E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Schraven / Meuser / Löer Die Mafia in Deutschland
17001. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8437-1500-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kronzeugin Maria G. packt aus
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1500-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
David Schraven leitet das Recherchezentrum correctiv.org als Publisher und inhaltlicher Geschäftsführer. Nach Stationen bei der 'Tageszeitung' und der 'Süddeutschen Zeitung' war er zunächst als freier Journalist für die 'Welt'-Gruppe im Wirtschaftsressort und im Ressort NRW tätig und ist einer der Gründer des politischen Blogs 'Ruhrbarone'. Von 2010 bis 2014 verantwortete er das Ressort 'Recherche' am Content Desk der Funke-Mediengruppe (WAZ/NRZ/WR/WP). Für seine Recherchen zum PFT-Giftskandal an der Ruhr erhielt Schraven einen Wächterpreis der Tagespresse. Für seine Arbeit zum Sozialbetrug der damaligen Staatssekretärin Zülfiye Kaykin aus Duisburg wurde er mit dem Recherchepreis der Schweizer Wolfgang-Fichtner-Stiftung ausgezeichnet. Seine grafische Reportage zum Afghanistaneinsatz der Bundeswehr 'Kriegszeiten' wurde für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Seine grafische Reportage zum Rechtsterrorismus 'Weiße Wölfe' erhielt den Deutschen Reporterpreis.
Autoren/Hrsg.
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»Früher oder später
klappt das Böse
zusammen«
Hochwürden und die ’Ndrangheta
Der Pfarrer ist ein freundlicher Mann mit schwarzem Haar, dichten Augenbrauen und einer etwas ausufernden Kinnpartie. Er wirkt zugewandt, sympathisch – wie ein Schäfer, der sich liebevoll um seine Herde kümmert, um die vielen weißen und auch um die paar schwarzen Schafe. Giuseppe Strangio, der sich »Don Pino« nennen lässt, dient seiner Kirche seit 36 Jahren in San Luca. Das Dorf liegt in Kalabrien am Fuße des Aspromonte-Gebirges. An diesem Tag Anfang September 2016 ist Pfarrer Strangio zur Wallfahrtskirche der Heiligen Jungfrau von Polsi gepilgert. Wie Zehntausende andere Gläubige will er dort, eine Autostunde von San Luca entfernt und auf 865 Meter Höhe, seinem Gott ein wenig näher kommen.
Der Wallfahrtsort Polsi und die wenigen umliegenden Gebäude können auch in diesem Jahr die Massen kaum fassen. Die Wallfahrer verstopfen die Wege und Höfe. Mit ihren blau-weißen Schals und Transparenten, auf denen die Madonna di Polsi zu sehen ist, sitzen sie auf alten Gemäuern und bekreuzigen sich. Einige blicken müde zu Boden, sie sind in der Nacht aufgebrochen und nach Stunden der Wallfahrt erschöpft. Doch in dem Moment, in dem die Figur der Heiligen Maria auf einem Podest an ihnen vorbeigetragen wird, leuchten ihre Augen. Sie drängen zu ihr, recken die Hände, wollen die Statue berühren. Die Mutter Gottes trägt eine Krone und ein rosa Kleid mit langer blauer Schleppe. Auf ihrem Schoß hält sie ein nacktes, ebenfalls bekröntes Jesuskind.
Der Pfarrer Strangio liebt die Wallfahrt, bei der sich tiefer Glaube, körperliche Verausgabung und eine partyähnliche Ausgelassenheit miteinander vermengen. Natürlich, gesteht er ein, hätten sich auch in diesem Jahr wieder einige Mafiosi unter die Pilger gemischt. Und ja, doch, auch einige Menschen aus seinem Dorf San Luca, das eines der Zentren der ’Ndrangheta ist, seien dabei.
Aus San Luca stammten auch jene Mafiosi, die im August 2007 in Duisburg vor einem italienischen Restaurant von einem anderen ’Ndrangheta-Mitglied ermordet wurden. Eines der sechs Opfer damals, der Wirt Sebastiano Strangio, hatte in seinem Lokal ein Bild der Madonna von Polsi aufgehängt.
Die ’Ndrangheta, die größte Verbrecherorganisation Italiens, hat der Madonna von Polsi immer schon die Ehre erwiesen. Vor mehr als einem Jahrhundert, im August 1901, verfasste der Tenente der königlichen Carabinieri aus Reggio Calabria, Giuseppe Passarelli, einen Bericht für die königliche Staatsanwaltschaft. Er erzählte darin auch von einem Treffen der Verbrecher der Picciotteria, jener Organisation, aus der die ’Ndrangheta hervorging: »Man tritt der Vereinigung jedes Jahr am 2. September bei, am Tag des Festes der Madonna von Polsi, neben der Wallfahrtskirche, dort, wo sich die wichtigsten Bosse der kriminellen Vereinigungen der gesamten Provinz und der benachbarten Provinzen treffen.«
Fast hundert Jahre später, im Januar 1993, erzählte der Kronzeuge Filippo Barreca Staatsanwälten von der Wallfahrt in die Berge. Was er beschrieb, war eine Art Klausurtagung der Spitzen der inzwischen mächtigen Mafiaorganisation ’Ndrangheta: »Jedes Jahr trifft sich der sogenannte Crimine bei der Wallfahrtskirche der Madonna von Polsi. Er besteht aus den Vertretern aller Locali der Provinz Reggio Calabria. Ich muss allerdings sagen, dass auch in Mailand, Turin und sogar in Rom Locali bestehen, deren Vertreter eingeladen werden. Im Gipfeltreffen bei der Madonna von Polsi spricht man über die kriminellen Aktivitäten, man löst eventuelle Streitereien und entscheidet über die Strafen für jene Mitglieder, die sich schuldig gemacht haben.«
Die Mafia und die Madonna – man kann wohl von einer Langzeitbeziehung sprechen. Doch so schlimm sei das alles gar nicht mehr, sagt Pfarrer Giuseppe Strangio im Gespräch gut gelaunt und ergriffen von der Religiosität des Ortes.
Wie schlimm es war, zeigen versteckte Aufnahmen italienischer Ermittler aus Polsi. Etliche Führungskader der ’Ndrangheta pilgerten am 1. September 2009 zur Wallfahrtskirche in die Berge. Rund fünfzehn von ihnen bildeten auf dem Kirchplatz einen Kreis unter der Madonnenstatue. Sie waren zusammengekommen, um den ’Ndranghetista Domenico Oppedisano als Capo Crimine anzuerkennen, als höchste Führungskraft der Organisation. Die verdeckten Videoaufnahmen entstanden im Rahmen der Operation »Crimine«, bei der am Ende mehr als dreihundert Mafiosi auf der ganzen Welt festgenommen wurden. »Das Treffen beim Fest der Madonna von Polsi ist einer der wichtigsten Momente für die Vereinigung, denn zu dieser Gelegenheit werden die führenden Funktionen der ’Ndrangheta vergeben«, schrieb die Staatsanwaltschaft Reggio Calabria.
Die Mönche der Klosterkirche spielen dabei, so schilderte es der Kronzeuge Filippo Barreca schon 1993, eine »wichtige Rolle«. Die Logik der Klosterführung sei »immer die gleiche gewesen: Man ist Komplize der mafiösen Clans, die sich in Polsi treffen. Ich will auch sagen, dass die Wahl von Polsi nie zufällig war, sondern gebunden an die Interessen und die Verwicklungen zwischen den Mönchen und den Kriminellen.«
2013 machte der Bischof von Polsi von sich reden. Bevor er in die Großstadt wechselte und das Erzbistum in Reggio Calabria übernahm, setzte Hochwürden Giuseppe Fiorini Morosini sich bei einer Predigt noch einmal mit dem Image des Wallfahrtsortes auseinander. Der Bischof wollte offenbar noch einmal etwas klarstellen.
»In all den vergangenen Jahren war das Fest des 2. September in Polsi die Gelegenheit, um von der Verbindung Polsi-’Ndrangheta zu sprechen«, hob er an und fuhr dann wortmächtig fort: »Historische Ereignisse des letzten Jahrhunderts haben diese Wallfahrtskirche mit dem traurigen Phänomen der organisierten Kriminalität in Verbindung gebracht. Unglücklicherweise wird die Madonna di Polsi als Madonna der ’Ndrangheta bezeichnet. Viele Menschen, die die Zärtlichkeit des wahren Glaubens nicht in sich tragen, stricken aus dieser traurigen Tatsache absurde Luftschlösser von der Mitwisserschaft der Kirche über die organisierte Kriminalität. Doch unser Glaube, unser Gebet, unsere Hoffnung bringen uns dazu zu glauben, dass ausgerechnet von hier das Siegeszeichen über die organisierte Kriminalität ausgehen wird. Es wird aber kein Sieg des Gerechtigkeitsfanatismus, wie die dominante Kultur es gerne hätte, sondern ein Sieg im Sinne der Bekehrung, der Aussöhnung und der Vergebung.«
Worte wie Gerechtigkeitsfanatismus zeigen die kritische Einstellung des Bischofs zur Arbeit der Strafverfolger. Bischof Giuseppe Fiorini Morosini will das Imageproblem ’Ndrangheta anders lösen. Er setzt auf eine Ermahnung der Mafiosi und formulierte das in seiner Abschiedspredigt so: »Ich wage an jene zu appellieren, die mit einer Veränderung ihres Herzens das Unkraut besiegen können. (…) Menschen werden Mitglieder von kriminellen Vereinigungen, weil sie das Leben ohne große Anstrengungen genießen wollen. Das stimmt für die Bosse, aber nicht so ganz für die Hilfsarbeiter, die arm bleiben. Deswegen gibt es Drogenhandel, Schmiergelder, Wucherei unter Verwandten, Erpressungen, Morde und Glücksspiele. Allerdings ist das nur eine Illusion. Man kann mit dem Bösen ein ökonomisches Imperium aufbauen, aber früher oder später klappt es zusammen.«
Recht guten Mutes zeigt sich der Bischof, wenn er die Wirtschaftskraft der ’Ndrangheta, die seit vielen Jahren wächst, irgendwann einfach schwinden sieht. Der Pfarrer Giuseppe Strangio spielt die Bedeutung der kalabrischen Mafia im Gespräch sogar schon in der Gegenwart herunter. Sicherlich sei da auf Seiten der Mafia eine falsch verstandene Religiosität zu beobachten, sagt er. Trotz ihrer Sünden und ohne wirklich zu bereuen, fühle sich die Organisation der katholischen Kirche nahe. »Es ist richtig, wir haben wegen der Fehden einzelner Clans, die sich ja auch in Duisburg abgespielt haben, sehr gelitten.«
Dass die Madonna von Polsi aber zur Madonna der ’Ndrangheta mutiert sei, weist der Mann der Kirche entschlossen von sich. Er hält stattdessen eine hoffnungsfrohe Botschaft bereit, ausgerechnet aus der Region um das ’Ndrangheta-Zentrum San Luca. »Dort«, sagt Giuseppe Strangio, »erleben wir gerade eine Erneuerung.«
Was er damit meint, erklärt er nicht genauer. Vielleicht die Ermittlungen, die den Pfarrer selbst betreffen und von ihm mit keinem Wort erwähnt werden? Seit Mai 2016 untersuchen die Strafverfolger nämlich auch seine Verbindungen zur ’Ndrangheta.
Die Operation trägt den Namen »Fata Morgana«, sieben Personen wurden im Rahmen der Ermittlungen bereits verhaftet, zwölf Unternehmen durchsucht. Die Behörden ermitteln auch gegen den Präsidenten der Provinz Reggio Calabria, den Präsidenten des Fußballvereins Reggina Calcio und sogar gegen einen anderen Staatsanwalt. Sie interessiert sich auch für die Verbindungen zwischen der ’Ndrangheta und den Freimaurern. Über ein Netz von Beziehungen zu Menschen in hervorgehobenen Positionen konnte die ’Ndrangheta unternehmerische Aktivitäten in Reggio Calabria kontrollieren.
Die Staatsanwaltschaft Reggio Calabria beschreibt dabei auch ein Treffen zwischen Pfarrer Don Giuseppe Strangio und zwei Rechtsanwälten, die anschließend verhaftet wurden: Die Gründe der Reise dieser beiden Anwälte nach Polsi seien »nicht religiöser Natur« gewesen. »In einigen abgehörten Gesprächen bei dem Circolo Posidonia diskutierten der Anwalt Antonio Marra und der Pfarrer Strangio über die Orte, an denen sich die ’Ndrangheta [in Polsi] traf. Orte, die dem Pfarrer wohlbekannt waren. Man muss auch bedenken, dass der...