E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Schmidt-Lauber / Baumgart / Benz Mittelstadt
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-593-40848-4
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Urbanes Leben jenseits der Metropole
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-593-40848-4
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Viele Menschen in Europa leben in Städten, die weder Groß- noch Kleinstadt sind – in so genannten Mittelstädten. Was kennzeichnet dieses städtische Leben zwischen Provinz und Metropole? Die Autorinnen und Autoren erkunden Alltagswelten, suchen nach mittelstädtischen Lebensstilen und Lebensgefühlen und analysieren die Inszenierung von mittelstädtischen Stadtbildern. Erstmals tragen Vertreterinnen und Vertreter der Kultur- und Sozialwissenschaften, der Geschichtswissenschaft sowie der Stadt- und Raumplanung ihre Forschungen zusammen und bieten neue Perspektiven auf diesen bislang wenig untersuchten Typus Stadt. Mit Beiträgen von Andrew S. Bergerson, Ueli Gyr, Daniel Habit, Rolf Lindner, Clemens Zimmermann u. a.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;6
2;Perspektiven der Stadtforschung;10
2.1;Urbanes Leben in der Mittelstadt: Kulturwissenschaftliche Annäherungen an ein interdisziplinäres Forschungsfeld – Brigitta Schmidt-Lauber;12
2.2;»Maß und Mitte« – Middletown Revisited – Rolf Lindner;38
3;Konstruktionen der Mittelstadt;52
3.1;Mittelstadt als Ideologie: Das Beispiel der Münsteraner Altstadt im Wiederaufbau (1945–1960) – Marcus Termeer;54
3.2;Bürgerinitiative contra Stadtplanung: Der rekonstruktive Wiederaufbau der Aschaffenburger Löwenapotheke seit 1984 – Georg Wagner-Kyora;72
3.3;Planungsstrategien zur Gestaltung mittelstädtischer Lebensräume – Holger Leimbrock;90
4;Inszenierungen von Stadtbildern;104
4.1;Zum kulturellen Gedächtnis deutscher Universitätsstädte – Marita Metz-Becker;106
4.2;Inszenierung einer Mittelstadt – Dessau um 1900 – Marcus Stippak;122
4.3;Mittelstädte, EU-Strukturpolitik und der Zwang zur Inszenierung – Daniel Habit;140
5;Strukturwandel der Lebenswelten;156
5.1;Mittelstadt und Metropolregion – Norbert Fischer;158
5.2;Mittelstadt als Stadt dazwischen – Ina Dietzsch und Dominik Scholl;174
5.3;Mittelstädte im demographischen Wandel – Herausforderungen für die strategische Stadtentwicklung – Sabine Baumgart und Andrea Rüdiger;190
6;Alltag in der Mittelstadt;206
6.1;Hausbesetzungen in Hilden 1980–1982: Protest im Kontext lokaler Ambitionen und Realität – Sebastian Haumann;208
6.2;Kulturelle Vielfalt als Ausdruck von Urbanität? Migranten in Friedrichshafen – Gertraud Koch;224
6.3;Politische Praxen von sozialen Randgruppen in Spatown und Milltown – Gesa Kather;236
6.4;Raum und Zeit in der deutschen Mittelstadt – Andrew Stuart Bergerson;246
6.5;Viel Vergnügen! Das »großstädtische «Unterhaltungsangebot in der Mittelstadt Freiburg im Breisgau in den 1920er Jahren – Nicola Benz;262
7;Forschungsperspektiven – Interdisziplinäre Statements einer Podiumsdiskussion;274
7.1;Neue Prozessmuster in Schweizer Mittelstädten – Ueli Gyr;276
7.2;Die Mittelstadt – Normalfall oder Idealbild der Stadtentwicklung? – Clemens Zimmermann;280
7.3;Anmerkungen aus Sicht der kulturhistorischen Stadt-Land-Forschung – Franz-Werner Kersting;288
8;Ausblick;292
8.1;Bilanz und Perspektiven interdisziplinärer Mittelstadtforschung – Brigitta Schmidt-Lauber /Anne Wessner;294
9;Autorinnen und Autoren;300
Hausbesetzungen in Hilden 1980-1982: Protest im Kontext lokaler Ambitionen und Realität (S. 207-208)
Sebastian Haumann
Legt man die statistischen Informationen des Bundeskriminalamtes zu Hausbesetzungen der Jahre 1980 bis 1982 zu Grunde, müsste man diese Welle des Protests als mittelstädtisches Phänomen charakterisieren. Die Anzahl von Besetzungen in Orten, die weder Groß- noch Universitätsstädte sind, war auffällig hoch. Als Beispiel kann die Stadt Hilden dienen, in der es zwischen 1980 und 1982 zu sechs Hausbesetzungen kam. Die Ereignisse in Hilden, mit seinen rund 50.000 Einwohnern zwischen Düsseldorf und Solingen, zeigen, dass Mittelstädte nicht bloß "Schauplatz" von Protest waren, sondern dass ein spezifisch mittelstädtischer Kontext für die Auseinandersetzungen kennzeichnend war.
Ein erster Blick richtet sich auf das Selbstverständnis der Kommune. Die Hildener Lokalpolitik und eine Mehrheit der öffentlichkeit suchte die Abgrenzung zu den umliegenden Großstädten, wehrte sich aber auch gegen die Marginalisierung als "Schlafstadt". Die Versuche, suburbane Beschaulichkeit mit städtischem Flair zu verbinden, mündeten in eine Stadtentwicklung, die selbstbewusst konzipiert war, inhaltlich aber auf Hildens Platz in der Region basierte. Die Aktionen der Hausbesetzer müssen vor dem Hintergrund dieser Komposition aus großen Visionen und vorstädtischer Enge gesehen werden.
Ein zweiter Schritt, der die sozialen Netzwerke der Beteiligten in den Mittelpunkt rückt, eröffnet Perspektiven auf die Dynamik der Auseinandersetzungen. Auffällig, und abweichend vom großstädtischen Kontext, ist die relativ starke Vernetzung zwischen den Konfliktparteien. Hausbesetzer und Ratspolitiker waren sich persönlich bekannt und gingen aufeinander - wenn auch zum Teil äußerst rabiat - ein. Auch die Strategie, sich gegenseitig in abstrakten Kategorien zu diffamieren, etwa als "Krawallmacher" oder "Spekulanten", ging unter diesen Bedingungen nicht auf. Die relative soziale Enge der Mittelstadt war, als Sozialkontrolle wahrgenommen, ein wesentlicher Kritikpunkt der jugendlichen Besetzer, wirkte aber auch eskalationshemmend.
Die Hausbesetzerbewegung: Hilden als "Schauplatz"?
Als beginnend mit einigen aufsehenerregenden Zwischenfällen in West- Berlin im Spätherbst 1980 eine Welle von Hausbesetzungen über die Bundesrepublik rollte, machte sich das Bundeskriminalamt daran, das Ausmaß der illegalen Protestpraxis abzuschätzen. Mit einer im April 1981 zuerst vorgelegten und im August fortgeschriebenen Erhebung für den internen Gebrauch sollte unter anderem der Verdacht erhärtet werden, dass es sich bei den Hausbesetzungen um eine zentral organisierte, zumindest aber eng vernetzte Bewegung handelte. Man ging davon aus, dass die Bewegung ihren Schwerpunkt in den Groß- und Universitätsstädten hatte, wo sich auch die Basis zahlreicher als verfassungsfeindlich eingestufter Organisationen der radikalen Linken befand (Willems 1997: 267-271).
Während West-Berlin mit 159 registrierten Besetzungen tatsächlich eine gewisse Sonderrolle innehatte, verwundert umso mehr, wie viele Städte geringerer Größe in der Liste des Bundeskriminalamts auftauchen. In der Kategorie der Städte mit einer Bevölkerung zwischen 50.000 und 100.000 Einwohnern betraf dies ohne Berücksichtigung der Universitätsstädte so unterschiedliche Orte wie Celle, Dorsten, Emden, Gütersloh, Hanau, Herne, Ingolstadt, Lüneburg, Offenburg, Rüsselsheim, Sindelfingen, Viersen oder Wetzlar, um nur einige zu nennen - und eben Hilden mit drei Besetzungen in diesem Zeitraum.1 Im Folgenden wird versucht, auszuloten, inwieweit es sich bei den in Hilden registrierten Besetzungsaktionen um ein eigenständiges mittelstädtisches Phänomen handelte. Daraus können Rückschlüsse auf lokale Spezifika gezogen werden, die möglicherweise auch für andere Mittelstädte - und mithin für die auffallend flächendeckende Verbreitung von Hausbesetzungen - Erklärungspotenzial bieten."