E-Book, Deutsch, 273 Seiten
Ringmann / Siegmüller Handbuch Spracherwerb und Sprachentwicklungsstörungen
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-437-16937-3
Verlag: Elsevier Health Science
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jugend- und Erwachsenenalter
E-Book, Deutsch, 273 Seiten
ISBN: 978-3-437-16937-3
Verlag: Elsevier Health Science
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein neuer Band zu Sprachentwicklungsstörungen Das Handbuch schlägt die Brücke zwischen Forschung und Praxis. Es gibt einen einen gut lesbaren Überblick über klassische Forschungsergebnisse und den aktuellen Stand zu Schwerpunkten des Spracherwerbs bzw. Sprachentwicklungsstörungen im Jugend- und Erwachsenenalter. Alle Bände folgen einer einheitlichen inhaltlichen Struktur: Ungestörter Spracherwerb: Darstellung des Spracherwerbs für die Altersgruppe und Einordnung bzgl. Grundannahmen und theoretischer AnsätzeGestörter Spracherwerb: Vorstellung altersgruppenbezogener Symptomatiken von Sprachentwicklungsstörungen, aufbauend auf dem ungestörten ErwerbFall- und Therapiebeschreibungen: Darstellung von Therapieansätzen samt Evidenzbasierung und/oder FallbeschreibungenBesondere Themen der Alterspanne In der Reihe sind bereits erschienen: Schuleingangsphase (ISBN 978-3-437-44422-7), Kindergartenphase (ISBN 978-3-437-44526-2), Mehrsprachigkeit (ISBN 978-3-437-44506-4) Im Juni 2015 erscheint Kleinkindphase (ISBBN 978-3-437-44516-3)
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Kapitel 1 Sprachverarbeitung
Tanja Hüttner 1.1. Einleitung
Die Verarbeitung von Sprache ist ein sehr komplexer und extrem schnell ablaufender kognitiver Vorgang, zu dem ausschließlich der Mensch in der Lage ist (Herrmann & Fiebach 2004). Sprache wird automatisch und unbewusst im Gehirn verarbeitet. Um Sprache verstehen und produzieren zu können, braucht das Sprachverarbeitungssystem gespeicherte linguistische Einheiten wie Phoneme, Grapheme, Morpheme und Wörter. Zusätzlich zu den linguistischen Einheiten braucht das System Regeln, nach denen es diese Einheiten kombinieren kann. Als Regeln werden hier nicht nur syntaktische und morphologische Regeln bezeichnet, sondern alle Regeln, die sich auf die Kombination linguistischer Einheiten beziehen. Zu den Regeln gehört also auch die phonologische Regel der Phonemabfolge für den Silbenvorspann im Deutschen, die eine kr-Abfolge am Silbenanfang erlaubt, eine rk-Abfolge aber verbietet. Sowohl die Regeln als auch die linguistischen Einheiten müssen zunächst für die jeweilige Sprache erworben und gespeichert werden, um dem Sprachverarbeitungssystem als Information zur Verfügung zu stehen. Die Verarbeitung von Sprache erfolgt in zwei Richtungen: • Bei der Sprachproduktion wird ein Gedanke mithilfe von Wörtern und Regeln in einen Satz umgewandelt. Dieser kann dann in geschriebener oder gesprochener Form produziert werden. • Beim Sprachverstehen1 wird ein akustisches oder visuelles Signal wahrgenommen, d. h. Sprache wird gehört oder gelesen. Dieser Input wird mit den im Gehirn gespeicherten Phonemen oder Graphemen verglichen. Mithilfe von Wörtern und Regeln kann dann die Satzbedeutung entschlüsselt und ein Gedanke generiert werden. Je nach Input und Output der Verarbeitung ergeben sich die vier Modalitäten Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben. Wie schnell die Verarbeitung von Sprache stattfindet, verdeutlicht die sprachliche Äußerung in Abb. 1.1. Das Sonagramm zeigt, wie die klangliche Umsetzung einer Äußerung auf das Ohr eines Zuhörers treffen würde. Die Äußerung Mimi schenkt Titus einen Apfel, obwohl er noch klein ist besteht aus einem Haupt- und einem Nebensatz. Die beiden Sätze bestehen insgesamt aus 10 Wörtern, 12 Morphemen, 15 Silben und 40 Phonemen. Für die Produktion der Äußerung braucht der Sprecher nur 2,8 Sekunden, d. h. er produziert durchschnittlich alle 0,3 Sekunden ein Wort. Da wir Sprache inkrementell, also praktisch online, verarbeiten, braucht ein Zuhörer auch eine ähnlich kurze Zeit, um diese Äußerung zu verstehen (Marslen-Wilson 1973, 1975, ).
Abb. 1.1 Sonagramm der Äußerung „Mimi schenkt Titus einen Apfel, obwohl er noch klein ist“ [M780] In dieser kurzen Zeit müssen viele spezifische Teilprozesse im Sprachverarbeitungssystem aktiviert werden. Zunächst müssen die Wörter aus dem Lexikon auswählt werden. Dann muss das System jedem Wort eine grammatische Funktion und eine morphologische Markierung zuweisen, und es muss die Satzstrukturen für die jeweiligen Sätze festlegen. All dies geschieht in nur 3 Sekunden. Die Präzision und die Geschwindigkeit, mit der Menschen Sprache verarbeiten, lässt eine modulare Verarbeitung vermuten (Fodor 1983). Kognitive Module haben die Eigenschaft, nur eine spezifische Art von Informationen (z. B. nur Sprache) verarbeiten zu können. Die Verarbeitung verläuft zwangsläufig und automatisch. Man nimmt an, dass das Sprachmodul aus weiteren spezifischen Verarbeitungsmodulen besteht (Caplan 1992), die jeweils nur auf die im Modul selbst gespeicherten Informationen zugreifen. In einem phonologischen Verarbeitungsmodul sind also die Phoneme einer Sprache gespeichert, und es ist ausschließlich dazu in der Lage, die am Ohr eintreffenden Schallwellen den entsprechenden Phonemen zuzuordnen. Dabei hat die Bedeutung der Phoneme im Wort keinen Einfluss auf die Verarbeitung. Für die Modularitätsannahme spricht ebenfalls, dass Sprache im Gehirn lokalisierbar ist. Bei den meisten Menschen befinden sich die für die Sprachverarbeitung relevanten Hirnregionen in der linken Hemisphäre in der sog. Perisylvischen Region (Abb. 1.2). Grob lässt sich diese Region in zwei Zentren aufteilen:
Abb. 1.2 Die Lokalisation von Sprache im Gehirn [E798] • Das Wernicke-Zentrum liegt am hinteren Ende der Lateralfurche (Sylvische Furche) und ist vorrangig für das Sprachverständnis zuständig. • Das Broca-Zentrum liegt am unteren Ende der Zentralfurche und ist vorrangig für die Sprachproduktion zuständig. 1.2. Sprachproduktion
Bei der Sprachproduktion wird ein Gedanke mithilfe von Wörtern und Regeln in Sprache umgesetzt. Hierbei ist der Output des Sprachverarbeitungsmoduls der motorische Plan für die phonologischen Lautketten beim Sprechen. Wie bereits beschrieben, sind die Anforderungen an das Verarbeitungsmodul sehr hoch. Deshalb kommt es auch bei sprachgesunden Menschen relativ häufig zu Versprechern. Die Analyse von Versprechern lässt interessante Rückschlüsse auf die Verarbeitungseinheiten und die Teilprozesse bei der Produktion von Sprache zu. Diese Tatsache hat zu einem eigenen wissenschaftlichen Forschungszweig geführt, der Versprecherforschung2. Versprecher werden im folgenden Abschnitt noch genauer betrachtet. Basierend auf der Analyse von Versprecherdaten wurden auch Modelle zur Sprachproduktion entwickelt. Als besonders einflussreich haben sich dabei die Modelle von Willem Levelt und Merill Garrett erwiesen. Das von M. F. Garrett in den 1980er-Jahren in den USA entwickelte Modell dient bis heute als Modell für Untersuchungen der Sprachproduktion (Dietrich 2002). Das Modell von Levelt (1989, 1999; Inderfey & Levelt 2000) ist eine detailliertere Fortführung des Modells von Garrett. In ? Abschnitt 1.2.2 wird der Prozess der Sprachproduktion daher in Anlehnung an diese Modelle beschrieben. Sprachproduktion umfasst die Auswahl von Wörtern, den Aufbau einer syntaktischen Struktur, die morphologische Markierung der Äußerung und das Bilden einer phonologischen Lautkette. 1.2.1. Versprecher
Versprecher geben uns Aufschluss über zwei Aspekte der Sprachproduktion, zum einen über die Größe der Einheiten, die verarbeitet werden, und zum anderen über die Art und Abfolge der Verarbeitungsprozesse. In Tabelle 1.1 werden zunächst die verschiedenen Verarbeitungseinheiten genannt, die durch Versprecher bei der Sprachproduktion betroffen sein können. Auch wenn sich die aufgeführten Beispiele relativ eindeutig bestimmten linguistischen Einheiten zuordnen lassen, ist die Klassifikation von Versprechern oft nicht einfach. Bei einem Versprecher wie be-animieren statt re-animieren ist z. B. keine eindeutige Zuordnung möglich. Es könnte sich gleichermaßen um die Ersetzung eines Phonems /b/, eines Morphems be- oder einer Silbe be handeln. Trotzdem belegen die aufgeführten Versprecher, dass es bei der Sprachproduktion Verarbeitungsprozesse gibt, für die verschiedene linguistische Einheiten relevant sind.3 Tab. 1.1 Versprecher und linguistische Einheiten Versprecher betroffene linguistische Einheit Ich hätte gern eine Schugel Koko Phonem
Das Phonem /k/ wurde mit dem Phonem /?/ vertauscht Hast Du dir die Fingernägel geschminkt.
Das kannst du im Iran nachlesen Wort
Das Wort lackieren wurde durch das semantisch ähnliche Wort schminken ersetzt.
Das Wort Koran wurde durch das phonologisch ähnliche Wort Iran ersetzt. (Malapropismus3) Da machen die Kinde und das Hund das gleiche Gesicht. Morphem
Das Morphem Kind wurde mit dem Morphem Hund vertauscht. Die morphologischen Markierungen von die- Hund-e und das Kind bleiben an der korrekten Stelle bestehen. Koscholade Silbe
Die Silben scho und ko wurde vertauscht. Der kleine Hund schenkt der Oma einen Knochen. Phrasen
Die Subjekt-Nominalphrase die Oma wird mit der Objekt-Nominalphrase dem kleinen Hund vertauscht. Ich gebe nicht locker Sätze
Die Sätze Ich lasse nicht locker und Ich gebe nicht auf wurden vermischt. Wenn man Versprecherdaten betrachtet, fällt auf, dass nicht alle potenziell möglichen Versprecher auftreten. Das liegt daran, dass Versprecher Beschränkungen, sog. Constraints, unterliegen. Ein Versprecher wie Nauzaub statt Bauzaun wäre theoretisch möglich und auch aussprechbar. Er kann aber nicht auftreten, da der Laut /b/ als Anlaut der Silbe bau spezifiziert ist und der Laut /n/ als Auslaut der Silbe zaun. Die Sprachproduktion unterliegt aber der Beschränkung, dass zwei Laute nur vertauscht werden können, wenn sie für dieselbe Position in der...