E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Sappok / Zepperitz Das Alter der Gefühle
2., überarbeitete Auflage 2019
ISBN: 978-3-456-75955-5
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-456-75955-5
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Geistige Behinderung ist kein rein kognitives Problem, auch die (sozio-)emotionale Entwicklung kann beeinträchtigt sein und verzögert oder unvollständig ablaufen. Dadurch entstehen unter Umständen schwere Verhaltensauffälligkeiten und in der Folge psychische Störungen. Dies kann zu weitreichenden Konsequenzen wie vermeidbaren Krankenhausaufenthalten, hohen psychopharmakologischen Behandlungen, Arbeits- und Wohnplatzverlust bis hin zur Exklusion aus der Gesellschaft führen. Unter Einbezug des emotionalen Entwicklungsaspekts ermöglichen Tanja Sappok und Sabine Zepperitz einen neuen, ganzheitlichen Blick auf Menschen mit geistiger Behinderung. Verhaltensauffälligkeiten können vor diesem Hintergrund besser verstanden und zielgerichtete pädagogisch-therapeutische Maßnahmen eingeleitet werden. Die Autorinnen tragen mit „Das Alter der Gefühle“ dazu bei, die psychische Gesundheit und Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung substanziell zu verbessern, indem sie allen im Gesundheitswesen und in der Eingliederungshilfe Tätigen ein wirksames Hilfsmittel zur Hand geben, um die damit verbundenen Herausforderungen zu meistern. Das Buch wurde für die zweite Auflage grundlegend überarbeitet – es wurde unter anderem an das neue Diagnostikinstrument SEED angepasst, das Zusammenspiel von emotionaler Entwicklung und psychischer Erkrankung wird neu thematisiert und das Entwicklungsmodell um die Phase der 2. Individuation bzw. der Adoleszenz erweitert.
Zielgruppe
Medizinisches, pädagogisches, therapeutisches sowie pflegerisches Fachpersonal in der Behandlung und Begleitung von erwachsenen Menschen mit Intelligenzminderung im stationären oder ambulanten Setting.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Pflege Psychiatrische Pflege
- Sozialwissenschaften Pädagogik Teildisziplinen der Pädagogik Sonderpädagogik, Heilpädagogik
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Pflege Fachpflege
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Arbeit/Sozialpädagogik Soziale Arbeit/Sozialpädagogik: Kranken-, Alten- und Behindertenhilfe
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Kognitionspsychologie Emotion, Motivation, Handlung
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Pflege Krankenpflege
Weitere Infos & Material
Abbildung 4: Die Neuroanatomie des emotionalen Gehirns: Funktionen der verschiedenen Ebenen des limbischen Systems (Pfeile links) und Entstehungszeit (rechts). Beachte: Die Funktionen der unteren und mittleren limbischen Ebene laufen unbewusst ab.
Die untere limbische Ebene besteht aus dem Zwischenhirn (Hypothalamus, vegetative Hirnstammzentren, periventrikuläres Höhlengrau) und der zentralen Amygdala. Diese Strukturen entwickeln sich überwiegend schon vor der Geburt. Hier werden vegetative und basale Überlebensfunktionen wie Essen, Sexualtrieb und Fluchtreaktionen gesteuert. Auch das Stressregulationssystem und autonome Körperfunktionen wie Schwitzen oder die Herzfrequenz sind hier lokalisiert. Die in diesem Teil des limbischen Systems lokalisierten Prozesse laufen überwiegend unbewusst ab und sind genetisch bzw. epigenetisch determiniert. Basale Hirnfunktionen der Neugeborenenphase werden in diesen Hirnstukturen reguliert. Die hier beschriebenen Funktionen des emotionalen Gehirns sind nur minimal durch Erziehung oder Lebensereignisse beeinflussbar.
In der sogenannten mittleren limbischen Ebene (mesolimbisches System) werden Emotionen im Rahmen frühkindlicher Bindungserfahrungen konditioniert, d. h. der Heranwachsende lernt im interaktiven Kontakt mit den nächsten Bezugspersonen eigene, aber auch fremde Gefühle wahrzunehmen, zu differenzieren und zu verstehen (Kernberg, 2012). Basale emotionale Funktionen wie Angst, Trauer, Ekel, Freude und Wut werden hier determiniert. Dieser Teil des limbischen Systems besteht überwiegend aus subkortikalen Hirnregionen wie der basolateralen Amygdala, dem ventralen Tegmentum und dem Nucleus accumbens bzw. ventralen Striatum. Diese Hirnstrukturen bilden sich pränatal bzw. während der ersten Lebensmonate und -jahre heraus. Hier sind die Regelkreise für die nonverbale Kommunikation lokalisiert, d. h. emotional-kommunikative Signale werden erkannt und verarbeitet. Darüber hinaus gehört das innere Belohnungssystem (endogene Opioide; Dopamin) als Basis für die Verhaltensmotivation dazu. Diese Hirnfunktionen laufen überwiegend unbewusst ab. Die Meilensteine der emotionalen Entwicklung, die beim Säugling bzw. Kleinkind zu beobachten sind, werden insbesondere in diesen Hirnregionen reguliert.
Die obere limbische Ebene ist im assoziativen Neokortex lokalisiert, und zwar v. a. im orbitofrontalen, ventromedial präfrontalen, anterior zingulären und insulären Kortex. Hier findet die bewusste Gefühlswahrnehmung und soziale Motivation statt. Fähigkeiten wie Impulskontrolle, Belohnungsaufschub, Frustrationstoleranz, Empathie und Abwägen der Konsequenzen des eigenen Handelns werden in diesem Bereich gesteuert. Dadurch können Risiken realistisch eingeschätzt und das Handeln bewusst gesteuert werden. Auch moralisches Denken ist hier verankert. Diese beschriebenen Kompetenzen bilden sich im Kontakt mit dem weiteren sozialen Umfeld aus, also Freunden, Schulkameraden, weiteren Familienangehörigen etc. Umgebungsfaktoren und die sensorische Wahrnehmung der Umgebung beeinflussen die emotionale Reaktivität und die zur Verfügung stehenden Emotionsregulationsstrategien (Aldao und Nolen-Hoeksema, 2012). Die verschiedenen vegetativen, sensorischen, motorischen und kognitiven Funktionen haben im Zusammenspiel mit Umgebungsfaktoren einen Einfluss auf die Entwicklung des sogenannten emotionalen Gehirns und damit auf instinktive Überlebensreaktionen und Temperament, die Emotionsregulation und -steuerung sowie die soziale Angepasstheit einer Person. Das obere limbische System bildet sich in der späteren Kindheit und der Adoleszenz heraus.
Zusammenfassend bilden verschiedene Hirnstrukturen und deren Verknüpfungen die architektonischen Bestandteile des sogenannten „emotionalen Gehirns“. Dies bildet die neuroanatomische Grundlage für beobachtbare soziale und emotionale Fähigkeiten, die biologisch eng mit kognitiven Kompetenzen verknüpft sind (Damasio, 2012; Pessoa, 2014; vgl. Abbildung 5). Der Stand der emotionalen Entwicklung ist abhängig von diversen inneren und äußeren Aspekten wie z. B. genetischen Faktoren, erworbenen Hirnschädigungen, aber auch Lern- und sozialen Interaktionsprozessen, kognitiven, sensorischen und motorischen Fähigkeiten sowie Umwelt- und psychischen Belastungsfaktoren. Wenn auch verzögert und möglicherweise unvollständig, so durchlaufen Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung grundsätzlich die gleichen Entwicklungsstadien wie Menschen ohne Behinderungen (Cicchetti & Ganiban, 1990; Greenspan, 1997; Hodapp & Zigler, 1995; Martínez-Castilla et al., 2015; Webster, 1963).
Abbildung 5: Zusammenhang von neuroanatomischer Entwicklung des Gehirns, den damit verbundenen neuropsychologischen Regelkreisen und der Mentalisierungsfähigkeit (vgl. dazu auch Abbildung 9).
Die dargestellten neuroanatomischen Kenntnisse zur Hirnentwicklung setzen wissenschaftliche Methoden wie z. B. funktionelle Bildgebung voraus, die erst seit den letzten Jahrzehnten verfügbar sind. Die ersten entwicklungspsychologischen Untersuchungen und Erkenntnisse waren daher zunächst verhaltensbasiert durchgeführt worden (Nelson et al., 2002). Im folgenden Abschnitt werden die von bekannten Entwicklungstheoretikern beschriebenen Aspekte der kindlichen Entwicklung zusammengefasst.
Auf den Punkt gebracht:
Das emotionale Gehirn entwickelt sich vorgeburtlich und in den ersten Lebensjahren nach der Geburt.
Störungen der Hirnentwicklung z. B. infolge eines genetischen Defekts oder einer Hirnverletzung können auch die Ausreifung des emotionalen Gehirns beeinträchtigen.
Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung durchlaufen die gleichen Entwicklungsphasen wie Menschen ohne Behinderung, allerdings läuft die Entwicklung verzögert oder unvollständig ab.
1.5 Entwicklungstheorien und Entwicklungsaufgaben
Freud (1990) beschreibt das Phasenmodell der psychosexuellen Entwicklung vom 1. bis zum 12. Lebensjahr:
1. Lebensjahr: orale Phase
2. Lebensjahr: narzisstische Phase
2. bis 3. Lebensjahr: anale Phase
3. bis 5. Lebensjahr: phallische Phase
6. bis 7. Lebensjahr: Latenzphase
7. bis 12. Lebensjahr: genitale Phase.
Erikson (1959) zeigt in seinem „epigenetischen Diagramm“ ein Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung in Anlehnung an das Phasenmodell von Freud auf:
Säuglingsalter: orale Phase/Urvertrauen
Kleinkindalter: Autonomie
bis 5. Lebensjahr: Spielen/Initiative
Schulalter: Werksinn
Adoleszenz: Identität.
Das Entwicklungsmodell von Margaret Mahler (Mahler, Pine & Bergman, 1975) benennt wichtige Meilensteine der sozialen Interaktionsfähigkeit:
1. Monat: autistische Phase
2. bis 6. Monat: symbiotische Phase
6. bis 36. Monat: Separation-Individuation, emotionale Objektkonstanz.
In seinem 1969 erschienenen Werk leitet Bowlby (1969) aus einer Analyse der Mutter-Kind-Beziehung die Bindungstheorie ab:
0.–3. Monat: Homöostase
3.–6. Monat: soziale Interaktion
6.–15. Monat: Bindung
15.–35. Monat: Lösung.
Piaget (1954) beschreibt wesentliche kognitive Entwicklungsstufen:
0 bis 2 Jahre: sensomotorische Phase
bis 11 Jahre: konkrete Operationen
ab 11 Jahren: formale Operationen.
Stern (Stern et al., 2010) hat auf Grundlage intensiver Säuglingsbeobachtung ein Schichtenmodell zur „progressiven Entwicklung von Selbstempfindungen, sozio-affektiven Fähigkeiten und Formen des Zusammenseins mit anderen“ entwickelt:
bereits vor der Geburt angelegt: auftauchendes Selbst & Kernselbst
ab 9 Monaten: intersubjektives Selbst
ab 18 Monaten: verbales Selbst
ab 3 Jahren: narratives Selbst.
Aufbauend auf diesem überwiegend theoriegeleiteten oder auf Einzelfallbeobachtungen beruhenden, historischen Fundament werden im folgenden Abschnitt verschiedene durch empirische Daten unterstützte Entwicklungsaufgaben näher beschrieben.
Auf den Punkt gebracht:
Emotionale Funktionen werden im „emotionalen Gehirn“ verarbeitet, das in verschiedenen Teilen des limbischen Systems lokalisiert ist.
Die verschiedenen Ebenen des limbischen Systems entwickeln sich im Laufe des Heranwachsens, d. h. teilweise schon vorgeburtlich (untere Ebene) bis zur Adoleszenz (obere limbische Ebene).
Das emotionale Gehirn funktioniert zu einem großen Teil unbewusst.
1.5.1 Emotionale Referenzierung
von Thomas Bergmann
Der Mensch ist bestrebt, angenehme Gefühlszustände herbeizuführen oder zu steigern sowie unangenehme Empfindungen zu beseitigen oder zu vermeiden. Ziel und Entwicklungsaufgabe ist dabei, das Ausmaß der Erregung in einem individuell als angenehm empfundenen Bereich halten zu können. Diese Prozesse werden als Affektregulation bezeichnet, wobei es sich um verschiedene Strategien handelt, emotionale Zustände zu modellieren. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation basiert auf der Erfahrung der Regulation durch einen anderen. Affekt wird hier als Oberbegriff verwendet, der die „Großwetterlage“ der Gefühle erfasst. In diesem interaktiven Prozess...