Reeg | Zwischen Nähe und Distanz | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 15, 175 Seiten

Reihe: Beiträge zur Interkulturellen Germanistik

Reeg Zwischen Nähe und Distanz

Einsichten in die Auseinandersetzung mehrsprachiger Autorinnen und Autoren mit ihrem literarischen Schreibprozess
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8233-0390-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Einsichten in die Auseinandersetzung mehrsprachiger Autorinnen und Autoren mit ihrem literarischen Schreibprozess

E-Book, Deutsch, Band 15, 175 Seiten

Reihe: Beiträge zur Interkulturellen Germanistik

ISBN: 978-3-8233-0390-9
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Band beschäftigt sich mit den Selbstäußerungen mehrsprachiger Autorinnen und Autoren unterschiedlicher kultureller Herkunft, die seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum schreiben und publizieren. Im Zentrum stehen autobiographische Essays, Poetikvorlesungen sowie Gesprächsaufzeichnungen, in denen sie ihr Verhältnis zu den jeweiligen Herkunftssprachen reflektieren, sich intensiv mit dem Deutschen als fremder Literatursprache auseinandersetzen und ihr Selbstverständnis als Autorinnen und Autoren schildern. Die durch zahlreiche Zitate belegten Selbstreflexionen bieten zudem weitreichende Einsichten in die ambivalente Auseinandersetzung mit ihrer Sprachidentität. Die Studie liefert einen Beitrag zur Erhellung von individueller Mehrsprachigkeit in Bezug auf die Entwicklung kreativer Schreibprozesse.

Prof. Dr. Ulrike Reeg lehrt Deutsche Sprache und Sprachwissenschaft an der Università degli Studi di Bari Aldo Moro.

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3Erinnerungen
Sicherlich möchte ich mir aus diesem Grund die Erinnerung als ein Meer vorstellen, in dem wir alle treiben, eins, das sich in der Bewegung der Wellen in ein Meer aus unzähligen Erinnerungen verwandelt (María Cecilia Barbetta 2019b: 65). Besonders für Autor/innen, die ihre Herkunftskultur, sei es aus einer selbstgetroffenen Entscheidung oder gezwungenermaßen, verlassen und mit einer anderen Sprache, in einem zunächst fremden Umfeld zu leben beginnen, ist der Prozess des Sich-Erinnerns22 oftmals ein signifikanter Ausgangspunkt und ein bedeutender Motor ihres Schreibprozesses. Den migrationsbedingten Einschnitt, den diese in erster Person oder als Nachfahren von Migrant/innen erfahren, die raum-zeitliche Entfernung von der Herkunftskultur sowie die generelle Notwendigkeit nicht nur über ein „identisches und kohärentes Selbst“ (Welzer 2011: 26) und eine damit einhergehende, innere Balance (vgl. Straub 2019a) zu verfügen – sondern vor allem auch eine befriedigende kulturelle, insbesondere mehrsprachliche Identität zu konstruieren, erklärt das Bedürfnis nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Die Erinnerung an Ereignisse der eigenen Lebensgeschichte erhält ein besonderes Gewicht. Diese Rückkopplung an die Vergangenheit spiegelt sich in vielen Facetten in den literarischen Werken der im Folgenden zitierten mehrsprachigen Autor/innen. Von besonderem Interesse für meine Studie ist jedoch vor allem die Tatsache, dass erinnerte Episoden und Erfahrungen Gegenstand ihrer Selbstreflexionen sind, zum Anlass für die Auseinandersetzung mit Spracherfahrungen werden und letztlich auch zu sprach- und literaturtheoretischen Konzepten überleiten können.23 Die Frage, die sich zunächst stellt, ist, welche Aspekte im Prozess des Sich-Erinnerns für die Deutung/das Verständnis der in der Folge zitierten Selbstäußerungen mehrsprachiger Autor/innen besonders relevant sind. Zunächst gelten grundsätzlich Emotionen für den Vorgang des Erinnerns als die entscheidenden „Operatoren“ von Bewertungen und Bedeutungszuschreibungen.24 In sämtlichen Gruppen, die von einem sozialen und/oder familiären Zusammengehörigkeitsgefühl geprägt sind, sog. Wir-Gruppen, ist der emotionale Gehalt der Erinnerungen ausschlaggebend für ihre Festigung im Gedächtnis. Aus diesem Grund werden insbesondere alle Ereignisse erinnert, die auffallen und beeindrucken (Welzer 2011: 11f.). So gesehen sind Emotionen die „Aufmerksamkeitsverstärker, die auch zur Stabilisierung der Erinnerung beitragen“ (Assmann, www.bpb.de, Stand: 11.05.2020). Sie begleiten die räumliche und zeitliche Zuordnung von episodischen, autobiographischen Erinnerungen und können bei ihrem Abruf reaktiviert werden. Dies ermöglicht ein „Wieder-Erleben (re-experiencing)“ vergangenen Geschehens, was auch durch Visualisierung mehr als durch andere Sinnesmodalitäten, stimuliert werden kann (Pohl 2010: 75). Dabei muss hervorgehoben werden, dass „die emotionale Einbettung einer erlebten Situation“ relevanter für das Erinnerte ist, als das wirkliche Geschehen. Hinzu kommt, dass „die emotionale Tönung“ ausschlaggebend für die Reichhaltigkeit und Präzision des Erinnerten sein kann, wobei diese sog. „affektive Kongruenz“ „durch die Existenz getrennter Systeme für die Speicherung von impliziten emotionalen Erinnerungen und von expliziten Erinnerungen an Emotionen“ entsteht. Durch bestimmte, verfügbare Hinweise, können die „emotionalen Implikationen“ von Erlebnissen erinnert bzw. ein sog. assoziatives Netz leichter aktiviert werden (Welzer 2011: 35f.). Um diesen Vorgang zu erleichtern, können im Verlauf eines autobiographisch geprägten Schreibprozesses beispielsweise signifikante Episoden der Lebensgeschichte bewusst rekonstruiert und im Sinne eines ‚Sich-vor-Augen-Führens‘ visualisiert und damit vergegenwärtigt werden. Im Unterschied zu mündlichen Erzählsituationen, in denen beispielsweise das gemeinsame Erinnern einer Gruppe im Vordergrund steht, ermöglicht deren Verschriftlichung in sprachreflexiven und literarischen Texten einem erweiterten Rezipient/innenkreis den Zugang und garantiert somit in gewissem Umfang den Fortbestand des Erinnerten/der Erinnerungen (vgl. dazu Reeg 2000: 267–269). Ich möchte hierzu ergänzend anmerken, dass auch aus historischer Sicht diese Möglichkeit des Aktivierens und Konservierens von Erinnerungen für Autor/innen, die durch Migration und/oder Exil einen Bruch in ihrer Lebensgeschichte erfahren haben von großer Bedeutung ist. Damals wie heute beschränkt und/oder verhindert die zeit-räumliche Distanz den kollektiven Erinnerungsprozess im Familien- und Freundeskreis. So gesehen ist die Kontinuität eines gemeinsamen Sich-Erinnerns, wobei vor allem Familien sich als Wir-Gruppe erkennen und konstituieren, durch das Verlassen der Herkunftskultur unterbrochen.25 Die „eigensinnige Verständigung der Gruppenmitglieder darüber, was sie für ihre eigene Vergangenheit im Wechselspiel mit der Großerzählung der Wir-Gruppe halten und welche Bedeutung sie dieser beilegen“ (vgl. Welzer 2011: 11–16)26 fällt entweder vollkommen weg oder kann auf jeden Fall nicht mehr mit der gleichen Intensität ausgeübt werden. Gemeinsame Momente des Sich-Erinnerns in der Familie und zusammen mit Freunden können ihrerseits lediglich erinnert und schriftlich fixiert werden. Als Erinnerungsfragmente aus großer zeitlicher und räumlicher Distanz an identitätsstiftende Momente, die auf einen anderen kulturellen Kontext verweisen, werden sie somit ‚eingefroren‘, inventarisiert und entziehen sich den oben erwähnten Veränderungen. Diese sind letztlich auch nicht beabsichtigt. Die Verschriftlichung des Familiengedächtnisses (oder auch des Gedächtnisses einer Dorfgemeinschaft) bedeutet ihre Fiktionalisierung und erhält eine Mitteilungsfunktion im Hinblick auf potentielle Leser/innen. Dabei ist nicht zu übersehen, dass in den literarischen Texten narrative Räume – Ersatzräume für die Schreibenden – entstehen können, in denen die familiäre Interaktion in der Fiktion neu konstruiert wird.27 Die Konstruktion der erinnerten Episoden findet im Unterschied zu mündlichen Erzählsituationen somit ausschließlich im kreativen Akt des Schreibens als introspektiver Vorgang statt. Erinnerung wird gestaltet und/oder verdichtet in Texten, die sowohl narrativ als auch reflexiv angelegt sind, wobei die Grenzen dieser Formate fließend sein können. Die Vergegenwärtigung lebensgeschichtlicher Episoden im Schreibprozess ist dabei als eine Form der „Konsolidierung durch wiederholtes Durchdenken und Durchfühlen desselben Ereignisses“, das in der Erinnerung bleiben soll, zu werten (vgl. Welzer 2011, mit Bezug auf Singer: 234).28 Darüber hinaus ist diese ‚Archivierung‘ – und dies trifft m.E. auch auf die in dieser Studie zitierten Autor/innen zu – immer auch als ein Akt der Bewahrung von Vergangenem zu bewerten, die der identitätsstabilisierenden Selbstvergewisserung und kulturellen Verortung dient. Abgesehen von der wichtigen Rolles o z i a l e rundk u l t u r e l l e rS c h e m a t afür die Entwicklung unseres Gedächtnisses (vgl. u.a. Wierzbicka 1994; Kölbl/Straub 2001: 519f.; Ziem 2008) ist meines Erachtens der Aspekt der heterogenen Zusammensetzung von Gedächtnisinhalten nennenswert. Von der Gedächtnisforschung wird betont, dass Vieles, was der eigenen Erfahrung zugeschrieben wird, nicht unbedingt Selbsterlebtes sein muss (vgl. dazu Pohl 2010: 81–83). Elemente aus Filmen, Erzählungen und Erinnerungen anderer Menschen können beispielsweise in die eigene Lebensgeschichte einfließen, ohne dass dies dem Beteiligten bewusst ist. Oft kann dabei nicht mehr unterschieden werden zwischen einer medial vermittelten Episode und dem eigenen Erleben (vgl. dazu Welzer 2011, insbesondere Kap. VIII). An Hand der von mir zitierten Textausschnitte kann dies zwar im Einzelnen nicht verifiziert werden. Auffällig ist jedoch, dass der eigene Erinnerungshorizont in einigen Texten bewusst überschritten und das Gedächtnis wichtiger Bezugspersonen miteinbezogen wird. Deren Rückkopplung an die Vergangenheit, ihre Sehnsüchte und Erinnerungen werden somit auch zum Gegenstand der Selbstreflexion in den autobiographisch geprägten Texten. Auf Grund der engen Verflechtung von eigener Biographie und (literarischem) Schreibprozess (vgl. Amodeo/Hörner 2010: 23) ist bei allen im Folgenden zur Diskussion stehenden Textausschnitten der autobiographische Rückbezug in Bezug auf die Rekonstruktion von Erinnerungen evident, weshalb sie im Rahmen meines Untersuchungsansatzes als subjektive Äußerungen der Autor/innen in Bezug auf ihre individuell erlebte Mehrsprachigkeit eine besondere Geltung erhalten. Sie ermöglichen differenzierte Einsichten in ihre Spracherfahrungen. Der Grad und die Form der Fiktionalisierung bzw. die Tatsache, dass die Autor/innen dabei...



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