E-Book, Deutsch, 296 Seiten
Rehn Heider gottsleider
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7526-2111-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kleinstadtleben unter dem Hakenkreuz: Eine Biographie
E-Book, Deutsch, 296 Seiten
ISBN: 978-3-7526-2111-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Das Buch ist mehr als eine Lebens- und Leidensgeschichte: Eingeflochten in die Biographie des Kindes und Jugendlichen bietet die Autorin tiefe Einblicke in das Kleinstadtleben während der NS-Zeit. Zahlreiche Exkurse machen das Werk zu dem, was es ist, ein hochinteressantes Lesebuch über die NS-Zeit am Beispiel der Kleinstadt Heide." Prof. Uwe Danker, Europa-Universität Flensburg
Marie-Elisabeth Rehn, Jahrgang 1951 und gebürtige Heiderin, fühlt sich seit vierzig Jahren in Konstanz zu Hause. Zusammen mit ihrem Vater Erwin Rehn entstand Die Stillschweigs. Von Ostrowo über Berlin und Peine nach Heide in Holstein bis zum Ende in Riga, Theresienstadt und Auschwitz. Eine jüdische Familiensaga 1862-1944. Konstanz 1998. Ebenfalls in Konstanz entstanden Juden in Friedrichstadt. Die Vorstandsprotokolle einer Israelitischen Gemeinde im Herzogtum Schleswig 1802-1860. Konstanz 2001. Hugo Schriesheimer. Ein jüdisches Leben von Konstanz durch das KZ Dachau, das französische Internierungslager Gurs, das Schweizer Asyl und die USA nach Kreuzlingen 1908-1989. Konstanz 2011.
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Vorwort der Verfasserin
»Heider gottsleider!« ist ein Spottruf, der in den Gemeinden Norderdithmarschens den Bewohnern der Kreisstadt Heide gilt und der vom derben, buchstäblich schlagfertigen Witz der Dithmarscher zeugt: Beschimpfungsformeln dieser Art bildeten in der »guten alten Zeit« stets den Auftakt zu Prügeleien, mit denen ländliche Tanzveranstaltungen regelmäßig endeten. In diesem Buch geht es nur zu oft um die Bereitschaft zur Gewalt, um die Ausgrenzung anderer Menschen und um Unduldsamkeit. Der Ausruf »Heider gottsleider« ist im Zusammenhang mit der Lebensgeschichte des Heiders Erwin Rehn, von dem dieses Buch erzählt, als Stoßseufzer zu verstehen. Der 16jährige Schüler wurde 1943 von der Gestapo verhaftet und verbrachte mehr als zwei Jahre im Konzentrationslager. Die Erfahrungen der Haft habe das Leben Erwin Rehns bis heute geprägt. Ein unauslöschliches Zeichen jener Zeit zeugt noch immer vom hilflosen Aufbegehren des Jugendlichen: Wenn es im Sommer warm ist und Erwin Rehn die Ärmel hochkrempelt, fällt auf seinem linken Arm eine Tätowierung auf: eine Krone über dem W. Entstanden ist die Tätowierung in einer Herbstnacht des Jahres 1943. Erwin Rehn hatte gerade in Erfahrung gebracht, daß seine Zeit als Häftling im sogenannten »Jugendschutzlager« Moringen nicht so schnell zuende sein würde. Trotzig wollte er jetzt seinen Peinigern zeigen, daß seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus nicht aus ihm herauszuprügeln sein würde. Ein österreichischer Mithäftling hatte sich bereit erklärt, die schmerzhafte Prozedur heimlich vorzunehmen. Der 16jährige Schüler hatte mit »Ausländern konspiriert«, wie ihm die Gestapo vorwarf. Und wirklich hatte sich der Junge während der Kriegsjahre in seiner Heimatstadt Heide mit holländischen Zwangsarbeitern angefreundet und war immer tiefer in ein Milieu geraten, das dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstand. Die Krone über dem W, das Zeichen der königstreuen Niederländer, gehörte zu den vielen heimlichen Symbolen des Widerstandes, von denen das bekannteste das Siegeszeichen der zwei hochgereckten Finger war. Das Emblem hatte den Jungen schon fasziniert, als er noch auf freiem Fuß war. Es ist in einem kleinen Taschenkalender zu finden, den der Schüler in den Monaten vor seiner Verhaftung benutzt hatte und der heute noch existiert. Vordergründig ranken sich also rund um diese Tätowierung hilflos pompöse Gesten und Motive. Darum ist Erwin Rehn mit Recht stets wortkarg, wenn Neugierige ihn um eine rasche Erklärung bitten. Schnell ist nicht zu erklären, wie der Junge zum von der Gestapo ernstgenommenen Gegner wurde. Wie wurde der Junge zu einer Ausnahme inmitten einer Schar durch die Nazi-Willkür eingeschüchterter Bürger, die unauffällig ihren täglichen Verrichtungen nachgingen? Wie äußerte sich der Naziterror in dieser Kleinstadt? Wurde er überhaupt als Terror empfunden? Hat der Sechzehnjährige etwa aus dem Chor der Jasager die leisen Stimmen der Kritik herausgehört und mit dem bedenkenlosen Mut des Jugendlichen laut artikuliert? Und weiter: Was kennzeichnete die Repräsentanten lokaler Macht und Würde? Ist anhand dieser Merkmale ein Unrechtsregime zu erkennen? Woher stammt der Mut, sich gegen ein solches Regime zur Wehr zu setzen? Diese Fragen münden in die für Demokraten stets aktuelle Frage, ob ein mündiger Bürger immer auch ein dem Staat gegenüber loyaler Bürger sein muß. In der Hoffnung auf Antworten habe ich mich daran gemacht, das Leben Erwin Rehns, der mein Vater ist, und den Alltag in der Stadt, in der er aufgewachsen ist, aufzuzeichnen. Ich habe keine Patentrezepte gefunden für die Grauzone, in der irgendwo das Prinzip des zivilen Ungehorsams wichtig wird. Die Jugendjahre meines Vaters sind genau wie der Alltag in der Stadt Heide während des Dritten Reiches nur in der Aneinanderreihung von Ereignissen zu erzählen. Über Motive, seien sie nun persönlicher oder gesellschaftlicher Natur, über Schlüsselmomente, die bestimmte Entwicklungen einleiten, ist kaum etwas in Erfahrung zu bringen. Alle Deutungsversuche beruhen auf dürftigen Quellen. Eine Geschichte der Stadt Heide während des Nationalsozialismus ist fast so schwer zu schreiben wie die Geschichte eines Indianerstammes im südamerikanischen Urwald. Schriftlich Fixiertes ist aus jener Zeit kaum zu finden, zumindest was wirksame lokalpolitische Entscheidungen betrifft. Und was nicht beim Herannahen des Feindes gegen Kriegsende vernichtet wurde, lagert heute in Archiven, in denen Datenschutzbestimmungen zum Schutz der einstigen Entscheidungsträger ausgelegt werden. Die erhaltenen Akten, die eingesehen werden durften, und die Zeitungen jener Jahre lassen nur eine Beschreibung des Heider Kleinstadtalltags im Dritten Reich zu, die kaum irgendwo in die Tiefe geht. Möglich ist nur die Aneinanderreihung von Schlagzeilen und Ereignissen in ihrer zeitlichen Abfolge. In den Lebenserinnerungen von Zeitzeugen haben nachdenkliche Auseinandersetzungen mit der eigenen Haltung zum Dritten Reich kaum einen Platz. Die Rückblicke auf den Alltag sind von ganz anderen Erzählmotiven geprägt. Schwere Arbeit, Hunger und der Tod naher Verwandter an der Front: Die Nöte der letzten Kriegsjahre sind sofort präsent, werden aber selten kritisch als Folge der Politik Hitlers dargestellt. Selbst politisch engagierte Zeitgenossen, ganz gleich ob sie dem linken oder dem rechten Parteienspektrum angehörten, können sich heute nicht mehr an die Thesen erinnern, für die sie damals Kopf und Kragen riskierten. Der braune Alltag als Summe rechtschaffener Bemühungen um ein geregeltes Leben in einer schweren Zeit, so wenigstens möchten es die meisten, die jene Jahre miterlebt haben, dargestellt wissen. Zum Teil stimmt dieses Bild sogar, wenn man – in Abwandlung der Redewendung – nicht sehen will, was man nicht sehen darf. Dithmarschen ist während der Nazizeit nie Schauplatz spektakulärer Greueltaten geworden. Es gab im Landkreis kein Konzentrationslager. Aber Opfer und Täter gab es, das kann keiner leugnen. Die Opfer landeten stets jenseits der Kreisgrenzen hinter Gittern und Stacheldraht, viele sogar jenseits der Grenzen der nördlichen Provinz. Auch die Täter machten auswärts Karriere. Der Wesselburener Max Pauly wurde Kommandant des Konzentrationslagers Neuengamme. Für Schlagzeilen sorgte nach dem Krieg auch Johann Frahm aus Kleve im sogenannten Curiohaus-Prozeß Hamburg, weil er an der an Grausamkeit kaum zu überbietenden Ermordung von 20 jüdischen Kindern beteiligt war. Fast jeder, der unter den alteingessenen Dithmarschern den Namen Frahm trägt, ist mehr oder weniger eng mit diesem Mann verwandt. Der Massenmord an den Juden Europas war in Heide nie ein Thema. Jahrzehntelang war man in Heide sicher, daß die Familie des Juden Stillschweig, der ein bekannter und beliebter Bürger der Stadt war, nicht den Gang in die Gaskammern antreten mußte. Man mutmaßte, daß die Kinder Dagobert, Frieda, Martha und Gertrude nach Amerika entkommen konnten. Wenn das heute bekundete Interesse an der Familie wirklich groß gewesen wäre, dann hätte man den Kontakt zu einer der Töchter leicht aufrechterhalten können. Gertrude Stillschweig lebte bis zu ihrer Deportation nach Theresienstadt jahrelang in Hamburg. Die Endstation für sie und ihre Geschwister war Auschwitz. Hunderte ausländischer Zwangsarbeiter prägten während der Kriegsjahre das Bild der Stadt. An sie erinnert heute keine einzige Firmenchronik, obwohl mancher Betrieb ohne die Russen, Polen oder Franzosen seine Produktion hätte einstellen müssen. Von den Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen weiß kaum ein Heider zu berichten, obwohl die meisten ihrer Toten stets quer durch die Stadt zu einem Massengrab gekarrt wurden. Und der Bauer, der 1941 seinen polnischen Knecht anzeigte, weil er eine Beziehung zu seiner Nichte begonnen hatte, hat seinen Enkeln nie davon erzählt, daß der junge Pole aufgrund seiner Anzeige gehängt wurde. Dithmarschen war eine jener Hochburgen, in denen die Nationalsozialisten schon früh große Erfolge verbuchen konnten. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil man im agrarisch geprägten Landkreis, in dem auch die Städter stolz auf die Tradition der einstigen freien Bauernrepublik Dithmarschen zurückblickten, den Problemen, die in Begleitung der zunehmenden Industrialisierung auftauchten wie Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen, hilflos gegenüberstand. Die Rückbesinnung auf die Werte einer bäuerlichen Gesellschaft in Verbindung mit der unausgegorenen Bewunderung für die Errungenschaften der modernen Technik, wie sie der nationalsozialistischen Weltanschauung zu eigen war, muß den Menschen in dieser Region auf den Leib geschneidert gewesen sein. Der allenthalben zur Schau gestellte Militarismus, die Uniformen, die Aufmärsche und Paraden, selbst die blutigen Zusammenstöße der »Kampfjahre«, stießen kaum auf offene Ablehnung. Angehörige der Nachkriegsgeneration werden auf alten Photos sozialdemokratische Reichsbannerangehörige kaum von SA-Männern unterscheiden können. Die Werte der Kaiserzeit,...