Sedmak | Armutsbekämpfung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 370 Seiten

Sedmak Armutsbekämpfung

Eine Grundlegung
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-205-79308-3
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Eine Grundlegung

E-Book, Deutsch, 370 Seiten

ISBN: 978-3-205-79308-3
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Armut verhindert gutes Leben und gutes Zusammenleben. Armut rührt an tiefste Schichten menschlicher Identität. Wie kann Armutsbekämpfung gelingen? Um diese Frage zu beantworten, ist es erforderlich, einen Begriff von Armut, eine Gerechtigkeitstheorie (warum ist Armut ein Übel, das bekämpft werden muss?) und Umsetzungsstrategien zu entwickeln. Eben dies möchte das vorliegende Buch leisten. Anhand von guten Beispielen und best practices wird der Horizont der Armutsbekämpfung erschlossen. Dabei wird die These vertreten, dass Armutsbekämpfung nicht ohne die Bereitschaft zum Privilegienabbau erfolgen kann. Es ist nicht nur die Frage 'Warum bist du arm?' zu stellen, sondern auch die Frage 'Warum lebst du im Wohlstand?'. Armutsforschung und Wohlstandsforschung sind miteinander zu verbinden.

Clemens Sedmak (* 6. August 1971 in Bad Ischl) ist ein österreichischer Theologe und Philosophieprofessor am King's College London, Universität London, Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg sowie Präsident des Internationalen Forschungszentrums für soziale und ethische Fragen in Salzburg. Er promovierte an der Universität Innsbruck und der Universität Linz in Philosophie, Theologie und Sozialtheorie. Anschließend folgten weitere Studienaufenthalte in Maryknoll (New York) und an der ETH Zürich. Im Jahr 1999 habilitierte er an der katholisch-theologischen Privatuniversität Linz in Fundamentaltheologie und ein Jahr später an der Universität Innsbruck in Philosophie. Sedmak ist verheiratet und hat drei Kinder. Er wohnt in Seekirchen.
Sedmak Armutsbekämpfung jetzt bestellen!

Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Inhalt
Vorwort
Erster Teil: Über Armut nachdenken
Wieder ein Buch über Armutsbekämpfung?
Zur Ethik des Nachdenkens über Armut
Die Frage nach der Perspektive
Die Wunde des Wissens
Zweiter Teil: Die Kernthese
Die These: Armut 'von innen' denken
Armut und Identität
Armut und Integrität
Eine Innenperspektive – Carolina Maria de Jesus
Dritter Teil: Innenseiten
Die Innenseite der materiellen Welt: die Bedeutung von Dingen
Die Innenseite des Politischen
Innenwirtschaft: die Innenseite des Ökonomischen
Die Innenseite des Sozialen: die intangible Infrastruktur
Vierter Teil: Die normative Frage: Ist Armut ein Übel?
Der Status der Frage
Die Frage nach dem guten Leben
Die Frage nach der guten Gesellschaft
Liebe ohne Zögern: Ian Brown
Fünfter Teil: Armut bekämpfen
Soziale Veränderung
Privilegienabbau
Armutsbekämpfung
Hospitalität und Innerlichkeit: Georg Sporschill
Schönheit gegen Armut: Stacey Edgar
Armutsbekämpfung als Freundschaftsdienst: Martin Kämpchen
Geduldiges Kapital: Jacqueline Novogratz
Selbstdisziplin und Vertrauen: Dave und Liane Phillips
Eine Spiritualität des Gebens: Doraja Eberle
Zusammenfassende Thesen
Epilog
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Appendix
Zum Autor
Personenregister
Sachregister


Zweiter Teil: Die Kernthese


Die These: Armut »von innen« denken


2.1 Die These, die ich vertrete, kann in einem schwächeren und in einem stärkeren Sinn formuliert werden; in einem schwächeren Sinn könnte die These lauten: Armutsdynamiken können tiefer verstanden werden, wenn man die Innenseite von Armut einbezieht. In einem stärkeren Sinn lautet die These: Ohne Berücksichtigung der Innenseite von Armut wird man Armut nur unzureichend verstehen und nicht wirkungsvoll bekämpfen können. Armutsbekämpfung ist auf epistemische und moralische Ressourcen, auf Wissen und auf moralische Einstellungen angewiesen. Armutsbekämpfung bedarf entsprechender Einstellungen. Diese These soll im vorliegenden Buch entwickelt werden, mit einer Reihe von mitunter groben Pinselstrichen, die auch nur andeuten können, was diese These für politische, ökonomische oder soziale Fragen bedeutet. Es geht darum, so könnte man sagen, eine »Innentheorie« von Armut zu entfalten oder auch: Armut und Armutsbekämpfung von der Innenseite unter Berücksichtigung menschlicher Interiorität zu verstehen. Hintergrund dieser These ist ein bestimmtes Menschenbild, das davon ausgeht, dass Menschen Wesen mit Tiefe und Innerlichkeit sind, mit reichem Innenleben, das unter anderem in der traditionellen Rede von »Seele« gespiegelt wurde. Dabei soll diese These weder besagen, dass die Berücksichtigung von Strukturen und äußeren Gütern nicht notwendig wäre, noch dass das Innere des Menschen eine vom Gespräch mit der Welt auf geheimnisvolle Weise unabhängige »Essenz« bilde.

2.2 Die »Innenseite der Armut« betrifft die Innerlichkeit des Menschen, die menschliche Interiorität. Darunter verstehe ich insbesondere die epistemische und moralische Situation der Betroffenen. Diese Situation möchte ich, auch wenn es etwas schwerfällig klingt, als »episthetische Situation« bezeichnen. Die episthetische Situation ist die Gesamtheit der im erkennenden Subjekt verankerten Orientierungsbedingungen; Orientierungsbedingungen sind die Strukturen, die einen Menschen sein Verhältnis zu sich selbst und damit sein Verhältnis zur Welt bestimmen lassen; die episthetische Situation ist also jene »innere Situiertheit« des Menschen, die mit emotionaler, erkenntnisbezogener und moralischer Orientierung zu tun hat. Nun kann man sich nicht sinnvoll über die [<<49] Seitenzahl der gedruckten Ausgabeepisthetische Situation Gedanken machen, wenn man nicht den Versuch einer »Kartografie des Inneren« unternimmt, wie dies in philosophischen und religiösen Traditionen auch immer wieder unternommen wurde. Wenn man über jene Kräfte nachdenkt, die die Orientierung eines Menschen oder seine »Innerlichkeit« prägen, kann man verschiedene Vermögen unterscheiden – ich möchte den Vorschlag machen, die episthetische Situation über sieben Pfeiler zu charakterisieren, will aber nicht behaupten, dass damit eine abschließende Beschreibung des Inneren gelungen wäre. Die sieben Aspekte, die jedenfalls von Relevanz sind: Erinnerungskraft und Erinnerungen (memoria), Vorstellungskraft und Vorstellungen (Fantasie/Hoffnung), Urteilsvermögen und Überzeugungen (Reflexion), Feinfühligkeit und Gefühle (Emotionalität), Strebekraft und Strebebewegungen (Wille), Haltungen und Einstellungen (Tugenden), moralisches Empfinden (Gewissen). Diese sieben Dimensionen ergeben »Fragerichtungen«, die man zur Erhellung der episthetischen Situation verwenden kann.

2.3 Die episthetische Situation für die Zwecke der Armutsforschung oder Armutsbekämpfung nutzbar zu machen, bedeutet, den Blick auf bestimmte Aspekte zu richten und bestimmte Fragen zu stellen: (i) Welche Auswirkungen hat Armut auf Erinnerungen und Gedächtnis? Können bedrückende und belastende Erinnerungen oder auch ein Mangel an »Familiengeschichtsbewusstsein« zur Verfestigung von Armut beitragen? Was muss die Armutsbekämpfung leisten, um durch Erinnerungsarbeit zur Überwindung von Armut beizutragen? (ii) Inwieweit hängt Armut mit einem eingeschränkten »Möglichkeitssinn« und einer eingeschränkten Vorstellungskraft zusammen? Inwiefern ist es bedeutsam zur Bekämpfung von Armut, an der Vorstellungskraft der Menschen anzusetzen und die Überwindung von Armut an die Entwicklung von bestimmten Vorstellungen zu knüpfen? (iii) Ist Armut verbunden mit einem Mangel an Reflexionsvermögen, das insofern mit »Bildung« verbunden ist, als Bildungsprozesse Referenzpunkte zur Beurteilung von Sachverhalten bereitstellen? Inwieweit schränkt eine Armutssituation auch die Urteilskraft ein? Ist »Bildung« als eines der wichtigsten Werkzeuge der Armutsbekämpfung nicht vor allem auch ein Weg zur Kultivierung von Reflexionsvermögen und Urteilskraft? (iv) Trägt der Druck von Armutssituationen zur Bedrohung von Feinfühligkeit bei? Welche emotionalen Auswirkungen hat Armut? Inwiefern und wie müssen Anstrengungen zur Armutsbekämpfung Emotionen und Emotionalität berücksichtigen, ist Armut doch »heiße Geschichte« mit starker emotionaler Involviertheit der Betroffenen? (v) Welche Rolle spielen Wünsche und vor allem auch Wünsche [<<50]zweiter Ordnung in Armutssituationen und in Bemühungen um Wege aus der Armut? Inneres Wachstum wird in vielen spirituellen Traditionen als Kontrolle über Wünsche zweiter Ordnung verstanden – was bedeutet dies für die Armutsbekämpfung, die schließlich auch am Wachstum von Menschen interessiert sein muss? (vi) Welche Haltungen und Gewohnheiten tragen dazu bei, dass sich Armut verfestigt – aufseiten der Betroffenen wie auch aufseiten derjenigen, die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht in einer Armutssituation befinden? Welche grundsätzlichen Einstellungen müssen verändert, welche »guten Gewohnheiten« etabliert werden, um Armut zu bekämpfen? Diese Frage kann auch lauten: Welche Rolle spielen Routine und Alltag in Armutsverfestigung und Armutsbekämpfung? (vii) Inwieweit ist Armut mit moralischem Empfinden und Fragen von Gewissen und Gewissensbildung verbunden? Ist verfestigte selektive Armut Ausdruck von Gewissenlosigkeit auf Seiten derjenigen, die Armut erzeugen oder wenigstens ermöglichen? Kann Armut aufgrund der reduzierten moralischen Spielräume zu einer Form von Gewissensabstumpfung führen? Inwieweit müssen in der Armutsbekämpfung Fragen nach Gewissen und Gewissensbildung berücksichtigt werden? – diese Fragen sind Ausdruck von Fragerichtungen, die sich aus der vorgeschlagenen tentativen Kartografie der episthetischen Situation ergeben. Sie sollen weniger einen Weg als eine Gehrichtung für die Reflexion auf Basis der formulierten These andeuten, Armut »von innen her« zu denken.

2.4 Für die Annäherung an Armut und Armutsbekämpfung »von innen« möchte ich einige Argumente anbieten. Erstens ergibt sich die Berücksichtigung der Innerlichkeit des Menschen aus dem Menschenbild – Menschen sind Wesen, die von Komplexität und Tiefe gekennzeichnet sind und ein reiches Innenleben an Überzeugungen, Gefühlen, Haltungen und dergleichen haben. Zweitens können Ereignisse, die zur Verarmung von Menschen führen, in vielen Fällen mit der Innerlichkeit handelnder Personen in Zusammenhang gebracht werden, mit Erkenntnisstrukturen und charakterlichen Aspekten, also moralischen Strukturen. Die moralische Situation eines Menschen ist für die Armutsbekämpfung von besonderer Bedeutung, weil die Frage nach dem Charakter von armutsbetroffenen Menschen relevant ist, wenn sie Bindungen eingehen oder Versprechen abgeben müssen; weil die Frage nach dem Charakter derjenigen, die mit armutsbetroffenen Menschen zu tun haben, relevant ist; weil diejenigen, die in Fragen der Armutsbekämpfung »bystanders« sind, von ihren Charakterstrukturen relevant sind. Drittens ist eine Konsequenz von Armut eine Belastung oder gar der Verlust des inneren Gleichgewichts und damit eine Frage des Verlusts von »Gelassenheit«, [<<51]»innerem Frieden« oder auch geistiger Gesundheit. Viertens spielen Aspekte menschlicher Innerlichkeit wie etwa »Sorge« oder »Vorstellungskraft« eine entscheidende Rolle in der Armutsbekämpfung. Fünftens kann die Verfestigung von Armut mit Überzeugungen von Menschen in Zusammenhang gebracht werden, etwa mit Klischees oder Grundhaltungen aufseiten derjenigen, die nicht von Armut betroffen sind. Sechstens wirft die Berücksichtigung von menschlicher Innerlichkeit ein neues Licht auf Grundfragen der Ökonomie, deren Forschungsbereich vor allem auch mit menschlichem Wünschen und Begehren zu tun hat.

RD 2.1 In seinem viel beachteten Werk über die Ökonomie von Gut und Böse erinnert uns Tomas Sedlácek1 daran, dass die Wirtschaftswissenschaften von ungeklärten Voraussetzungen, ja mythischen Grundlagen ausgehen, die das Innere des Menschen betreffen. Die Ökonomie, so Sedlácek, bleibe eine Antwort auf die Schlüsselfrage, was denn eigentlich »utility« sei, schuldig. Das Wirtschaftsgeschehen würde seinerseits von »desires« getrieben, die nach einem diffusen Verständnis von Innerlichkeit im Inneren des Menschen machtvoll wirken, Kräfte entfalten und treiben. Aufgrund der Maßlosigkeit der Begierden seien Mäßigung und Bescheidenheit, also Tugenden, die »von innen« kommen, das Remedium für die überhitzte Wirtschaft. Dass Begierden nicht rationale Konstrukte sind, sondern auf der Gesamtheit der emotionalen und kulturellen Situation des Menschen beruhen, hat u. a. die Wirtschaftssoziologie gezeigt. Wünsche sind in kulturelle Kontexte eingebunden, ökonomische Phänomene können nicht angemessen außerhalb kultureller Zusammenhänge mit ihrer relationalen Struktur analysiert werden. Wünsche haben mit Beziehungen ebenso zu tun wie mit Überzeugungen, Erinnerungen, Vorstellungen des guten Lebens oder Emotionen. Viviana Zelizer hat in zahlreichen...


Clemens Sedmak, Inhaber des F.D. Maurice Lehrstuhls für Sozialethik am King’s College London (Universität London) und F.M. Schmölz OP Gastprofessor und Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.