E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Opitz Capital B
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12386-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwischen Anarchie und Ausverkauf - Die Geschichte Berlins von 1989 bis heute
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
ISBN: 978-3-608-12386-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Florian Opitz, geboren in Saarbrücken in 1973, ist ein vielfach preisgekrönter deutscher Dokumentarfilmer, Autor und Journalist. Sein erfolgreiches Kino-Debüt 'Der große Ausverkauf' gewann den Grimme Preis 2009. 2023 kam die fünfteilige Doku-Serie Capital B - Wem gehört Berlin heraus. Basierend auf 4000 Stunden Video Archiv Material. Das US Magazin ESQUIRE nahm es auf in die Liste der wichtigsten politischen Dokumentationen der letzten 20 Jahre.
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Vorwort
1990 bin ich zum ersten Mal in Berlin gewesen. Auf einer Jugendreise aus der badischen Provinz. Ich war 16, die Mauer war gerade gefallen und noch war völlig unklar, wohin sich diese Stadt entwickeln würde, die aus zwei völlig disparaten Teilen bestand: dem eingemauerten West-Berlin und Ost-Berlin, der ehemaligen Hauptstadt der DDR. Die Stadt faszinierte mich sofort. Und diese Faszination hat bis heute nicht nachgelassen.
16 Jahre später, nach unzähligen Besuchen bei Freunden, die es nach Berlin verschlagen hatte und die – das erinnere ich bis heute besonders – von Besuch zu Besuch größere und tollere Wohnungen zu haben schienen, bin ich dann selbst nach Berlin gezogen. Nicht wegen der billigen Wohnungen. Nicht wegen der Partys in der Stadt. Der Liebe wegen.
Eine Wohnung habe ich bereits am ersten Abend gefunden, 80 Quadratmeter für 320 Euro Miete, und das in Kreuzberg, mittendrin. Das war 2006 noch der Normalfall in Berlin. Auch wenn es schon den gentrifizierten Prenzlauer Berg gab, waren immer noch genügend Viertel zum Ausweichen da.
Eines fiel mir nach meiner Ankunft in Berlin sofort auf: Kein Ort, an dem ich bis dahin gelebt hatte, veränderte sich so rasend schnell. Berlin war im permanenten Wandel und ist es bis heute. Ob zum Guten oder zum Schlechten, das ist die große Frage.
Noch einmal zwölf Jahre vorgespult. Es ist das Jahr 2018. Inzwischen war ich Vater dreier Berliner Jungs geworden und hatte noch nirgendwo so lange gelebt wie hier. Berlin war wegen einer grandios vermasselten und ewig unfertigen Flughafen-Großbaustelle zum Gespött der ganzen Welt geworden und inzwischen sprach man im In- und Ausland von einer failed city, einer gescheiterten Stadt. Aus der Utopie des Sommers 1990 schien eine Dystopie geworden zu sein.
Gleichzeitig erlebte ein Genre in Deutschland große Erfolge, das bis dahin ein verstaubtes Nischendasein im deutschen Bildungsfernsehen fristete: die Dokuserie. Dank Netflix wurde es quasi über Nacht überaus populär. Eine Entwicklung, die ich mit großem Interesse verfolgte, bot sie uns Dokumentarfilmern und Dokumentarfilmerinnen doch die Möglichkeit, endlich auch epische Geschichten für ein großes Publikum erzählen zu können. Und genau das wollten wir, mein Kollege David Bernet und ich.
Also begaben wir uns auf die Suche nach einer solchen Geschichte. Es dauerte nicht lange. Der Stoff für eine wirklich epische Geschichte mit viel Drama lag buchstäblich direkt vor unserer Haustür: die Geschichte Berlins seit dem Mauerfall. Wir wollten von den verschlungenen Wegen erzählen, wie Berlin zu dem wurde, was es heute ist: eine pulsierende Weltmetropole, in die es Künstler:innen,Kreative, Freigeister und Dissident:innen aus der ganzen Welt zieht. Von den großen politischen Skandalen, den gescheiterten Träumen, den Konflikten und Verbrechen, die sich auf dem Weg dorthin ereignet haben. Und natürlich von den Menschen, die diese Zeit geprägt haben, im Guten wie im Schlechten. Ein fantastischer und wahrhaft epischer Stoff, davon waren wir gleich überzeugt.
Über Berlin wurde schon oft geschrieben, von Berlin Alexanderplatz (1929) über Herr Lehmann (2001) bis zur monumentalen Gesamtdarstellung Berlin – Biographie einer großen Stadt (2019). Auch im Film wurde Berlin oft thematisiert, wiederholt sogar meisterhaft, von Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927) über Der Himmel über Berlin (1987) und 24 h Berlin – Ein Tag im Leben (2009) bis zu B-Movie: Lust & Sound in West-Berlin 1979–1989 (2015), einem Kinodokumentarfilm über die Berliner Musikkultur der Vorwendejahre. Viel ist außerdem schon über das Leben im geteilten Berlin nachgedacht und berichtet worden und darüber, wie es zum Mauerfall gekommen ist.
Doch was direkt nach dem Mauerfall in Berlin geschehen ist, welche Chancen und Hoffnungen für viele mit der nun offenen Stadt verbunden waren, wie diese Chancen genutzt oder vergeigt wurden, welche Skandale diese Stadt auf diesem Weg produziert und wer die Stadt besonders geprägt hat, das schien verschüttet und vergessen: ein blinder Fleck im kollektiven Gedächtnis. Bei der Recherche zu Capital B fiel mir auf, dass diese Stadt, die so übervoll an Geschichte ist, gleichzeitig geradezu geschichtsvergessen war, was die Zeit nach dem Mauerfall bis heute angeht. Es war damals dazu keine einzige übergreifende historische Darstellung im Buchhandel zu finden.
Ja, wir erinnern uns vielleicht noch an Techno und Hausbesetzung Anfang der 90er, Tresor, E-Werk und Loveparade und so. Aber wie hieß noch mal der damalige Regierende Bürgermeister? Der Prenzlauer Berg war plötzlich voller Schwaben, schick, teuer und irgendwie langweilig geworden, klar. Aber sonst? Wie kam es dazu und was hätte auch ganz anders kommen können?
Capital B legt die verschütteten Erinnerungen frei und versucht, historische Zusammenhänge aufzuzeigen. Denn vieles, worüber wir heute staunen oder uns ärgern, lässt sich durch den Blick in die jüngste Geschichte dieser Stadt richtig verstehen.
Für Capital B haben wir fünf Jahre recherchiert, mehr als 40 lange Interviews und unzählige Hintergrundgespräche mit entscheidenden Protagonist:innen aus 35 Jahren Stadtgeschichte geführt, tausende Fotos aus unterschiedlichsten Quellen gesichtet, 4000 Stunden Film- und Video-Archivmaterial und ein umfangreiches Pressearchiv zusammengetragen, um die faszinierende Geschichte der deutschen Hauptstadt von 1989 bis heute wie ein riesiges Puzzle rekonstruieren und aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln erzählen zu können: Berlins Weg von der eher provinziellen, vor allem für Künstler:innen und Aussteiger:innen interessanten Mauerstadt, zur gehypten Metropole, die am eigenen Erfolg zu ersticken droht.
Entstanden ist eine Oral History Berlins nach dem Mauerfall. Denn wer könnte die Geschichte der Stadt besser erzählen als diejenigen, die sie geschrieben und geprägt haben?
Zu Wort kommen prominente Verantwortliche aus Politik und Wirtschaft wie die ehemaligen Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) und Klaus Wowereit (SPD), Klaus-Rüdiger Landowsky (CDU), lange der »Strippenzieher der Berliner Politik« und die »graue Eminenz«, Renate Künast und Wolfgang Wieland, beide langjährige Fraktionsvorsitzende der Grünen im Abgeordnetenhaus, Thilo Sarrazin, ehemaliger SPD-Finanzsenator und höchst umstrittener Buchautor, sowie die Immobilienunternehmer Roland Ernst und Jürgen Leibfried, um nur einige zu nennen.
Aber die Geschichte Berlins nur auf Politik und Wirtschaft zu reduzieren, wäre ein unverzeihlicher Fehler, denn kaum eine Metropole der Welt wurde und wird so stark von der Subkultur und der Zivilgesellschaft geprägt wie Berlin. Und daher sollte eine Geschichte Berlins nicht ohne die starken Stimmen derjenigen erzählt werden, die Berlin mindestens so stark geprägt haben wie ihre Politiker:innen, Bürgermeister:innen und Immobilienmogule. Stellvertretend für die Subkultur und die Zivilgesellschaft blicken u. a. die Technopionier:innen Danielle de Picciotto, Johnnie Stieler und Dimitri Hegemann, die Rapper:innen Kool Savas und Sookee, der Musiker Peter Fox, die Autor:innen Marion Brasch, Alexander Osang und Güner Balci sowie Clanmitglied, Musiker und Schauspieler Mohamed Chahrour aus internationaler, Ost-Berliner und migrantischer Perspektive auf die Zeitläufte der Stadt.
Capital B ist eine Collage der Erinnerungen unserer Zeitzeug:innen aus ganz unterschiedlichen Milieus, ergänzt durch Presse-, Radio- und TV-Berichte, die die Erinnerungen unserer Protagonist:innen in die Diskurse der Zeit einbetten. Denn es gibt sie ja ohnehin nicht, die eine allgemeingültige Geschichte Berlins. Jedes Milieu dieser Stadt erzählt die Geschichte Berlins anders und aus ihrer jeweiligen besonderen und sehr subjektiven Perspektive.
Am Anfang von Capital B erleben wir die Stadt nach dem Mauerfall als verfallenes Paradies und Eldorado für Abenteurer aller Art. Ein Paradies, in dem für einen kurzen Moment der Geschichte alles möglich schien und so wild wie möglich geträumt werden durfte, auch wenn die Träume unserer Protagonist:innen kaum unterschiedlicher hätten sein können. In einer Hälfte der Stadt gab es schließlich keine Autoritäten mehr, die sich zuständig fühlten. Doch eines gab es im Überfluss: Raum. Raum für Abenteuer, Raum für Kultur, Raum für Projekte und Ateliers, Raum zum Wohnen. Aber auch Raum für Geschäfte und Spekulationen.
Wie passt dieses Berlin von 1990 zu dem, das wir heute vor uns sehen? Eine Metropole mit knapp vier Millionen Einwohner:innen, in die es zwar Millionen Menschen aus aller Welt zieht, in der aber seit Jahren Wohnungsnot und Mietwucher die großen Themen für die Bürger:innen sind. Eine Stadt, in der Millionen Quadratmeter Büroimmobilien leer stehen, aber für diejenigen, die sie zu dem gemacht hat, was sie heute ist, kein Platz mehr ist. Sie können sich schlicht nicht mehr leisten, hier zu leben. Davon, was dazwischen passiert und vielfach in Vergessenheit geraten ist, handelt dieses Buch.
In diesem Dazwischen erleben wir 35 Jahre Machtpolitik, Korruption, die Entstehung verschiedener Jugend- und Subkulturen, Häuserkampf und Kriminalität sowie den Aufstieg und Fall machthungriger Politiker und gieriger Unternehmer. Doch Capital B erzählt auch davon, wie die Bürger:innen Berlins sich seit drei Jahrzehnten wehren: gegen den Ausverkauf ihrer Stadt, ihre Verdrängung und dagegen, dass Berlin...