Theologische und pädagogische Erkundungen
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-451-83366-3
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Braucht religiöser Glaube Realität?
Knut Wenzel Einleitung
Die mir zur Bearbeitung vorgelegte Frage scheint auf einen truism hinauszulaufen – wenn von der Auffassung dieser Frage abgesehen wird, dass mit der „Realität“, die der Glaube brauche (oder nicht), seine substantielle Wahrheitsfähigkeit gemeint ist. Nicht mehr trivial ist es, die Frage nach der Angewiesenheit religiösen Glaubens auf Realität zu bejahen, wenn diese Frage auf dem Hintergrund der Weltbildtransformationen gestellt wird, wie sie im Gefolge der Digitalisierung aller Lebens-, Wissens-, Arbeitsbereiche möglich und vorangetrieben werden: Wenn Wirklichkeit diese nicht mehr ist, sondern reality 1.0, wodurch sie selbst auf ein Digital-Paradigma aufgesetzt worden und nun in ihren Virtualitätsableitungen durchzählbar ist – 2.0, 3.0, ad infinitum; wenn Virtualität als Erweiterung, Ergänzung, am Ende Ersetzung von Wirklichkeit erscheinen soll, mit cyborgism, Posthumanismus, Transhumanismus als anthropologische Seite derselben Medaille –, dann versteht sich die Bejahung der Realitätsangewiesenheit religiösen Glaubens keineswegs mehr von selbst. Im Folgenden sollen Gründe und Konsequenzen dieser Statuierung eines realistischen, wenn nicht materialistischen Glaubens zunächst auf einer konkretions-, sodann auf einer begriffsbezogenen Linie angesprochen werden. 1 Realität konkret: Leib
Die lebensweltlich sowohl konkreteste als auch undistanzierbar unmittelbare Weise, mit Realität konfrontiert zu sein, besteht in der Körperlichkeit, der Eigenleiblichkeit individuellen Lebens. Die biblische Anthropologie ist körperdimensioniert; wesentliche Bestimmungen des Menschseins sind von Körperorganen und vom Körper insgesamt her konzipiert und bleiben der Körpersemantik verhaftet. So bezeichnet jener Begriff, in dem die Septuaginta durchgängig die Bedeutung „Seele“ erkennt und mit psyche übersetzt, hebräisch zunächst die Kehle: nefesch. Was Seele ist, wird so auf dem Bedeutungsfeld des Körpers bestimmt. Ist Seele das Lebendigkeitszentrum des Menschen, so im Sinn der Kehle: jenes Organs, das verletzlich und ungeschützt ist, durch das der Mensch aufnimmt, was ihn lebendig sein und fortleben lässt, Nahrung und Luft, durch das er im Puls des Ein- und Ausatmens sich unmittelbar körperlich mit der Welt im Austausch befindet. Die enorme Verschlingungsenergie, die sich mit dem Bedeutungsgrund „Kehle“ verbindet, und die in Hinsicht auf die Seele als Lebendigkeits-Bedürftigkeit charakterisiert werden kann, wird biblisch am anderen Ende dieses Bedeutungsfelds manifest artikuliert: Es ist der Tod, dessen nefesch so unersättlich ist, dass sie alles Leben zu verschlingen droht.1 Einigermaßen universal dürfte die Praxis sein, dem Herzen eine anthropologische Bestimmungskraft zuzutrauen. Beim hebräischen leb kommt es aber nicht zur kompletten Abkoppelung ins nur Metaphorische. Wie bei nefesch bleibt auch bei leb die Rückbindung ans Organ erhalten. Als dieses zentrale Organ körperlicher Lebendigkeit ist leb Urteils- und Handlungszentrum des Menschen, Sitz des Willens und der praktischen Vernunft: Wir orientieren uns und handeln in der Welt leibhaftig. Schließlich wird ein lebendiges Wesen in seiner handlungsfähigen Individualität basar genannt: Fleisch. Das Individuum wird dem Leib abgelesen; das Selbst ist leiblich. Es gibt kein abstraktes Gattungskollektiv: kol-basar – alles Fleisch – ist nicht die Menschheit, sondern die Totalität der leibhaftigen Selbste. Bei kol-basar können zudem die Gattungsgrenzen fluid werden: Die Totalität der leibhaftigen Selbste kann auch die Tiere mit einbegreifen: kol-basar – alles Lebendige. In Gen 6,12 sind die Tiere mit in die Schuldverantwortung einbezogen. Dieses Körper-Denken ist jedenfalls nicht inkarnatorisch, kein Geistiges dringt hier von außen ins Leibliche ein, sondern leibhaftig. Mit basar ist der lebendige Mensch wesentlich in seiner Hinfälligkeit bestimmt. Eigentlich wird der Mensch in seiner Lebendigkeit selbst als hinfällig aufgefasst. Lebendig ist, was krank werden, was sterben kann. Ein lebendiges Selbst – handlungsfähig, verantwortlich, selbst-bewusst – ist, wer fehlgehen kann, wer schuldig werden, wer in Sünde geraten kann. Diese zweifache, physische und moralische, Hinfälligkeit wird von basar mit Lebendigkeit kurzgeschlossen. Diese basar-Existenz ist es, in die hinein der das Johannesevangelium eröffnende Hymnus den Logos, den er zuvor als Gestalt des principium creationis, der Gottesnähe, ja der Gottesidentität statuiert, eingehen lässt. Der Logos, der kommende Gott, hat einen Ankunftsort, das ist der fleischerne Leib: die Materialisation hinfälliger, in Anfechtung befindlicher Lebendigkeit. Radikaler noch spiegelt sich das im Hymnus, den Paulus in den Philipperbrief aufgenommen hat: Hier entäußert sich der Sohn in die Menschengestalt hinein, indem an seiner Göttlichkeit nicht festhält – als wäre diese, festgehalten, ein Raub, ein Vorenthalt. Ein tritt er in die Menschlichkeit auf ihrem niedersten ontologischen level, als Sklave, als dem Tod gehörig. Durch den Tod als Mensch hindurch entleert Gott sich: kenotische Inkarnation – ultimative Würdigung leibgebundener – basar, sarx, carnis – Menschlichkeit in ihrer Todesschwäche. Inkarnation heißt: Korporealisation des Logos, Körpervergegenwärtigung, -verwirklichung Gottes. Im Zentralgedanken des Christentums gibt es keine Leibfeindlichkeit, keine Somatophobie, vielmehr einen Realismus des Leibs. Jesus, der ohne Sünde ist, geht in den Tod und durch ihn hindurch: Die Sünde, so real sie ist und uns bedrängt, gehört, auch wenn wir sie zu verantworten haben, nicht zu unserer Natur; der Tod hingegen schon. Wenn Jesus Erlösung durch seinen Tod erwirkt, dann im Durchleben der menschlichen Natur. Auch das um die Auferstehung zentrierte Syntagma der Geschehnisse stellt, wie Evangelien und Apostelgeschichte es berichten, keine Rücknahme der Inkarnation – des fleischernen Anteils an ihr – dar. Das berechtigte und nicht zu diffamierende Anliegen des Thomas zielt auf den körperlichen – durch das Sehen und Berühren des Körpers, also ästhetisch hergestellten – Erweis der Identität dessen, der sich als der Auferstandene präsentiert, mit dem Gekreuzigten. Und sowohl die Verklärung als auch die Himmelfahrt Christi werden als ästhetische Ereignisse erzählt, als sich den Sinnen vermittelnde Präsentation Christi in seiner Leiblichkeit. So haben es auch die Maler verstanden, die diese beiden Heilsmysterien ikonotypisch durch die Geschichte der christlichen Kunst hindurch ausgestaltet haben. Wenn Verklärung Transfiguration bedeutet, dann in die vollkommene Schönheit des Körpers hinein; wenn Himmelfahrt die Wegnahme des Gegenwärtigen in seine (himmlische) Abwesenheit bedeutet, dann unter der Gestalt des Inkarnierten: Diese wird in der oder als Himmelfahrt noch einmal nachdrücklich gesetzt – gesetzt nämlich, das lassen die Himmelfahrtsdarstellungen anschaulich nachvollziehbar werden, als Zeichen der anwesenden Abwesenheit: Leib Christi. In diesem Zeichen wird nun eine, vielleicht die einzig legitime Abstrahierung der Inkarnation zu sehen sein: ihre Signifikation. Diese aber mündet ins – oder geschieht als – Sakrament. Diese sakramentale Dynamik stellt gerade keine Dekorporation Christi dar, sondern eine Versinnlichung der Gnade: „Nehmt, das ist mein Leib.“2 Die Abwesenheit Christi ermöglicht eine neue Gegenwart: gebunden nun ans Zeichen, real präsent stets und überall, wenn und wo das Sakrament gefeiert wird. So bedeutet dieses Zeichen als sakramentales keinen Widerruf der Korporealität der Inkarnation, ist doch die Feier sein ästhetischer – mit allen Sinnen zu erfahrender – Leib. Damit die neue, transgeschichtliche und globale Präsenz Christi unterm Sakrament möglich wird, setzt dies die Abwesenheit des geschichtlichen Jesus Christus voraus. Dass dies keine inane Absenz sei, wird durch ihre Charakterisierung als „himmlisch“ zu verstehen gegeben. Die sakramentale Dialektik von Abwesenheit und Anwesenheit ist dieselbe, die der johanneische Jesus seinen Jüngerinnen und Jüngern in der dritten Abschiedsrede über den Parakleten darzulegen sucht: Doch ich sage euch die Wahrheit: Es ist euch nützlich, dass ich weggehe, denn wenn ich nicht weggehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden“ (Joh 16,7). In Theologie und Glaubensleben findet das Verhältnis zwischen Christus und Heiligem Geist durchaus spannungsvolle Resonanz. Seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wird eine Geistvergessenheit in Theologie und (katholischer) Kirche beklagt; gegen eine Christozentrik wird eine Pneumatozentrik durchzusetzen versucht. In der pluralistischen Religionstheologie wird gegen eine nur partikulare, exklusiv das Christentum meinende Christusvermitteltheit eine universale, wohl...