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E-Book, Deutsch, 222 Seiten
Reihe: Dialoge
Schwarz-Friesel Toxische Sprache und geistige Gewalt
2. aktualisierte und erweiterte Auflage 2025
ISBN: 978-3-381-14343-6
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie judenfeindliche Denk- und Gefühlsmuster seit Jahrhunderten unsere Kommunikation prägen
E-Book, Deutsch, 222 Seiten
Reihe: Dialoge
ISBN: 978-3-381-14343-6
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Monika Schwarz-Friesel ist eine international führende Expertin auf dem Gebiet Antisemitismus und Sprache. Seit 2010 hat sie den Lehrstuhl für Linguistik am Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin inne. Zu ihren Buchpublikationen gehören mehrere Standardwerke, u.a. Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert (mit Jehuda Reinharz, 2013, engl. Ausgabe 2017), Sprache und Emotion, Semantik (6. Auflage) und Judenhass im Internet. Sie ist Kuratoriumsvorsitzende der Leo-Trepp-Stiftung und Mitglied der Simon-Wiesenthal-Preis-Jury sowie des wissenschaftlichen Beirats der Antisemitism Studies (USA) und des Journal of Contemporary Antisemitism (UK).
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Wieder ist Jetzt
Einleitung und Vorwort zur zweiten Auflage
„Die Pogrome im November 38 haben, glaube ich, weniger Eindruck auf das Volk gemacht als der Abstrich der Tafel Schokolade zu Weihnachten“ (Victor Klemperer, 31.12.1939)
Dies schreibt der Romanistik-Professor und Dresdner Victor Klemperer am 31. Dezember 1939 in sein Tagebuch. In dieser zynisch-traurigen Äußerung spiegelt sich das Verlorenheitsgefühl eines stigmatisierten, zum Nicht-Deutschen herabgewürdigten, von der Gemeinschaft im Stich gelassenen Menschen, der erleben muss, wie seine Nachbarn und Kollegen, seine Bekannten und ehemaligen Freunde wenig Interesse an der Verfolgung, Erniedrigung und Ermordung der jüdischen Deutschen zeigen.
80 Jahre später fühlen sich Jüdinnen und Juden in Deutschland und weltweit wieder allein gelassen mit ihren Ängsten und Sorgen. Kollektiv re-traumatisiert durch den 7. Oktober 2023 müssen sie nicht nur die Empathielosigkeit, das Desinteresse und die Gleichgültigkeit der Mehrheitsbevölkerung ertragen, sondern zudem die ununterbrochenen Anfeindungen und Bedrohungen im Alltag – und dies ausgerechnet auch aus einem Milieu, das sich selber progressiv und moralisch überlegen gibt, das in vielen Bereichen in puncto Toleranz und Anti-Diskriminierung sozial tonangebend ist und eigentlich an erster Stelle geschichts- und verantwortungsbewusst gegen den aufgeflammten Antisemitismus sprechen sollte: Die linke Kultur-, Kunst-, und Akademikerszene versagt in weiten Teilen nicht nur mit ihrem Schweigen, sondern auch mit dem Dulden, Akzeptieren und Verteidigen explizit judenfeindlicher Bildsprache und Rhetorik. Diese Szene lebt den Salon-Antisemitismus vergangener Jahrhunderte heute als Feuilleton-Antisemitismus einer scheinbar feinsinnigen Universalethik und Menschenrechtspolitik aus und ehrt ihn damit geradezu als integralen Bestandteil unserer freiheitlichen Kultur.
Seit dem 7. Oktober 2023 hat der Antisemitismus weltweit massiv zugenommen, auf der Straße, im Netz, in den Medien, aber auch in Teilen der Politik und der Zivilbevölkerung. Für die empirische Antisemitismusforschung keine wirkliche Überraschung, warnt sie doch seit vielen Jahren, so wie auch in der ersten Auflage dieses Buches, davor, dass sich gesamtgesellschaftlich längst schon eine politisch korrekte Antisemitismus-Akzeptanz zeigt und der Mainstream der Mitte dabei besonders einflussreich wirkt. Doch die Wucht der Hasseruptionen einerseits und die Empathielosigkeit der Weltverbesserer-Klientele andererseits hat selbst uns Forscher überrascht und schockiert. Der 7. Oktober 2023 war ein Dammbruch: Die lange und mühsam aufgebauten Mauern zur Ächtung von Judenhass, ohnehin voller Risse, brachen zusammen und Fluten aufgestauter israelfeindlicher Emotionen wälzten jede Regung von Menschlichkeit nieder. Nie seit Auschwitz war Judenfeindschaft wieder dermaßen sicht- und hörbar. Und nie wurde ihr seit dem Zivilisationsbruch des Holocaust in der Zivilgesellschaft so wenig widersprochen.
Das genozidale Massaker der Hamas, das brutalste Pogrom seit Ende des Zweiten Weltkriegs, war eine Zäsur im modernen Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden, und es geschah, was nach Auschwitz unmöglich schien in einem Land, auf dessen Betreiben sechs Millionen Juden aufgrund des alten anti-judaistischen Ressentiments umgebracht worden waren. Juden verstecken sich wieder, tragen Ketten mit dem Magen David (Davidstern) oder die Kippa nicht mehr sichtbar, Studierende haben Angst, allein deutsche Universitäten zu betreten, die wird in blickdichten Umschlägen verschickt, Veranstaltungen zum Thema Judentum werden abgesagt oder unter Polizeischutz abgehalten. Stolpersteine, die an ermordete jüdische Deutsche erinnern, werden beschmiert, Synagogen mit Farbbeuteln beworfen, Räume an Universitäten mit eliminatorischen Sprüchen beschmiert und vandalisiert, Journalisten, die über antisemitische Ausschreitungen bei Demonstrationen berichten wollen, verbal und physisch attackiert und bedroht, Wissenschaftler, die aufklärende Vorträge halten wollen, bedroht und beleidigt oder die Veranstaltungen aus Feigheit der Organisatoren abgesagt.
In den Feuilletons artikulieren Vorzeigedenker judenfeindliche Sophistereien und geschichtsverfälschende Post-Kolonial-Theorien unter der Camouflage von „Wissenschafts- und Meinungsfreiheit“ oder kritisieren politische Resolutionen, die den Judenhass einzudämmen versuchen. Selbst die Erinnerungskultur Deutschlands zur Shoah, gegen Widerstände sowie Desinteresse mühevoll etabliert, wird in Frage gestellt, die Unikalität und Präzedenzlosigkeit des antisemitischen Menschheitsverbrechens angezweifelt und durch historisch falsche Kontinuitäten marginalisiert.
Die Rechtsextremisten und Fundamentalisten machen Angst und bereiten große Sorge; doch wie sehr schmerzt es, dass auch die sogenannte progressiv-liberale Mitte und die gebildete links-woke Szene sich in Täter-Opfer-Umkehrungen und Schuldzuweisungen ergeht sowie Verständnis für fanatisierte Intoleranz artikuliert.
Insbesondere viele junge Juden verlassen Deutschland oder planen, auszuwandern, weil sie maßlos enttäuscht keine Zukunft mehr sehen in einer Gesellschaft, die all dies zulässt. Die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland steht Israel kritisch bis feindselig gegenüber, weil sie das anti-israelische Narrativ, das seit Jahrzehnten medial verbreitet wird, internalisiert hat, weil sie es ungeprüft und bereitwillig glaubt. Warum? Weil dieses Narrativ exakt dem kulturell seit zweitausend Jahren verankerten Glaubenssystem des Anti-Judaismus und seinem Zerrbild von jüdischem Leben entspricht. Mit dem realen Israel hat die dämonisierende Verdammnis nichts zu tun, auch nichts mit dem Nahostkonflikt, der lediglich als Vorwand dient, den jüdischen Staat als Symbol des kollektiven Juden zu delegitimieren.
Die toxische Sprache des Judenhasses in ihren direkten und indirekten Manifestationen, gleich, ob sie vulgär gewaltaufrufend oder euphemistisch verbrämend kommuniziert wird, sie ver- und zerstört, sie macht fassungslos. Hat dieses Land, das sich seiner Erinnerungskultur mit „Wehret den Anfängen“ rühmt und die Floskelkultur des „Nie Wieder“ perfektioniert hat, schon vergessen, dass die Shoah nicht mit den Öfen, sondern mit den geistigen Verunglimpfungen und verbalen Ausgrenzungen jüdischer Deutscher anfing? Warum blenden dies ausgerechnet Akademiker aus, die für eine freie Debattenkultur und offene Diskursräume plädieren, wenn virulente Aktivisten und ihre Mitläufer an Universitäten Hassparolen mit antisemitischer Rhetorik grölen?
Antisemitismusvorwürfe werden dabei als „Überreaktionen“ entwertet, und die, die auf judenfeindliche Äußerungen und Bilder hinweisen, werden oft stärker kritisiert als die, die solche Antisemitismen produzieren.
Normalisierung und Akzeptanz judenfeindlicher Äußerungen sind weit fortgeschritten. Tatsache ist, dass die ‚Anfänge‘ längst überschritten sind. Tatsache ist, dass wir längst im ‚Wieder‘ sind.
Seit 1945 ist judenfeindliches Gedankengut nicht mehr dermaßen offen und selbstbewusst artikuliert worden. Die Rhetorik des Hasses kennt keine Grenzen und keine Begrenzung mehr, wenn sie als „Anti-Zionismus“ oder „Kritik an Israel“ deklariert wird. Neu ist nichts an diesem Antisemitismus. Es ist der alte Anti-Judaismus in modern angepasster Variante, wie in den Kapiteln dieses Buches ausführlich gezeigt wird. Das Konzept des kollektiven Juden wurde aus dem Mittelalter in unsere moderne Zeit katapultiert: Israel ist jetzt das ‚Weltenübel‘. Gestern glaubten die Menschen unerschütterlich an die Legenden von und , heute artikuliert man millionenfach den Völkermord-Vorwurf. Und niemand kann mehr angesichts der antisemitischen Ausschreitungen mit ihren eliminatorischen Parolen und Taten die Augen verschließen vor einer Tatsache: Israelhass ist Judenhass, nichts anderes.
Der Antisemitismusvorwurf jedoch bringt niemanden mehr in Gefahr, mit ernsthaften Konsequenzen rechnen zu müssen, wenn es gegen den jüdischen Staat geht. Denn so unzweideutig der Hass auch artikuliert wird, so vehement wird er zugleich geleugnet und umgedeutet. Selbst explizit und unzweifelhaft antisemitische Bilder und Äußerungen werden zur „Debattenkultur“ gezählt, Boykottaufrufe und virulente Störaktionen als „politische Kritik“ legitimiert, Judenhass-Parolen grölende Randalierer als „Demonstranten“ euphemisiert. Durch verharmlosende und beschönigende Umschreibungen wird Antisemitismus nicht nur geleugnet, sondern auch legitimiert und erhält so über die Sprache wieder Normalität im gesellschaftlichen Leben. Judenfeindschaft bewegt sich zwischen virulenter Obsession der Aktivisten und geistigen Brandstifter sowie opportuner Anpassung derjenigen, die mitmachen, dies unterstützen oder dazu schweigen. Beides ist toxisch, beides vergiftet die Gesellschaft.
Wie soll es weitergehen? Wann wachen Politik, Medien und Zivilgesellschaft auf und erkennen den kollektiven anti-judaistischen Habitus in der Mitte der Gesellschaft, der den aktuellen Antisemitismus speist? Wann werden sie effektiv handeln? Wenn der letzte Jude ausgewandert ist? Oder wird man das in Deutschland dann nicht einmal mehr bemerken?
Die Welt hat viele Probleme in der Zeit, in der ich dieses Vorwort schreibe: Die Werte...