E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Probst Ich habe Schleyer nicht entführt
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-95614-575-9
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-95614-575-9
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Endlich achtzehn! Peter Gillitzer hat riesige Erwartungen an die neue Freiheit. Aber schon seine harmlosen Partypläne werden von den Eltern durchkreuzt. Peter Probst erzählt mit großem Witz eine Generationengeschichte, in der sich die gesellschaftlichen Konflikte im Krisenjahr 1977 spiegeln. In wenigen Tagen wird Peter Gillitzer volljährig. Endlich kann er so leben, wie er will. Denkt er. Doch bereits das Geburtstagsfest im Hobbykeller scheitert, sein Vater verbietet ihm allen Ernstes, Mädchen einzuladen. Zum Glück gibt es Alternativen. Da ist ein Mann in der Nachbarschaft mit einem Haus voller Bücher, der ihm Zugang zu einer faszinierenden Welt verspricht. Zur Literatur, zu 'echten' Schriftstellern. Für Peter ein Traum, den ihm der Nachbar erfüllen kann - dass der in ihn verliebt ist, wird Peter erst allmählich klar. Da sind die Mädchen, die Schwärmereien, der Sex und die Missverständnisse. Und da sind die Zweifel an den politischen Verhältnissen, gegen die Peters Freunde aktiv werden wollen. Aber, das fragt er sich, wie weit darf Widerstand gehen? Ist Gewalt gegen Sachen legitim? Sollen Revolutionäre in offenen Beziehungen leben oder doch besser enthaltsam? Irgendwann wächst ihm alles über den Kopf und er haut mit einem Freund nach Italien ab. Als die beiden zurückkommen, hat die politische Lage sich dramatisch zugespitzt. Sie geraten mitten in die Fahndung nach dem von Terroristen entführten Martin Schleyer und werden selbst verdächtigt.
Autoren/Hrsg.
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1
Im eiskalten Dezember 1976 gab es wichtigere Dinge für mich als einen halb nackten Mann, der mit zertrümmertem Schädel bei den Allacher Kiesbergen gefunden worden war. Es interessierte mich auch nicht besonders, ob er an seinen Kopfverletzungen gestorben oder erfroren war. Trotzdem konnte ich das Gerede meines Vaters über das seiner Meinung nach auf der Hand liegende Tatmotiv nicht unwidersprochen lassen. »Papa, woher willst du wissen, dass Täter und Opfer Homosexuelle waren?« »Warme Brüder, habe ich gesagt.« Er knipste sein überlegenes Lächeln an. Gleich würde er einen alten Freund mit besten Verbindungen zur Münchner Kripo erfinden, der ihn unter der Hand über die Ermittlungen auf dem Laufenden hielt. Ich drückte mich inzwischen möglichst vor den Abendessen mit der Familie. Doch heute hatte der Leberkäse zu verlockend gerochen. Ein Patient vom Land hatte ihn meinem Vater in die Praxis mitgebracht. »Geht das überhaupt, dass ein warmer Bruder erfriert«, sagte mein Bruder Berti mit fast perfekter Unschuldsmiene. »Dann möffte ich auch warm fein, wenn man da nicht erfiert«, sagte der kleine Sigi mit leberkäsegeblähten Backen. »Das möchtest du ganz sicher nicht«, sagte mein Vater. »Wieso nicht?«, sagte Berti, nur um die Eltern weiter in Verlegenheit zu bringen. »Bitte«, sagte unsere Mutter, »können wir nicht über was anderes reden? Das ist doch nichts für den Sigi. Und für den Berti eigentlich auch nicht.« Die beiden fragten im Chor: »Warum?« »Weil …« Unsere Mutter wand sich. »Weil es wider die menschliche Natur ist«, sagte unser Vater und warf seinen Serviettenring nach Sigi. »Hör auf, wie ein Schwein zu fressen!« »Wider die Natur?« Ich lachte höhnisch. »Es gibt Völker, bei denen sind homosexuelle Handlungen Teil der Kultur.« »So? Und welche Völker sollen das sein?« Um meinem Vater keinen Beleg für meine Behauptung liefern zu müssen, brachte ich die Diskussion zum Ausgangspunkt zurück. »Ich möchte jetzt wissen, wie du draufkommst, dass das Opfer und der Täter schwul waren?« »Schwul!« Sigi kicherte und verschluckte sich. »Schwul!« Mein Vater schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ruhe, sonst …« Sigi verstummte. »Ich habe einen Freund bei der Kripo«, sagte mein Vater, bemerkte, dass ich die Augen verdrehte, und änderte blitzschnell seine Strategie. »Aber ich weiß auch so, dass sich da draußen bei den Kiesbergen, genauso wie hinter dem Haus der deutschen Kunst …« »Haus der Kunst, ohne deutsch«, korrigierte meine Mutter ihn leise. »Ist doch egal.« »Ist es nicht, Beppo.« »Ja, Herrschaftszeiten, darf ich mal ausreden? Dass sich bei den Kiesbergen für die Hitler-Autobahn …« »Hitler?«, rief Sigi erschrocken. »Der ist tot, schon lange«, sagte meine Mutter und streichelte beruhigend seinen Arm. »Dass sich da draußen die 175er treffen«, vollendete mein Vater endlich seinen Satz. »Weil du da ab und zu vorbeischaust, oder was?« Ich glaubte nicht ernsthaft, dass mein Vater unter Homosexuellen verkehrte, ich wollte ihn nur auf die Palme bringen und sehen, wie seine Gesichtsfarbe erst kalkweiß wurde und dann über gelb zu orange und schließlich blutrot wechselte. Prompt sprang er auf und starrte mich mit seinem Raubtierblick an. Seit ich mir in solchen Momenten vorstellte, er würde dafür vor dem Spiegel üben, machten mir seine Drohgebärden keine Angst mehr. »Was erlaubst du dir?«, schrie er. »Ich mir? Alles. Weil du mir immer alles verboten hast.« »Beppo, Peter, bitte!«, jammerte meine Mutter. »Könnt ihr nicht einmal friedlich bleiben beim Abendessen?« Ich ignorierte ihren Appell und starrte zurück. Du Löwe, ich Schakal, dachte ich und bedauerte es, dass er mich nie zu schlagen versuchte. Wofür trainierte ich täglich Liegestütze, wenn ich ihm nicht zeigen konnte, wie kräftig ich geworden war? An manchen Tagen schaffte ich fast hundert Stück – na ja, sagen wir fünfundsiebzig –, bevor ich halb ohnmächtig auf meinen Flokati-Teppich sank. Aber vielleicht brauchte ich meine Muskeln irgendwann ja noch für einen ebenbürtigen Gegner. Ich beobachtete, wie mein Vater die Fäuste ballte, bis seine Finger weiß wurden, kurz in dieser Position verharrte, dann langsam lockerließ und mit einem verächtlichen »pfff« abwinkte. Zwei Trümpfe hatte ich noch im Ärmel. Ich konnte aus einem Artikel der alternativen Stadtzeitung Blatt (meiner Lieblingslektüre) zitieren, laut dem die Diskriminierung Schwuler vor allem der Abwehr der eigenen, unterdrückten Homosexualität diente. Noch wirkungsvoller wäre es wahrscheinlich, wenn ich meinen Vater nach seinen sexuellen Erfahrungen im Krieg fragte und behauptete, ich hätte gelesen, dass Wehrmachtssoldaten, wenn kein Bordell in der Nähe war, es miteinander getrieben hätten. Darauf würde er garantiert mit Brüllen reagieren, ich konnte mit dem gern von ihm zitierten Spruch: »Mein Freund, du wirst grob, denn du bist im Unrecht« kontern und erhobenen Hauptes den Tisch verlassen. Dafür war es auch höchste Zeit, ich war vom Leberkäse pappsatt und meine Freundin Zita wartete bestimmt schon auf mich. »Also«, sagte ich, »ich würde ja schon gern wissen …« Ich bremste mich gerade noch rechtzeitig, bevor ich einen Riesenfehler beging. Wenn ich meinen Vater bis knapp vor dem Herzinfarkt provozierte, konnte ich das fest eingeplante Geldgeschenk zu meinem Geburtstag vergessen. »Was?«, sagte er. »Nichts.« »Was würdest du gern wissen?« »Nein, alles okay.« »Meinst du, ich habe dein unverschämtes Grinsen nicht gesehen?« »Ich habe an was anderes gedacht, Papa, ehrlich.« Sein Blick war so durchdringend, dass ich befürchtete, er könne meine Gedanken lesen, nicht nur die momentanen, sondern auch die mit den vögelnden Soldaten, die ich vor zehn oder zwanzig Sekunden gedacht hatte. »Der Leberkäse …« Sigi würgte. »Wehe!«, sagte mein Vater. »Wenn du jetzt spuckst …« »Mir ist so schlecht. Mama.« »Dann komm, schnell!« Sigi presste die Hand auf den Mund und stürzte mit unserer Mutter aus dem Zimmer. Ich glaube, insgeheim waren alle dankbar, dass die Diskussion damit beendet war. Berti mochte grundsätzlich lieber lustige Abendessen, unsere Hausangestellte Hertha hätte sich, wenn es Geschrei gab, am liebsten unter dem Tisch verkrochen, aber da lag unsere Schäferhündin Britta. Mein Vater wirkte während der Machtkämpfe mit mir immer häufiger wie ein in die Jahre gekommener, ehemaliger Boxchampion und meine Mutter hasste Streit sowieso. Noch elf Tage, dachte ich, dann ist der Spuk vorbei. Endlich. In elf Tagen würde sich das Tor zur Freiheit öffnen und ich zu einem gleichberechtigten Mitglied der Gesellschaft werden. Mir gefiel die Vorstellung, dass ich dann theoretisch Zita heiraten konnte, auch wenn ich nicht so blöd sein würde, freiwillig eine Gefangenschaft mit der nächsten zu tauschen. Ich konnte wählen, sogar NPD. Das hatte ich selbstverständlich nicht vor, nicht mal aus Protest gegen meinen Vater, der erwiesenermaßen gegen die Nazis gekämpft hatte. Im Kino gab es für mich endlich keine Altersbeschränkung mehr und ich konnte mit den Fahrstunden anfangen. »Sobald du achtzehn bist«, hatte mein Vater versprochen, »darfst du dich anmelden.« Ich ging nicht davon aus, dass ich lange für den Führerschein brauchen würde, danach konnte ich, wann immer ich Lust hatte, einfach drauflosfahren, Richtung Süden oder Westen (der Osten und der Norden interessierten mich weniger). Die Finanzierung eines eigenen Autos war kein Problem, weil mir Schrottkarren besser gefielen als Bonzenschlitten und sich mir als Achtzehnjährigem völlig neue Verdienstmöglichkeiten eröffneten. Das stumpfsinnige Etikettieren und Einsortieren von Ware im Pasinger Kaufhaus, mit dem ich mir in den letzten Ferien ein paar Mark zum Taschengeld dazuverdient hatte, war Geschichte, ich konnte als Liedermacher in der Fußgängerzone auftreten, ohne vom Ordnungsamt verjagt zu werden, in Kneipen jobben oder als Türsteher einer Disco oder eines Bordells. Obwohl, dafür musste ich wahrscheinlich nicht nur achtzehn, sondern auch über eins achtzig groß sein. Ich war eins...