Buch, Deutsch, 304 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 216 mm, Gewicht: 376 g
Urbanes Leben jenseits der Metropole
Buch, Deutsch, 304 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 216 mm, Gewicht: 376 g
ISBN: 978-3-593-39105-2
Verlag: Campus Verlag GmbH
Mit Beiträgen von Andrew S. Bergerson, Ueli Gyr, Daniel Habit, Rolf Lindner, Clemens Zimmermann u. a.
Autoren/Hrsg.
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Inhalt
Perspektiven der Stadtforschung
Urbanes Leben in der Mittelstadt: Kulturwissenschaftliche Annäherungen an ein interdisziplinäres Forschungsfeld
Brigitta Schmidt-Lauber
"Maß und Mitte" - Middletown Revisited
Rolf Lindner
Konstruktionen der Mittelstadt
Mittelstadt als Ideologie
Das Beispiel der Münsteraner Altstadt im Wiederaufbau (1945-1960)
Marcus Termeer
Bürgerinitiative contra Stadtplanung: Der rekonstruktive Wiederaufbau der Aschaffenburger Löwenapotheke seit 1984
Georg Wagner-Kyora
Planungsstrategien zur Gestaltung mittelstädtischer Lebensräume
Holger Leimbrock
Inszenierungen von Stadtbildern
Zum kulturellen Gedächtnis deutscher Universitätsstädte
Marita Metz-Becker
Inszenierung einer Mittelstadt - Dessau um 1900
Marcus Stippak
Mittelstädte, EU-Strukturpolitik und der Zwang zur Inszenierung
Daniel Habit
Strukturwandel der Lebenswelten
Mittelstadt und Metropolregion
Norbert Fischer
Mittelstadt als Stadt dazwischen
Ina Dietzsch / Dominik Scholl
Mittelstädte im demographischen Wandel - Herausforderungen für die strategische Stadtentwicklung
Sabine Baumgart / Andrea Rüdiger
Alltag in der Mittelstadt
Hausbesetzungen in Hilden 1980-1982
Protest im Kontext lokaler Ambitionen und Realität
Sebastian Haumann
Kulturelle Vielfalt als Ausdruck von Urbanität?
Migranten in Friedrichshafen
Gertraud Koch
Politische Praxen von sozialen Randgruppen in Spatown und Milltown
Gesa Kather
Raum und Zeit in der deutschen Mittelstadt
Andrew Stuart Bergerson
Viel Vergnügen! Das "großstädtische" Unterhaltungsangebot in der Mittelstadt Freiburg im Breisgau in den 1920er Jahren
Nicola Benz
Forschungsperspektiven - Interdisziplinäre Statements einer Podiumsdiskussion
Neue Prozessmuster in Schweizer Mittelstädten
Ueli Gyr
Die Mittelstadt - Normalfall oder Idealbild der Stadtentwicklung?
Clemens Zimmermann
Anmerkungen aus Sicht der kulturhistorischen Stadt-Land-Forschung
Franz-Werner Kersting
Ausblick
Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Mittelstadtforschung
Brigitta Schmidt-Lauber / Anne Wessner
Autorinnen und Autoren
Bestimmungen der Mittelstadt
Bislang wird der Begriff "Mittelstadt" vor allem quantitativ gefasst und als solcher vielfach in der deutschen Gemeindestatistik genutzt. Ausgangspunkt hierfür bietet bemerkenswerter Weise noch immer die Internationale Statistikkonferenz von 1887, nach der Städte mit einer Einwohnerzahl von 20.000 bis 100.000 als "Mittelstädte" und Städte, die eine Bevölkerung von über 100.000 Einwohnern aufweisen, als "Großstädte" gelten (Brockhaus 2006: 588; vgl. Adam 2005b: 496, 509). Bis heute folgt die amtliche Statistik in Deutschland diesen Definitionen. In Anbetracht der gravierenden gesellschaftlichen Transformationsprozesse, die seit Ende des 19. Jahrhunderts stattgefunden und zu erheblichen Veränderungen des Alltagslebens geführt haben, überzeugt eine solche Festschreibung längst nicht mehr und wird nun schon seit 50 Jahren kritisiert. Inzwischen wird deshalb in der deutschen Stadtforschung vermehrt auch eine andere Bemessungsgrundlage genutzt, die in der Raumforschung verankert ist (Kühn 1969: 11) und auf kritischen Diskussionen der veralteten quantitativen Zuordnung basiert (vgl. Kunzmann 2004). Demnach wird der Stadttyp Mittelstadt mit einer Bewohnerzahl von 50.000 bis 250.000 beziffert, was den gesellschaftlichen Verhältnissen der Spätmoderne in der Tat angemessener erscheint (Adam 2005b: 496). Allerdings mehren sich die Stimmen derer, die eine einheitliche Definition von Städtetypen nach statistischen Größenklassen an sich für wenig dienlich halten, da es bundes- und weltweit gravierende Unterschiede zwischen Städten einer Größenordnung gibt, sowohl was ihre Funktionen als auch was ihre Struktur und ihre Rolle im Siedlungsnetz betrifft (Hannemann 2002: 268-270; Flacke 2004: 27; Adam 2005b: 495f.; Brunet 1997: 13; Lamarre 1997: 41; zur Vielfalt der Klein- und Mittelstädte vgl. Kunzmann 2004).
Kategoriale Einordnungen von Städten allein aufgrund ihrer statistischen Größe bleiben also in vielerlei Hinsicht ungenau und vor allem wenig aussagekräftig. So sagt die Zahl der Einwohner nicht automatisch etwas über die gesellschaftliche, kulturelle und politische Bedeutung einer Stadt aus und auch nichts über das Lebensgefühl am Ort (siehe auch Löw u.a. 2007: 11). Zahlen allein beantworten die Frage nach der spezifischen Form von Urbanität, nach den Erfahrungsgehalten und dominanten Alltagswelten nicht; konkret auf das Tagungsthema bezogen sagen sie nichts über die Kennzeichen mittelstädtischen Lebens.
Gewöhnliche Lebensrealitäten und Routinen bilden den genuinen Untersuchungsgegenstand der Alltagskulturwissenschaft Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie. Die ethnologisch-kulturwissenschaftliche Stadtforschung eruiert die Selbstverständlichkeiten, Erfahrungsgehalte und Alltagspraktiken urbanen Lebens speziell aus Sicht der Akteure, sie widmet sich dem städtischen Lebensgefühl und spezifischen urbanen Mentalitäten (zum Beispiel Korff 1985) und sie erkundet den Habitus sowie die Eigenlogik einzelner Städte (Lindner 2008: 141; Lindner 2003; Lindner/Moser 2006; Musner 2009). Das Fach kann damit einen Beitrag zur Erfassung der lebensweltlichen Kennzeichnung der Kategorie "Mittelstadt" und der ihr eigenen Lebensformen leisten, wie sie für die Kategorie "Großstadt" längst erfolgt ist.
Europäische Ethnologinnen und Ethnologen erforschen alltägliches Leben gerade auch vor der eigenen Haustür, und genau dies haben wir vor kurzem in Göttingen praktiziert. In einem zweisemestrigen Studienprojekt haben Studierende des Instituts für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie unter der Leitung von Astrid Baerwolf und mir das eigene Lebensumfeld zum Untersuchungsgegenstand erhoben und Göttingen als Mittelstadt erkundet (Schmidt-Lauber/Baerwolf 2009). Wir wollten auf diesem Weg erste Antworten auf die Frage nach den Kennzeichen eines spezifisch mittelstädtischen Urbanitätstypus finden. Einige Ergebnisse, die dem Begriff Mittelstadt plastische Konturen geben, sollen hier gestreift werden.
Als analytisch aufschlussreich erwies sich immer wieder der Vergleich mit Groß- und Kleinstädten, besonders in Hinblick auf zentrale Urbanitätsmerkmale. So zeichnen sich Mittelstädte wie Göttingen im Unterschied zur Großstadt unverkennbar durch ein geringeres Maß an jener Heterogenität und Dichte aus, die bereits Louis Wirth (1938) als konstitutiv für die Großstadt benannt hat: Die Position des "Dazwischen" ist grundlegend für die Mittelstadt. Wesentliche Anhaltspunkte zur Kennzeichnung einer spezifisch mittelstädtischen Lebensrealität bietet in dieser Hinsicht die Auslotung des Begriffspaares "öffentlich-privat", das in der Stadtforschung von anhaltender Bedeutung ist. Auch wenn in jüngster Zeit diesbezüglich Verschiebungen und eine Verringerung der Kontraste konstatiert wurden, haben die Pole Öffentlichkeit und Privatheit bezogen auf den Unterschied zwischen Groß- und Mittelstadt noch immer eine starke Aussagekraft: Verglichen mit Großstädten lässt sich in der Mittelstadt ein weitaus höheres Maß an Überschaubarkeit, direkter Kommunikation und Verbindlichkeit feststellen und entsprechend eine geringere Öffentlichkeit und Anonymität. Anschaulich verdeutlicht Sebastian Haumann dies am Beispiel von Hausbesetzungen in Hilden und den dabei konstitutiven kurzen sozialen Wegen: Die Protestierenden waren den Beamten in den Behörden als Einzelpersonen bekannt und wurden weniger als Akteursgruppen wahrgenommen, Eltern sprachen direkt beim Bürgermeister vor. Die Auseinandersetzungen um die lokalen Hausbesetzungen verweisen damit auf ein wichtiges Kennzeichen der Mittelstadt. Sie sind nicht als Import und Kopie der großstädtischen Hausbesetzerszene zu deuten, sondern waren spezifisch mittelstädtisch geprägt (vgl. Haumann in diesem Band).