Petersdorff Literaturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-406-62232-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von 1945 bis zur Gegenwart
E-Book, Deutsch, Band 2733, 128 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-62232-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Literatur der Bundesrepublik hat sich intensiv für die sie umgebende Gesellschaft interessiert. Das war nach der Katastrophe des Nationalsozialismus notwendig, führte in den Sechzigerjahren zu einer Politisierung, in den 1970ern zur Beobachtung von privaten Lebensformen. Auch dort, wo sich in der jüngeren Vergangenheit Themen und Blicke weiten, erzählt die Literatur vom Denken und Fühlen in der nun heterogener werdenden Gesellschaft.
Die vorliegende kurze Literaturgeschichte der Bundesrepublik stellt Romane, Theaterstücke und Gedichte vor, um zu fragen, wie sie auf Herausforderungen und Probleme der Bundesrepublik reagieren: auf das Verhältnis zur nationalsozialistischen Vorgeschichte, auf die Durchsetzung einer offenen Gesellschaft, auf das Verblassen der Utopien und auf die Pluralisierung der Denkweisen und Lebensstile.
Da die Literatur ihre Antworten zu einem großen Teil über die Form gibt, wird das Fortwirken avantgardistischer Errungenschaften genauso betrachtet wie das grundsätzliche Festhalten am Realismus, wird erläutert, wie die ‹Postmoderne› eine Öffnung des ästhetischen Feldes erbrachte, um schließlich auf das nach-experimentelle Erzählen der Gegenwart einzugehen. Weiterhin kommen Essays und Debatten sowie populäre Musik und Filme in den Blick, die die Bundesrepublik manchmal anders beleuchten als die Literatur.
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2. Das politische Jahrzehnt
Von der «Blechtrommel» bis zum «Kursbuch»
«Dieser Autor greift nichts an, beweist nichts, demonstriert nichts, er hat keine andere Absicht, als seine Geschichte mit der größten Genauigkeit zu erzählen»: Mit diesen Worten stellte Hans Magnus Enzensberger 1959 in einer Rezension Günter Grass (*1927) und dessen Roman «Die Blechtrommel» vor. In den folgenden Jahrzehnten ist Grass zum wichtigsten Repräsentanten der deutschen Literatur geworden. Immer wieder hat er sich in gesellschaftliche Debatten eingeschaltet, hat die Nähe zur Politik gesucht und Stellungnahmen verfasst, die mit großer Wahrheitsgewissheit formuliert waren. 2006 schließlich wurde er selbst zum Gegenstand einer heftigen Debatte, in der es um seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs ging. Über solche Auseinandersetzungen hat man fast vergessen, welche ästhetische Vitalität am Anfang seines Werkes stand. «Die Blechtrommel» enthält frappierende, sinnlich starke Bilder, die den Leser nicht mehr loslassen. Da sind die weiten Röcke der Großmutter des Ich-Erzählers, unter die man sich flüchten kann; Oskar lässt Brausepulver im Bauchnabel seiner Geliebten aufschäumen; ein Pferdekopf wird aus dem Meer gezogen, in dem Aale sich drehen und winden. «Da ist kein Detail, auf das es dem Erzähler nicht ankäme», stellte Enzensberger in seinem großen Lobgesang fest. Grass erlebte die Kindheit und Jugend in Danzig, das seit dem Ersten Weltkrieg dem Völkerbund unterstand. Hier trafen verschiedene Kulturen aufeinander, Deutsche und Polen, Juden und Kaschuben. 1939 wurde die Stadt zum Ausgangspunkt des Zweiten Weltkriegs. Die deutsche Tradition Danzigs, in der Grass groß wurde, endete mit diesem Krieg. Grass unternimmt mit seinen frühen Büchern eine Rettung dieser verlorenen Heimat in die Literatur. Das ist ein Grund ihrer Vitalität. Hinzu kommt eine starke Phantasietätigkeit, die den jungen Grass zuerst in den Bereich der Bildhauerei führt und später für die visuelle Eindringlichkeit der «Blechtrommel» sorgt. Eine weitere Kraftquelle ist zu nennen: Grass zählt zu jenem in der Moderne immer wieder auftretenden Autorentyp, der ursprünglich religiös erzogen wurde, diesen Glauben später nicht mehr praktizierte, dafür aber die Kunst religiös auflud: Sie musste nun von Schuld erlösen. «Die Blechtrommel» ist angefüllt mit religiöser Metaphorik. Wenn ein Falter beschrieben wird, der bei Oskar Matzeraths Geburt zwei «Sechzig-Watt-Glühbirnen» umflattert, dann scheint es, «als wäre das Zwiegespräch zwischen Falter und Glühbirne in jedem Fall des Falters letzte Beichte und nach jener Art von Absolution, die Glühbirnen austeilen, keine Gelegenheit mehr für Sünde und Schwärmerei»; eine solche Schilderung darf man eigenwillig nennen. Wenn dann noch hinzugefügt wird: «Der Falter trommelte», ist die Beziehung zum Ich-Erzähler und Protagonisten hergestellt, der in der Kunst des Trommelns Befreiung aus der Bedrängnis der Welt findet. Dieser Ich-Erzähler, Oskar Matzerath, ist eine merkwürdige Figur. Er schildert rückblickend als knapp Dreißigjähriger sein Leben. Zum Zeitpunkt des Erzählens ist er Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, was ihm nicht unwillkommen ist; die angekündigte Entlassung sieht er als Bedrohung an. Er gehört, wie er den Lesern erklärt, «zu den hellhörigen Säuglingen, deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist». So versteht er, was seine Mutter und sein Vater direkt nach seiner Geburt über seine Zukunft sagen, und kann ihre Vorstellungen gegeneinander abwägen. Im Alter von drei Jahren beschließt er, seine körperliche Entwicklung einzustellen, und bleibt zwergwüchsig. Damit wird die Geschichte eines Kindes erzählt, das auch, als es älter ist, noch für ein Kind gehalten wird, obwohl es viel mehr sieht und begreift als ein Kind. Diese doppelte Perspektive wird noch dadurch erweitert, dass der rückblickende Erzähler wiederum mehr weiß als das Kind Oskar und dieses Wissen in die Lebenserzählung einfließen lässt. Er erzählt in der Ich-Form, wechselt aber immer wieder in die Er-Form und betrachtet Oskar damit von außen. Was gewinnt man mit dieser nicht ganz einfachen Konstruktion? Zunächst einen Blick von unten, der voller Neugier und von Konventionen ungehemmt die Erwachsenenwelt erfasst. Oskar kann demaskieren und enttarnen, wie es nur ein Kind, das die Regeln der Welt noch nicht gelernt hat, vermag. Er greift aber auch in Zusammenhänge ein, und dies vor allem mit seiner Trommel. Dabei ist eine der berühmtesten Szenen des Romans entstanden. Oskar begibt sich mit seiner Trommel unter eine Tribüne, auf der eine Kundgebung der Nationalsozialisten stattfindet. In die Musik des NS-Spielmannszuges fällt Oskar ein, steuert sie um: Die Trommel lag mir schon maßgerecht. Himmlisch locker ließ ich die Knüppel in meinen Händen spielen und legte mit Zärtlichkeit in den Handgelenken einen kunstreichen, heiteren Walzertakt auf mein Blech, den ich immer eindringlicher, Wien und die Donau beschwörend, laut werden ließ, bis oben die erste und zweite Landsknechttrommel an meinem Walzer Gefallen fand, auch Flachtrommeln der älteren Burschen mehr oder weniger geschickt mein Vorspiel aufnahmen. Auf der Tribüne wird gelacht, die ersten Kundgebungsteilnehmer singen mit, schließlich beginnen die ersten Paare zu tanzen. Oskar hängt noch den Charleston «Jimmy the Tiger» an, der zur endgültigen Auflösung der Versammlung führt: «Das Volk tanzte sich von der Maiwiese», und Oskar kann zufrieden feststellen: «Gesetz ging flöten und Ordnungssinn». Das hat ein Kind getan, aber eben ein hellhöriges Kind, das eine Abneigung gegen Massenveranstaltungen und Ideologien besitzt. Das erzählende Ich, der dreißigjährige Oskar, kann seine zeitliche Distanz reflexiv ausnutzen, um hinzuzufügen, dass er sich nicht als Widerstandskämpfer darstellen möchte. Er habe auch nicht nur gegen braune Versammlungen getrommelt, sondern auch gegen rote sowie gegen Pfadfinder, den Kyffhäuserbund, Vegetarier und Zeugen Jehovas. Gerade deshalb konnte Oskars Aktion zu einer Schlüsselszene für die Intellektuellen der Bundesrepublik werden. Denn hier hatte der antiideologische Konsens, die Skepsis gegen Lehren mit Alleingültigkeitsanspruch, ein Bild gefunden: «Wer jemals eine Tribüne von hinten anschaute, recht anschaute, wird von Stund an gezeichnet und somit gegen jegliche Zauberei, die in dieser oder jener Form auf Tribünen zelebriert wird, gefeit sein». Hans-Ulrich Wehler hat in seiner «Deutschen Gesellschaftsgeschichte 1949–1990» eine Gruppe von Intellektuellen charakterisiert, die in den späten Zwanziger- und Dreißigerjahren geboren wurden, als Kinder und Jugendliche noch den Nationalsozialismus und den Krieg erlebten, um dann «die neue Republik als unerwartete zweite Chance mit prinzipieller Zustimmung, sogleich aber auch mit kritischer Aufmerksamkeit zu begleiten». Für sie war es selbstverständlich, sich neben ihren Kernberufen in der politischen Öffentlichkeit zu engagieren. In diesen Generationszusammenhang gehören etwa der Philosoph Jürgen Habermas, der Soziologe Ralf Dahrendorf, die Juristen Ernst-Wolfgang Böckenförde oder Dieter Grimm sowie Wehler selbst. Diese Gruppe ließ nie einen Zweifel daran, dass sie die Bindung der Bundesrepublik an den Westen für richtig hielt, damit auch das Modell einer offenen Gesellschaft, in der kein verbindlicher Lebenssinn mehr vorgegeben wird. Damit unterschied sich diese Gruppe, die die Bundesrepublik seit den Sechzigerjahren zu prägen begann, von älteren Intellektuellenverbindungen. Wenn Grass grundsätzlich in diesen Generationszusammenhang gehört, dann ist seine Oskar-Figur im Unterschied zu späteren Figuren gerade deshalb so eindringlich geraten, weil sie nicht nach einem moralischen Plan oder als Verkörperung von Ideen entworfen ist. Diese Figur ist aufklärerisch tätig, und ihre Frechheiten ziehen den Leser an; aber Oskar handelt auch heimtückisch und grausam. Um an seinen wichtigsten Besitz, eine neue Trommel, zu gelangen, ist er zu höchst fragwürdigen Handlungen bereit. Er geht über Menschenleben, führt sogar den Tod seines Vaters herbei und ist am Tod anderer, ihm nahestehender Personen beteiligt. Dann wieder ist Oskar zu starken Gefühlen in der Lage, wenn er seiner sterbenden Großmutter das kaschubische «Babka, Babka» hinterherruft–«und ging, ging ohne mich, ging ohne Oskar davon». Die Literaturwissenschaft hat auf eine länger zurückreichende Tradition hingewiesen, in die die Oskar-Figur gehört. Das ist der Picaro- oder Schelmenroman, der in der deutschen Literatur mit Grimmelshausens (um 1622–1676) «Simplicissimus» sein wichtigstes Beispiel besitzt. Der pikareske Held muss sich auf dem Kampfplatz der Welt mit List und Klugheit durchschlagen. Selbst wenn er sein Leben rettet, findet er immer nur kurzzeitiges Glück, dann wieder neuen Schmerz. Er sehnt sich nach einem Asyl in der Welt, so wie Oskar sich in seinem Gitterbett geschützt...