Neudeck Es gibt ein Leben nach Assad
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-406-65445-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Syrisches Tagebuch
E-Book, Deutsch, Band 6111, 192 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-65445-9
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rupert Neudeck leistet mit seinen "Grünhelmen" seit Sommer 2012 im Norden Syriens humanitäre Hilfe. Seit dieser Zeit hat er ein Tagebuch geführt, das ins Innere des syrischen Bürgerkriegs führt.
Im Norden Syriens liegt die Hochburg der Rebellen. Entsprechend sind die Städte und Dörfer der Region permanent den Angriffen von Assads Luftwaffe ausgesetzt. Die Infrastruktur ist bereits stark zerstört. Die "Grünhelme" bemühen sich, in der Gegend um die Stadt Azaz wenigstens Krankenhäuser und Schulen funktionsfähig zu halten. In seinem Tagebuch hat Rupert Neudeck seine Erlebnisse und Beobachtungen festgehalten und zeigt, wie ein Bürgerkrieg die Gesellschaft und ihre Menschen verändert. Das Buch führt aber auch nach Deutschland, schildert Neudecks Versuche, weitere humanitäre Hilfe für das Land zu ermöglichen, und führt immer wieder in die Vergangenheit des Landes und der Region ohne die sich die aktuellen Ereignisse nicht verstehen lassen. So ist dieses Tagebuch auch ein tastender, sich stets durch neue Ereignisse selbst hinterfragender Versuch zu verstehen, wie es zu der syrischen Tragödie kommen konnte und wie sie zu beenden ist. Denn eines ist sicher: Es gibt ein Leben nach Assad.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Erkundungsreise ins Grenzgebiet
Cüveçci Köyü, 14. Juli 2012 Es ist uralt biblisches Gebiet, in das wir uns aufmachen, das Gebiet des kleinen Fingers, der als türkisches Territorium in das Staatsgebiet von Syrien hineinragt: Hatay, Antakya. Das ist das Antiochien, das in den Briefen des Apostels Paulus eine so große Rolle spielt und in der Apostelgeschichte. Ich nehme Hidir mit, einen Deutsch-Kurden, der für die Grünhelme in Ruanda gearbeitet hat. Hidir Simsek, der für uns beide ein Quartier besorgt und, wenn möglich, auch über die Grenze nach Syrien mit mir gehen will. Wir haben kurz vorher den großen Artikel von Wolfgang Bauer gelesen: «Es gibt ein Leben nach Assad», der am 12.Juli in der ZEIT erschienen ist. Er hat geschrieben, dass die Revolution in Azaz schon fast gesiegt hat. Wir wollen sehen, ob wir vielleicht dorthin gelangen können. Gestern Abend sind wir losgeflogen nach Hatay und dort nach Mitternacht angekommen, Hidir hat für mich gedolmetscht, wir haben ein Taxi genommen und für eine Nacht in einem kleinen Hotel eingecheckt. Dann haben wir uns erst einmal dem Schlaf der Gerechten hingegeben. Heute gehen wir herunter zum Frühstück und haben die üblichen Gewürze des Nahen Ostens schon am frühen Morgen in der Nase. Danach machen wir uns auf, erst einmal in Richtung Süden nach Güveçci Köyü, an die türkisch-syrische Grenze. Das Dorf liegt im südlichsten Zipfel der Türkei, in gerader Linie westlich der syrischen Provinzhauptstadt Idlib. Auf syrischer Seite befindet sich ein Gebiet, das, wie das Umland von Azaz, weitgehend in der Hand der syrischen Rebellen sein soll. Wir wollen herausfinden, ob es schon einen Weg hinüber gibt und ob es jenseits der Grenze einigermaßen sicher ist. In Güveçci Köyü fällt uns sofort auf, wie freundlich und hilfsbereit die türkische Bevölkerung mit den syrischen Flüchtlingen umgeht. In den großen Städten Antiochiens gibt es viele Aleviten, die es nicht selten mit Baschar al-Assad halten. Aber hier in den Dörfern im Süden leben vor allem sunnitische Stämme, die den Schutz suchenden Syrern sehr gewogen sind. Sie kommen in großer Zahl aus den grenznahen Gebieten, aber auch von weiter her. Offenbar wird die Grenze von syrischer Seite nur noch lückenhaft überwacht. In Göveçci Köyü sind bereits 150 Syrer untergekommen. Eine Familie allein hat in ihrem Haus drei Frauen mit sieben Kindern aufgenommen, zu denen es keine Verwandtschaftsbande gibt. Die Männer sind meist im Feld geblieben. Sie schicken ihre Familien in die Türkei, um sie in Sicherheit zu bringen. Wir sitzen nur drei Stunden beim Bürgermeister des Dorfes, einem tatkräftigen Vertreter seiner Gemeinde. In dieser Zeit kommen wieder zwei syrische Familien an. Ich vermute, dass die offizielle Zahl der von der türkischen Regierung aufgenommenen registrierten Flüchtlinge eher verdoppelt werden muss. In der letzten Woche wurde die Zahl von 38.914 Flüchtlingen aus dem syrischen Bürgerkriegsgebiet genannt. Die Stimmung hier ist positiv diesen Syrern gegenüber. Die Wut der Menschen auf der türkischen Seite der Grenze richtet sich auf Russland, China und den Iran, die weiterhin das alte abgehalfterte Regime von Baschar al-Assad unterstützen. Ansonsten wäre dieses schon gefallen, meinen sie. Sie halten auch den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan, der als UN-Sondergesandter für Syrien amtiert, für einen Verräter an der Sache der syrischen Brüder und Schwestern. Man muss ihn in ihrem Beisein in Schutz nehmen, denn er bemüht sich, hat aber kaum Macht. Erschreckend ist die Angststarre der geflohenen Syrer, die sich auch in der Türkei noch von Assads Geheimdiensten verfolgt wähnen. Einer will nicht einmal zur Behandlung seines zerschossenen Beines nach Antakya, weil er gehört hat, dass dort Geheimdienstagenten eine menschenwürdige Behandlung verhindern. Mindestens 15 Geheimdienste mit insgesamt 250.000 Mitarbeitern haben Vater Hafiz und Sohn Baschar aufgebaut. Angst legt sich über alles, was die Menschen sagen und erklären wollen. Güveçci Köyü, 15. Juli 2012 Der Bürgermeister von Guveçci Köyü findet unsere Idee hervorragend, in den befreiten Gebieten jetzt schon etwas mit Ärzten und Handwerkern von den Grünhelmen vorzubereiten. Dann käme man aus dem unendlichen Gerede der Politik heraus. Er bot uns ein Depot und ein Quartier an, wenn wir hier schon anfangen wollten zu arbeiten, bevor die Grenze aufgeht. Syrische Flüchtlinge und Einheimische in Güveçci Köyü, im Vordergrund neben Rupert Neudeck der Bürgermeister des Ortes. Heute Vormittag trafen im Dorf Vertreter der türkischen Organisation IHH (International Humanitarian Help) ein, die eine große Ladung überlebensnotwendiger Hilfsgüter verteilen. Der Bürgermeister selbst führt die Liste, wer was bekommen soll. Die IHH hat ihn zu ihrem Vertreter ernannt. Gleichzeitig taucht eine geheimnisvolle hohe Delegation von Scheichs aus Kuwait in einem klimatisierten schwarzen Wagen auf und wird vom Bürgermeister in die Topographie und Geopolitik des Krieges hinter der nur wenige Steinwürfe weit entfernten Grenze eingeführt. Heute Nachmittag haben Hidir und ich uns im Grenzgebiet umgesehen. Von Güveçci Köyü aus führt ein Pfad bis nach Syrien hinein. Wir wollen erkunden, ob man illegal über die Grenze gelangen kann und wie die Sicherheitslage ist. Offiziell ist der Übertritt für humanitäre Hilfsorganisationen von türkischer Seite nicht gestattet. Aber das Grenzgebiet bei Güveçci Köyü ist bergig und einsam, so dass wir von den türkischen Polizisten wenig zu befürchten haben. Als wir den letzten Berg hochsteigen und auf der Grenze sind, sehen wir eine befreite Ortschaft. Es gibt unterhalb des Berges ein Rebellencamp, das wir aber nicht besuchen wollen, weil wir als Humanitäre nicht zur Versorgung mit Waffen beitragen können und auch nicht wollen. Sicher ist, dass die Grenze nicht mehr ganz von den syrischen Regierungstruppen beherrscht wird. Sonst hätten wir nicht so problemlos zu ihr vordringen können. Auch gibt es befreite Zonen. Aber was wir von den Menschen hören, die uns begegnen, legt nahe, dass die Lage in diesem Gebiet noch instabil ist. Wir gehen daher nicht nach Syrien hinein. Die syrischen Regierungstruppen kämpfen um ihr Leben, weil sie nicht sicher sein können, ob eine Desertion jetzt noch akzeptiert wird von der Bevölkerung. Zudem gibt es weiter Terror aus der Luft. In der letzten Nacht haben wir Schusswechsel von jenseits der Grenze gehört und die Explosionen von Bombenangriffen der syrischen Luftwaffe. Assad hat noch nicht aufgegeben. Antakya, 17. Juli 2012 Der Held meiner Erlebnisse an der türkisch-syrischen Grenze ist ein Arzt: Dr. Hassan Naggar. Er ist Jahrgang 1935, aber das sieht man ihm nicht an. Er hat in Antakya, wo wir seit gestern sind, eine Klinik eröffnet, die ganz aus eigenen Mitteln bestückt wurde, mit kleiner Chirurgie und Notfallmedizin. Dr. Hassan hat die Tür offen für alle syrischen Kriegsverletzten. Er ist ein Syrer, der hervorragend Deutsch spricht, so gut, dass man zwischendurch badische und niedersächsische Elemente erkennt. 30 Jahre hat er in Deutschland gearbeitet. Und ist heute noch kein bisschen müde oder im Ruhestand. Er hat bestimmt schon 300 syrische Kriegsopfer behandelt. Einen jungen verletzten Syrer traf ich an der Grenze bei Güveçci Köyü, der begeistert von diesem Dr. Hassan erzählte, und dass er seine Wunde versorgt hätte. Er widmet sich voll und ganz den «syrischen Revolutionären», wie er in seiner jung-alten Sprache begeistert sagt. Er setzt darauf, dass in Syrien eine neue Zeit ohne Baschar al-Assad beginnt. Die türkische Gesellschaft und die türkische Regierung leisten Hervorragendes bei der Versorgung der syrischen Flüchtlinge. Die Bereitwilligkeit, mit der die Bevölkerung hilft, kann man nur bewundern. Sie leistet aus eigenem Antrieb vielleicht sogar mehr, als ihre Regierung eigentlich will. Zumindest ist diese eifrig bemüht, die türkische und internationale Öffentlichkeit von den Flüchtlingen fernzuhalten. Wir hatten bereits vor Beginn unserer Reise beim türkischen Botschafter in Berlin und über die deutsche Botschaft in Ankara um Erlaubnis gebeten, die Flüchtlingslager besuchen zu dürfen – vergeblich. Nur ab und an erhalten ausgewählte Journalisten eine solche Genehmigung. Nun hatten wir gestern in dem Ort Yayladagi vor der Abfahrt unseres Busses nach Antakya noch Zeit und deshalb wollten wir versuchen, uns ein in der Nähe gelegenes Lager wenigstens von außen anzusehen. Hidir fragte einen türkischen Polizisten nach dem Weg und erhielt die Auskunft, es seien gerade einmal 600 Meter. Wir hatten allerdings erst 300 davon zurückgelegt, als schon ein Wagen scharf neben uns bremste und drei Polizisten heraussprangen. Sie hielten uns an und fragten nach unseren Pässen. Hidir erstarrte zur Salzsäure, musste aber weiter für mich übersetzen. Ich fragte betont harmlos, was denn sei. Wir wären Touristen und gingen spazieren. Ob das verboten wäre? Doch die Beamten nahmen ungerührt unsere Personalien auf. Da griff ich zu meinem alten Trick und...