E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Neuhäuser Gewalt der Ungleichheit. Würde und Widerstand
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-15-962411-2
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Plädoyer für mehr Gerechtigkeit und eine bessere Verteilung der Vermögen
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-15-962411-2
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christian Neuhäuser, geb. 1977, ist Professor für Praktische Philosophie an der Technischen Universität Dortmund. Bei Reclam erschienen Wie reich darf man sein? sowie, zusammen mit Christian Seidel, Was ist Moralismus?.
Autoren/Hrsg.
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Ungleichheit und soziale Ungleichheit
Einer weit verbreiteten Meinung nach stellt nicht jede Ungleichheit auch eine soziale Ungleichheit dar. So gibt es etwa physische Ungleichheiten, die sozial irrelevant zu sein scheinen:
Wenn eine Frau 165 cm groß und eine andere Frau 167 cm groß ist, dann ist das in den meisten sozialen Kontexten ziemlich egal.
Auch zeitbezogene Ungleichheiten können irrelevant sein: Wenn ein Mann 1975 und ein anderer 1977 geboren wurde, dann macht das kaum einen Unterschied, wenn sich beide auf dieselbe Führungsposition bewerben.
Auf den ersten Blick macht es ebenfalls keinen Unterschied, ob jemand viele oder gar keine Sommersprossen besitzt. Es ist nicht unüblich, zwischen nichtsozialen Unterschieden und sozialen Ungleichheiten zu unterscheiden, um diesen Punkt zu verdeutlichen.
[16]Allerdings deuten diese scheinbar so harmlosen Beispiele bereits an, dass der Korridor, in dem sozial irrelevante Ungleichheiten bzw. Unterschiede zwischen Menschen vorkommen können, sehr klein sein könnte.
Im Beispiel der Körpergröße ändert sich die Lage sofort, wenn eine Person 150 cm und die andere 210 cm groß ist. Bei Männern etwa macht es mit Blick auf Schönheitsnormen in Ländern wie Deutschland sogar schon einen Unterschied, ob jemand 175 cm oder 182 cm groß ist. Wenn Menschen einer bestimmten Norm nach als zu klein gelten, haben sie einen rechtlichen Anspruch auf medizinische Behandlung, weil ansonsten mit ihrer Anlage Ausgrenzungen und Stigmatisierungen einhergehen.
Körpergröße ist jedoch nicht nur mit der Bewertung, sondern auch mit der Entstehung von sozialen Normen verknüpft. Eine gesunde und ausgewogene Ernährung hat neben anderen Faktoren einen erheblichen Einfluss auf die Körpergröße. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen ökonomischer Armut und Körpergröße. Forscher haben beispielsweise untersucht, dass Kinder in strukturschwachen Regionen in Brandenburg im Durchschnitt deutlich kleiner sind als in anderen Gegenden in Deutschland.6
Es ließen sich noch viele weitere einfache Beispiele für die soziale Bedeutung zunächst harmlos wirkender Ungleichheiten finden, die dann eben nicht einfach nur Unterschiede sind: Wenn sich auf eine Führungsposition unter anderen auch zwei Personen bewerben, die 1955 oder 1995 geboren wurden, dann könnte die eine Person allein aufgrund ihres Alters aussortiert werden, weil sie entweder als zu alt oder als zu jung gilt. Hier sind mit dem Alter als zunächst bloß physikalischer und vielleicht noch biologischer Größe recht eindeutige soziale Vorstellungen und Erwartungen verbunden: Sehr jungen Menschen mangele es vielleicht an Erfahrung und Gelassenheit, sehr alten Menschen mangele es vielleicht an Ausdauer und Durchsetzungskraft. Diese sozialen Stereotype sind mit dem Lebensalter verbunden und haben einen erheblichen Einfluss auf Praktiken [17]wie hier die Einstellung von Mitarbeiterinnen.7 Wieder wird aus einem scheinbar natürlichen Unterschied sehr schnell eine soziale Ungleichheit.
Dasselbe gilt für so etwas Alltägliches wie Sommersprossen: Eigentlich handelt es sich dabei nur um Pigmentablagerungen in der Haut, die oft durch Sonnenstrahlung hervorgerufen oder verstärkt werden. Doch wir alle wissen, dass mit diesem Merkmal ästhetische Urteile einhergehen: Im viktorianischen England galten sie als hässliche Flecken, die unbedingt entfernt werden müssten. Zu diesem Zweck wurden Mittel angeboten, die häufig hochgiftiges Quecksilber enthielten. Auch heute können z. B. auf dem Schulhof Sommersprossen noch ein Anlass für unschöne Hänseleien sein. In der Modebranche und in sozialen Medien hingegen gelten Sommersprossen als Schönheitsmerkmal. Es gibt permanentes Make-up und Programme zur Bildbearbeitung, die Sommersprossen extra erscheinen lassen. Kurz: Rein physische Merkmale werden auch hier mit einer sozialen, in diesem Fall mit einer ästhetischen Bedeutung aufgeladen.
Die Beispiele zeigen, dass vielleicht nicht alle Unterschiede zwischen Menschen auch soziale Ungleichheiten sind, aber alle Ungleichheiten sein könnten.
Warum ist das so? Darauf gibt es zwei Antworten:
1. Alle Unterschiede können mit sozialer Bedeutung aufgeladen werden. Dafür braucht es nur ein entsprechendes Narrativ, das auf das Denken und Handeln der Menschen einwirkt.
2. Fast alle Ungleichheiten sind in sozialen Prozessen entstanden oder in ihrer Entstehung mit sozialen Prozessen kausal verbunden, wie Larry Temkin (geb. 1954) und Thomas Scanlon (geb. 1940) in ihren philosophischen Reflexionen über Ungleichheit gezeigt haben.8 Sowohl Genese als auch Geltung von Ungleichheiten, so könnte man sagen, sind also sozial.
Es lohnt sich, beide Zusammenhänge etwas genauer zu betrachten, um die Fragen danach besser zu verstehen, was Ungleichheit ausmacht, was an ihr ungerecht ist und wann sie gewaltsam wird.
[18]Was bedeutet es also, dass Ungleichheiten mit sozialer Bedeutung aufgeladen sind? Zur Beantwortung dieser Frage ist es wichtig, den zutiefst sozialen Charakter der menschlichen Lebensweise zu verstehen. Einem relativ schlanken und hoffentlich nicht allzu kontroversen Verständnis von menschlicher Gesellschaft nach bewegen und begegnen sich Menschen immer in sozialen Strukturen und im Rahmen sozialer Institutionen. Sie sind vertraut mit sozialen Werten und sozialen Narrativen, die ihnen selbst und ihrer Umwelt eine spezifische Bedeutung geben. All dies liefert Orientierung, aber auch relativ klare Grenzen für die persönliche Lebensführung. Menschen sind also zutiefst soziale Wesen. Wie Menschen individuell leben, wie sie die Welt sehen und was sie für wertvoll halten, wird in sozialen Prozessen mitbestimmt.9
Strukturen und Institutionen, Narrative und Werte bilden die Grundlage auch für die soziale Dimension von Ungleichheiten. Je nachdem, welche Rolle verschiedene Ungleichheiten im Kontext dieser sozialen Faktoren spielen, erhalten sie auch eine unterschiedliche soziale Bedeutung.
Um beim Beispiel der Körpergröße zu bleiben, lässt sich dieser Zusammenhang anhand solch eines zufälligen Beispiels wie der Regelung der Mindestkörpergröße bei der Polizei in Nordrhein-Westfalen aufzeigen. Dort müssen Polizistinnen und Polizisten mindestens 163 cm groß sein. Andere Polizeibehörden haben solch eine Regelung nicht. Die Polizei NRW rechtfertigt ihre Regelung damit, dass Polizeibeamte eine gewisse »Physis« – wie sie es ausdrückt – haben müssen, die für ihren eigenen Schutz, ihre Sicherheit und ihre Gesundheit sowie diejenige ihrer Kolleginnen wichtig ist. Diese Regelung wurde gerichtlich bestätigt.10 Die Regel der Polizei NRW als sozialer Institution macht aus scheinbar natürlichen Unterschieden wie der Körpergröße eine soziale Ungleichheit. Wer nur 162 cm an Körpergröße erreicht, ist zu klein für den Polizeidienst.
Nun besteht zwischen Größe und physischer Leistungsfähigkeit kein unmittelbarer Zusammenhang, sondern höchstens [19]in Form einer statistischen Wahrscheinlichkeit. Auf entsprechende Kritik hat die Polizei NRW daher auch einen individuellen Eignungstest für kleinere Menschen eingeführt, der ihnen dennoch einen Weg in den Polizeidienst eröffnen kann, wenn er bestanden wird.
Das ist sicher ein Fortschritt, ändert jedoch nichts daran, dass die Körpergröße nunmehr eine bestimmte soziale Bedeutung hat. Doch was ist eigentlich diese Bedeutung?
Der springende Punkt scheint hier darin zu bestehen, dass durch Praktiken wie diejenige der Polizei NRW gleich eine ganze Reihe von Bedeutungen erzeugt werden. Eignung für den Polizeidienst ist die erste. Doch kommt unmittelbar das Urteil physischer Robustheit und Durchsetzungskraft hinzu, was der Polizei ja als Rechtfertigung der Regel galt. Man kann sich leicht vorstellen, dass verbreitete derartige Zuschreibungen zu einem allgemeineren Urteil über einen Zusammenhang zwischen Körpergröße und Leistungsfähigkeit führen könnten. Das wiederum könnte den Effekt haben, dass Menschen allein aufgrund ihrer Körpergröße positiv beurteilt werden und ihnen sogar eine besondere soziale Stellung zugeschrieben werden könnte.11 Schließlich führt dies vielleicht dazu, dass mit der Körpergröße auch Urteile über die Attraktivität eines Menschen einhergehen.
Ein scheinbar bloß natürlicher Unterschied wie Körpergröße wird also durch Interaktionsprozesse und soziale Praktiken zu einer vielfachen sozialen Ungleichheit mit Blick auf solche Faktoren wie Zugang zu Berufen, Urteile über die individuelle Leistungsfähigkeit, die gesellschaftliche Stellung und die Persönlichkeit eines Menschen. Sie prägt soziale Strukturen und Institutionen zumindest mit.
Ähnliches gilt für andere physische und mentale Ungleichheiten. Möglicherweise gibt es unterschiedliche mathematische Fähigkeiten, die angeboren sind. Welche Bedeutung diese haben, hängt allerdings in hohem Maße von gesellschaftlichen Umständen ab. Ganz plakativ gesprochen tragen mathematische Fähigkeiten in einer Kriegergesellschaft weniger aus als in einer [20]Händlergesellschaft. In einer Wissenschaftskultur, um ein weniger drastisches Beispiel zu geben, in der die Geisteswissenschaften als die höchsten Wissenschaften gelten, sind mathematische Leistungen weniger bedeutsam als in einer Kultur, in der die...