnten, aber auch bloß vegetatives Belebt- und Beseeltsein. Erst in der Neuzeit wurde die Ineinssetzung von Ausgebildetheit, Geformtsein, Belebtsein und Vernunftbeseeltheit in Frage gestellt oder bestritten.8 Die Grenze zwischen „Abtreibung“ und Kindstötung wurde zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Autoren unterschiedlich gezogen, z. B. bei der Geburt oder bei Erwerb der extrauterinen Lebensfähigkeit.
2.1.1 Dem Christentum vorgegebene Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese
2.1.1.1 Dem Christentum vorgegebene Vorstellungen zur Beseelung und Ontogenese – Bestandsaufnahme Die Vorstellungen, die sich die frühen Christen von der Beseelung und über den ontologischen sowie moralischen Status des Ungeborenen und des Neugeborenen machten, waren keine Neuschöpfungen. So wie das Christentum im Judentum wurzelt, so wurzeln auch seine Beseelungsvorstellungen im biblisch-jüdischen Denken. Zugleich waren die frühen Christen Teil der antiken griechischrömischen Welt, mit deren Auffassungen zum ontologischen und moralischen Status des Ungeborenen und Neugeborenen sie sich auseinanderzusetzen hatten. 2.1.1.1.1 Vorstellungen zum ontologischen Status menschlicher Keime in der griechisch-römischen Antike In der griechischen Antike galten Embryonen und Neugeborene nicht als Menschen im vollen Sinn, ihre Tötung wurde nicht als Mord verstanden. Von einem Lebensrecht des Un- und Neugeborenen konnte keine Rede sein.9 Im griechischen Volksglauben stellte man sich die Beseelung vermutlich im Allgemeinen so vor, dass die Seele mit dem ersten Atem, also nach der Geburt, in den...


Dr. theol. Dr. rer. nat. Johannes Seidel ist Dozent für Naturphilosophie, biologische Grenzfragen und Wissenschaftstheorie an der Hochschule für Philosophie München.



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