Reinker | Brehm 46 | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 286 Seiten

Reinker Brehm 46

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-95602-091-9
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 286 Seiten

ISBN: 978-3-95602-091-9
Verlag: CONTE-VERLAG
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



»Als ich endlich in meinem Bett lag, ging es mir nicht gut. Bis ich Tom spielen hörte. Ich ging in die Küche und setzte mich lautlos zwischen die Klänge.«

Ein altes Mietshaus an einer stark befahrenen Straße im Norden Düsseldorfs. Elf verkrachte Existenzen jeden Alters, die unter einem Dach in verschiedenen Welten leben und von hier aus ihrer Wege ziehen. Eine alte schrullige Dame ist das Herzstück dieses Hauses. Sie lebt seit sechzig Jahren hier und hat alles im Griff. Bis ihr alles entgleitet.
Eine junge und schwangere Kunststudentin, ein achtzehnjähriger schwuler Moslem und sein heterosexueller Freund, eine einsame Linke mit ihrer Tochter, eine alte Schachtel und deren Schwester, ein Knutschpärchen und eine Schauspielerin, die ihren Lebensunterhalt als Porno-Synchronsprecherin verdient.
Die Geschichten begegnen sich im Treppenhaus. Abwegig, verrückt, schrecklich und komisch. Also alles ganz normal.

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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Prolog
5. OG, Nadja
4. OG, Enis c/o Paul
3. OG, Rote Ute
2. OG., Frau Althaus
1. OG, Manu und Matthes
Erdgeschoss, Claudia Havelmann
Epilog


4. OG, Enis c/o Paul Auf der Matte steht ein kleiner alter Mann in einem viel zu großen Anzug. In seiner linken Hand hält er ein Buch, die andere streckt er mir entgegen. Auf dem Kopf trägt er eine Art selbstgehäkeltes Käppchen, das aussieht wie ein Eierwärmer. Darunter quellen seine dunkelgrauen Haare hervor. Er hat eindeutig Migrationshintergrund, denke ich und warte darauf, dass er etwas sagt. Er scheint auf dasselbe zu warten und so schweigen wir uns ungefähr eine Minute lang an. Die Hand streckt er mir immer noch entgegen. Eigentlich schüttele ich keine Hände von Menschen, die ich nicht kenne. Aber ich will mal nicht so sein und greife zu. Das ist bestimmt so ein Sektenhorst, der mich von wem auch immer überzeugen will, darauf hab ich keinen Bock. »Entschuldigen Sie die Störung. Yusuf Deniz mein Name. Sie sind …?«, sagt er schließlich. »Was möchten Sie?«, frage ich gegen. »Man hat mir gesagt, Sie wären ein Freund von Enis Erdal. Seine Eltern sind in der türkischen Moschee­gemeinde. Ich bin dort Imam. Herr und Frau Erdal sind sehr besorgt um ihren Sohn. Sie sagten, er wäre hier bei Ihnen.« Er reckt sein faltiges Kinn ein bisschen vor und schaut an mir vorbei in die Wohnung, soweit das Auge reicht. Das ist nicht weit, die Diele ist nur zwei Quadratmeter groß, die Zimmertüren sind alle zu. Jetzt fixieren seine dunklen Augen wieder mich. Ich muss etwas sagen. Ich weiß genau, dass Enis niemanden sprechen will. Auch nicht diesen Islamhäuptling. Ich weiß nicht genau, was ein Imam ist, wahrscheinlich so was Ähnliches wie ein Pfarrer. Enis hat mir gesagt, dass niemand weiß, dass er bei mir ist. Und dass sie auch nicht auf mich kommen werden, weil wir schon so lange keinen Kontakt mehr hatten. Da hat er sich eindeutig geirrt. Enis’ Brüder waren auch schon hier, das war gestern. Ich will keinen Ärger. Ich weiß, dass es Ärger geben wird, wenn Enis länger hier bleibt. Mit seiner Familie ist nicht zu spaßen. »Tut mir leid, Herr … äh … Enis ist nicht hier. Ich sehe ihn nur in der Schule, aber er war schon länger nicht mehr da. Ich dachte, er wäre krank. Soll ich ihm was ausrichten, wenn ich ihn sehe?«, frage ich scheinheilig und werde rot. Voll uncool. Im Lügen war ich immer scheiße. »Ja, bitte. Sagen Sie ihm, Yusuf Deniz möchte ihn sprechen. Er kennt mich. Von der Merkez Camani Moscheegemeinde.« »Warten Sie, das schreib ich mir auf«, sage ich und hole Zettel und Stift aus der Küche. Hoffentlich bleibt Enis in seinem Zimmer. »Also Yusuf Deniz, wie man’s spricht? Und Merguez Cama… Merguez wie diese Würstchen?«, frage ich. Der kleine Mann ist beleidigt. »Wollen Sie sich lustig machen? Nicht wie die Würstchen! Merkez!« Er greift nach dem Zettel, klemmt ihn auf sein Buch und schreibt mit wütenden Buchstaben Merkez auf den Zettel. »Auf Wiedersehen«, sagt er mit Nachdruck und ich denke, dass das nicht unbedingt sein muss. Er geht und meine neue Nachbarin kommt die Treppe herunter. Sie ist hübsch, allerdings ein bisschen dick, aber nur um die Hüften. Ich glaube, sie hat einen Freund. Außerdem ist sie zu alt für mich. Ich bin achtzehn und sie ist bestimmt schon Mitte zwanzig. Aber sie ist hübsch, wie gesagt. »Hi«, sagt sie und huscht vorbei. Ich antworte mit einem heiseren Grunzen. Einer Art sprachlichem Auswurf. Dabei hatte mein Sprachzentrum eigentlich ein besonders cooles »Hi« ausgearbeitet. Sie dreht sich auf der Treppe noch einmal um und lächelt. Oder sie lächelt mich aus, was weiß ich. Ich mag sie. Mit dem Zettel in der Hand gehe ich rüber zu meinem freien Zimmer, das Enis besetzt hat. Eigentlich suche ich für das Zimmer einen Mitbewohner, der Kohle dafür abdrückt. Enis hat keine Kohle. Ich hätte anklopfen sollen. Enis liegt auf der Matratze. Seine Hose ist heruntergelassen. Er hält seinen Schwanz in beiden Händen. Er scheint nicht zu wichsen. Er betrachtet ihn einfach. »He, Paul. Meinst du, man kann mir eine neue Vorhaut annähen?«, fragt er und wirft mir einen flüchtigen Blick zu, die Stirn in fragende Falten gelegt. Dann vertieft er sich wieder in seinen Schwanz. »Hä? Wieso? Wie soll das denn gehen?«, frage ich und in mir drinnen bauen sich noch weitere Fragen auf. Zum Beispiel, ob Enis jetzt völlig austillt. Wieso hab ich mir das bloß angetan? Wahrscheinlich, weil meine Eltern, Jutta und Bernd, alte Sozis sind. Sozialfuzzis, alle beide. Übriggebliebene 68er, die mir immer eingetrichtert haben, dass eine Gesellschaft nur mit gegenseitiger Hilfe und Unterstützung der Schwachen funktioniert. Ich kann nicht nein sagen. Enis wusste das noch von früher. Wir waren mal Kumpels. Das ist lange her. Mindestens acht Jahre. »Wieso soll das nicht gehen? Die Leute lassen sich doch alles Mögliche abschneiden oder annähen. Ich will meine volle Männlichkeit zurück, Alter. Ich bin gar nicht gefragt worden, die haben mir einfach mit vier Jahren die Vorhaut abgeschnitten, so ratzfatz, ab. Ich hatte voll die Schmerzen und dachte, mein Schwanz wäre fast ab, Mann. War ja auch nicht mehr viel davon zu sehen. Und die haben noch ein großes Fest gefeiert und ihre Teppiche ausgerollt! Ich scheiß auf Koran, Mann, ich will meine Vorhaut zurück!« Bei seinem letzten Satz deutet er wütend auf seinen Schwanz, der mittlerweile vor lauter Aufregung halbsteif ist. Ich betrachte verlegen das Getümmel um seine Matratze herum, um nicht hinsehen zu müssen. Die ganze Situation ist krank. »Aber so ist das halt bei euch Moslems. Steht das nicht auch in der Shakira?«, frage ich hilflos und betrachte den Müll, der um die Matratze herumliegt wie eine Art Schutzwall. Leere Bierdosen, etliche leere Zigarettenschachteln, Würstchengläser und Mac-Pappen. »Das heißt nicht Shakira, du Pfosten, das heißt Scharia! Und die können mich beide!« Enis zündet sich eine Kippe an. Er hat das noch nicht drauf, mit dem Rauchen. Er zündet die Zigarette falschherum an und bekommt eine Art Würghusten. Ich gehe zum Fenster und reiße es auf. »Da war eben ein Mann für dich. Er heißt …«, ich schaue auf den Knödel in meiner Hand. Den Zettel, den ich in den letzten beiden Minuten ungefähr fünfzehnmal gefaltet habe. Ich fummele ihn auseinander. »Yusuf Deniz«, lese ich vor. »Der wollte dich dringend sprechen. Ich hab gesagt, du bist nicht hier.« »Ja, gut so. Der soll doch beten gehen, Mann, aber ohne mich. Wenn der noch mal kommt, sag ihm …« »Wenn der noch mal kommt oder deine Brüder, Cousins oder sonst irgendwelche verfilzten Bärte, sag ich gar nichts mehr! Dann machst du die Tür auf und klärst das mit denen, klar? Ich hab keinen Bock auf Ärger!« Es ist einer der seltenen Momente, in denen ich sauer werde. Ich bin so erzogen worden »auch verbal keine Grenzen zu verletzen«, wie Jutta und Bernd das nennen. Aber so langsam ist der Arsch mal ab. »Das geht nicht, Mann, hab ich dir doch erklärt! Die sind voll drauf, haben keinen Check! Ich lass mich nicht von denen zwingen. Aber noch mal zu dem hier …«, Enis deutet auf seine männliche Ausstattung. »Kannst du nicht mit mir zu so einem Urologen gehen und fragen, ob man das reparieren kann?« »Spinnst du? Bin ich deine Mama oder was? Ruf doch mal bei einem an, vielleicht reicht dir auch das Gelächter von der Sprechstundenhilfe! Alter, ab ist ab, würd ich mal sagen. Und die Schwuletten stehen doch drauf!« Jetzt ist der Arsch echt ab. Ich verlasse dieses Zimmer und trolle mich in mein Zimmer. Das ist immerhin das größere von beiden. Ich werfe eine Metallica-CD ein, fast volle Lautstärke. Dann schmeiße ich mich auf mein ungemachtes Bett. Die Alte aus der zweiten Etage wird sich gleich wieder beschweren, aber das ist mir egal. Meine Bettwäsche riecht scheiße. Ich weiß nicht mehr, wann ich die zuletzt gewechselt habe. Das Alleinwohnen hat auch Nachteile. War auch nicht meine Idee. Ich dachte, ich bleib mal zu Hause, bis ich die Schule fertig habe. Aber Jutta und Bernd wollten knapp nach meinem achtzehnten Geburtstag, dass ich ausziehe. Das war vor einem halben Jahr. »Du, wir finden, dass du jetzt echt soweit bist, dein Leben so ein Stückweit selbst in die Hand zu nehmen. Wir sind ja auch nicht nur deine Eltern, wir wollen jetzt auch mal wieder unsere Beziehung leben, das ist ganz wichtig. Wir suchen dir ein nettes WG-Zimmer in der Nähe und an den Wochenenden kannst du ja ab und zu bei uns schlafen. Natürlich sind wir weiter für dich da, wenn was ist.« Sie taxierten mich mit einem milden, aber entschiedenen Lächeln. Sie waren sich schon lange einig. »Aber ich bin noch nicht mit der Schule fertig! Ich mache nächstes Jahr Abi«, gab ich zu bedenken. »Ja, da wirst du ordentlich reinhauen müssen. Aber schließlich wiederholst du jetzt die elfte Klasse, da kannst du Einiges aufholen. Du, wir sind ja auch bereit, dir zu helfen. Aber du musst jetzt mal ein bisschen lernen, Verantwortung zu übernehmen und auf eigenen Füßen zu stehen.« »Wie soll man auf eigenen Füßen stehen, wenn einem bis vor kurzem noch so ziemlich der Arsch nachgetragen wurde? Bin ich mit achtzehn plötzlich reif und falle vom Stamm, oder was?«, fragte ich. »Gut, dass du es ansprichst. Wir haben das wirklich viel zu lange gemacht. Da haben wir unser Erziehungsziel nicht erreicht, das stimmt«, sagte Bernd und...


Ulrike Reinker, geboren 1965 in Düsseldorf, machte nach dem Abitur an der Berliner Lette Schule (Schule für Fotografie, Grafik und Mode) eine Ausbildung zur Fotografin. Sie arbeitete als Fotojournalistin für zahlreiche Zeitschriften und Unternehmen. Seit 2011 führte sie an verschiedenen Schulen Kunstprojekte mit Jugendlichen durch, und ist Dozentin für Fotokunst. Vor einige Jahren entdeckte sie das Schreiben für sich. Ulrike Reinker lebt ihren drei Kindern in Düsseldorf.



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