Seel | Aktive Passivität | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Seel Aktive Passivität

Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-400243-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-10-400243-9
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Von der aktiven und passiven Natur des Menschen - die wichtigsten aktuellen Essays von Martin Seel, dem eleganten Stilisten unter den deutschen Philosophen Alles menschliche Verhalten steht in einer grundlegenden Polarität von Bestimmtsein und Bestimmendsein. Könnten wir uns nicht bestimmen lassen, könnten wir nichts bestimmen - weder uns selbst noch die Welt, in der wir uns vorfinden. Von dieser zugleich aktiven und passiven Natur des Menschen handelt das neue Buch von Martin Seel. Scheinbar ganz klassisch verfolgen die hier versammelten Texte ihr Grundmotiv im Blick auf das Wahre, Gute und Schöne, um die spannungsreichen Beziehungen von Wissen und Nichtwissen, Anerkennung und Aufmerksamheit, Expressitivät und Imagination zu erkunden. Philosophieren heißt nun einmal, sich auf eine Kreuzfahrt zwischen Regionen unseres Selbstverständnisses zu begeben, die niemals vollständig erschlossen werden können.

Martin Seel, geboren 1954 in Ludwigshafen am Rhein, ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bei S. FISCHER sind erschienen »Paradoxien der Erfüllung« (2006), »Theorien« (2009), »111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue« (2011), »Die Künste des Kinos« (2013), »Aktive Passivität« (2014) sowie »?Hollywood? ignorieren. Vom Kino« (2017).
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


I. Vom Wahren


1. Die Fähigkeit zu überlegen. Elemente einer Philosophie des Geistes


1.


Die Fähigkeit zu überlegen ist neben der des Betrachtens von Bildern, der Herstellung von Werkzeugen und der Entwicklung politischer Gemeinschaften eine der Grundfähigkeiten des Menschen. Sie ist aber nicht irgendeine dieser Grundfähigkeiten – sie ist diejenige, ohne die es die anderen nicht gäbe. Denn sie ist es, durch die der Mensch ein Lebewesen ist, das in theoretischer wie praktischer Absicht sondieren kann, worauf es sich in seinem Verhalten festlegen will. Diese Sondierung betrifft Möglichkeiten, die gegeben oder noch nicht gegeben, die zu schaffen oder zu erinnern, die zu erhoffen oder zu befürchten – und die darum zu beachten oder zu missachten, zu ergreifen oder zu vermeiden sind. Es ist das Überlegen, das eine Welt eröffnet, die sich im Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in vielfältige Zustände gliedert, auf die wir uns unterschiedlich einstellen können. Es eröffnet eine Sphäre erreichbarer und unerreichbarer Möglichkeiten des Fürwahrhaltens und Wahrmachens, die wir in Wahrnehmung, Reflexion und Imagination vor uns bringen und so einer Beurteilung und Behandlung zuführen können. In Prozessen des Überlegens geschieht eine Auffächerung von Gelegenheiten des Innehaltens, Dafürhaltens und Vollbringens, in denen sich das geschichtliche Leben des Menschen bewegt. Ohne das Überlegen gäbe es keine historisch-kulturelle Welt, in der Gedanken formuliert und weitergegeben, Geschichten erzählt und tradiert werden, Handlungen gelingen oder scheitern, Reiche entstehen und vergehen, Hoffnungen enttäuscht werden oder sich erfüllen.

Die Fähigkeit zu überlegen, über die ich hier spreche,[1] ist keine theoretische praktische Fähigkeit, sondern diejenige einer theoretischen praktischen Sondierung beliebiger Umstände. Herder hat hierfür das schöne Wort »Besonnenheit« geprägt.[2] Lebewesen, die in diesem Sinn Besonnenheit , sich besinnen: Sie können zu klären versuchen, wie es sich mit etwas verhält und wie sie sich zu etwas verhalten sollen. Auch unüberlegt handeln und reden – und voreilig denken – können sie nur, da sie in der Lage sind, sich zu besinnen. Die Herder’sche Besonnenheit kann daher als Grundausstattung eines Lebewesens verstanden werden. Zu dieser gehört auch das Vermögen, sich dann und wann – und manchmal nachhaltig – irrational zu verhalten. Denn es liegt im Begriff einer Fähigkeit, dass sie gelegentlich unter Niveau gebraucht oder ihre Aktualisierung von Fall zu Fall versäumt werden kann. Wer überlegen kann, verhält sich also keineswegs durchgängig überlegt; er ist vielmehr mit einer fragilen Kompetenz ausgestattet, deren Besitzer nicht davor gefeit, ja sogar in besonderem Maß dazu disponiert sind, in Verwirrung zu geraten und sich selbst in die Irre zu führen. Diese Unsicherheit und Unwägbarkeit des Überlegens reicht so weit, dass man sich bei jemandem, der durchgängig überlegt und in diesem Sinn ganz und gar überlegt , fragen müsste, ob er überhaupt überlegen .

So heikel die Kompetenz des Menschen, sich im Überlegen zu orientieren, auch ist, sie ist die Wurzel dessen, was die Tradition »Geist« genannt hat. Sie ist nicht eine Wurzel Vernunftgebrauchs, sondern Verstehens unserer selbst und der Welt. Die Frage nach der Natur des Überlegens hält sich daher an einem Punkt der Indifferenz von theoretischer, praktischer und sonstiger Vernunft auf. So jedenfalls hat es Hegel gesehen. »Der Geist«, notiert er in einem Zusatz zu § 4 seiner , »ist das Denken überhaupt, und der Mensch unterscheidet sich vom Tier durch das Denken. Aber man muß sich nicht vorstellen, daß der Mensch einerseits denkend, andererseits wollend sei und daß er in der einen Tasche das Denken, in der anderen das Wollen habe, denn dies wäre eine leere Vorstellung. Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Vermögen, sondern der Wille ist eine besondere Weise des Denkens: das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben.«[3] Das menschliche Denken, meint Hegel, kann unterschiedlich auf Unterschiedliches zielen, erkennend auf das Sosein, vollbringend auf das Seinsollen der Welt, vernehmend auf das Erscheinen der Kunst, reflektierend auf das Begreifen der dabei verwendeten Begriffe – aber es ist jedes Mal Denken. Es ist Geist nicht allein in seinem denkenden Vollzug, sondern ebenso in seinem gedanklichen oder intentionalen Resultat. Es ist Geist nicht allein als subjektive, sondern ebenso als intersubjektive, an andere adressierte Leistung. Es ist Geist nicht allein im individuellen Tun und Lassen, sondern ebenso in kollektiven Gestaltungen, die das Tun und Lassen von Einzelnen weit übersteigen, wie es bei Regeln, Ritualen und Institutionen der Fall ist oder in den Systemen der Ökonomie, des Rechts, der Politik, der Religion und der Wissenschaft. Diese Verhältnisse, so unabhängig sie auch von den einzelnen Vollzügen des individuellen Denkens bestehen mögen, »sind« Geist in dem Sinn, dass sie in ihrem Bestehen von der Übung des Überlegens und Verstehens abhängig sind. Deswegen ist das, was ich hier ausführe, ein Beitrag zu einer Philosophie des Geistes – in einer durchaus altmodischen Bedeutung des Begriffs, die unter »Geist« nicht allein psychische Zustände aller Art, sondern die gesamte Sphäre der menschlichen Praxis fasst. Subjektiver wie objektiver Geist, um es noch einmal in Hegels Sprache zu sagen, haben ihre Wurzel in der Fähigkeit des Überlegens.

2.


Was ich im Folgenden darlegen werde, wird also den Charakter einer Wurzelbehandlung haben, von der ich hoffe, dass sie nicht allzu schmerzhaft ausfallen wird. Um diese durchzuführen, müssen wir uns klarmachen, dass auch das Überlegen ein Handeln ist, eines freilich, das nicht mit äußerer Bewegung oder mit Eingriffen in die Welt verbunden sein muss. »Überlegst du oder starrst du nur vor dich hin?«, können wir ein Kind fragen, das über seinen Hausaufgaben sitzt. »Überlegen Sie doch!«, können wir einem Prüfling sagen, der sich in widerstreitenden Aussagen verheddert hat. In Aufforderungen dieser Art wird der Tätigkeitscharakter des Überlegens deutlich; Überlegungen sind Akte, die man vornehmen oder unterlassen kann, und setzen Prozesse in Gang, auf die man sich einlassen oder von denen man sich fernhalten kann. Andererseits sagen wir aber auch: »Hör auf zu überlegen, tu endlich was!«, und markieren damit eine charakteristische Differenz zwischen dem Überlegen und dem sonstigen Handeln, worin die Polarität von »Denken und Handeln« ihre Berechtigung hat. Wer bloß überlegt, lässt alle Tätigkeit ruhen. In Situationen, in denen es auf schnelle Entscheidung und rasches Zupacken ankommt, erweckt dies nicht selten den Eindruck, dass die Betreffenden tun. Jedoch ist dies lediglich ein komparatives Nichtstun, denn sie sind durchaus mit etwas beschäftigt, womit sie jetzt aufhören und später wieder beginnen könnten. Das Denken ist nun einmal kein Machen, keine , aber doch eine – und nicht irgendeine –

Diese Praxis hat einen wesentlich intersubjektiven Charakter. Natürlich bewegt sie sich allein vermöge subjektiver Vollzüge, da niemand an der Stelle eines anderen überlegen kann. Zwar kann man in einem bestimmten Sinn den anderen überlegen – so wie es Eltern für ihre Kinder tun, wenn sie darüber nachdenken, wann und wo sie eingeschult werden sollten –, aber man kann nicht die Überlegung eines anderen anstellen. Auch wenn mehrere zusammen darüber nachdenken, was von Hegel zu halten ist oder wohin der nächste Urlaub gehen soll, muss jeder einzelne sein Überlegen ins Spiel bringen. Überlegen kann nur, wer es auch alleine kann. Trotzdem gehört es zur Fähigkeit des Denkens, dass sie für andere identifizierbar ist. Von Grenzfällen abgesehen – »Starrt er noch oder denkt er schon?« – ist das Überlegen eine Handlung, die im Kontext Handlungen steht, die öffentlich zugänglich sind. Es äußert sich in charakteristischen Verhaltensweisen, in Mimik und Gestik, im Reden und Schreiben sowie in weiteren Hervorbringungen, die als Ausdruck eines überlegten Vorgehens interpretierbar sind. Ein Überlegen, das in seinen Vollzügen und Konsequenzen nicht ans Licht treten, das in der gemeinsamen Welt keine Spuren hinterlassen könnte, wäre keines. Wer überlegen kann, bewegt sich in einer Welt, in der Überlegende die Fähigkeit zum Überlegen zuschreiben.

Diese Zuschreibung gelingt aber nur, soweit das Überlegen der anderen grundsätzlich verständlich ist. So sehr einzelne Überlegungen eines Menschen für andere unverständlich bleiben können – wenn sein für sie unverständlich bleibt, beginnen sie zu zweifeln, ob er...


Seel, Martin
Martin Seel, geboren 1954 in Ludwigshafen am Rhein, ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bei S. Fischer sind erschienen 'Paradoxien der Erfüllung' (2006), 'Theorien' (2009), '111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue' (2011), 'Die Künste des Kinos' (2013), 'Aktive Passivität' (2014) sowie '›Hollywood‹ ignorieren. Vom Kino' (2017).

Martin SeelMartin Seel, geboren 1954 in Ludwigshafen am Rhein, ist Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bei S. Fischer sind erschienen 'Paradoxien der Erfüllung' (2006), 'Theorien' (2009), '111 Tugenden, 111 Laster. Eine philosophische Revue' (2011), 'Die Künste des Kinos' (2013), 'Aktive Passivität' (2014) sowie '›Hollywood‹ ignorieren. Vom Kino' (2017).



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