E-Book, Deutsch, 439 Seiten, E-Book
Reihe: Systemisches Management
Modelle und Instrumente für Berater und Entscheider
E-Book, Deutsch, 439 Seiten, E-Book
Reihe: Systemisches Management
ISBN: 978-3-7910-6110-8
Verlag: Schäffer-Poeschel Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Reinhart Nagel war Organisationsberater und Partner der osb International, Wien. Seine Beratungsschwerpunkte waren komplexe organisatorische Veränderungsprojekte wie die Gestaltung geeigneter Organisationsdesigns sowie die Begleitung von Managementteams bei der Strategieentwicklung. Er verstarb im November 2017.
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Vorwort zur aktualisierten und ergänzten 6. Auflage
Besondere Herausforderungen für die Führung und die Strategieentwicklung von Unternehmen im Globalisierungsprozess
Was verändert sich durch die aktuelle Globalisierungsdynamik?
Wir sind seit Längerem Zeugen eines Prozesses, der unsere Welt zu einer in vielen Bereichen integrierten, einheitlichen Weltgesellschaft zusammenwachsen lässt. Die Auflösung der über die Jahrzehnte prägenden Dichotomie von Ost und West, der Wegfall der identitätsstiftenden Konkurrenz konfligierender Gesellschaftsentwürfe hat dieses Zusammenwachsen in den zurückliegenden Jahren enorm beschleunigt. Die gesellschaftlichen und sozialen Folgen, die mit diesem Strukturwandel verknüpft sind, sind durchaus mit den Zumutungen vergleichbar, die in Europa der Prozess der Industrialisierung im 19. Jhd. für eine primär agrarisch wirtschaftende, feudal verfasste Gesellschaft bedeutet hat.
Wenn wir von den Begleiterscheinungen der Globalisierung sprechen, dann meinen wir vor allem das Phänomen, dass das Identitätsstiftende des gemeinsamen Ortes, eines regional abgegrenzten sozialen Raumes weitestgehend verloren gegangen ist. Immer seltener bestimmen lokal eingrenzbare Gegebenheiten in einem dominanten Maße die entscheidenden Rahmenbedingungen für die Lebensführung der Menschen. Der Prozess der Globalisierung lässt inzwischen auch die hintersten Winkel der Welt nicht mehr unberührt. Die schützenden Grenzen vertrauter Zugehörigkeiten (räumlicher wie sozialer, ethnischer und kultureller Natur) sind wohl unwiederbringlich in sich zusammengebrochen und für immer verloren. »Genau dieses historisch einmalige Zusammenspiel von Gesellschaftlichkeit und Territorialität zerbricht« (Willke 2013, S. 62) und neue, Sicherheit gebende Orientierungsmöglichkeiten zeichnen sich noch nicht wirklich ab.
Besonders kennzeichnend für die zurückliegende Phase der Globalisierung ist der Umstand, dass dieser weltweite Integrationsprozess in bestimmten gesellschaftlichen Funktionssystemen wie der Wirtschaft, der Wissenschaft, dem Sport, der Kunst bereits sehr weit fortgeschritten ist, während andere Funktionssysteme wie die Politik, das Recht, die Bildung und die Erziehung, die Gesundheit und wohlfahrtsstaatliche Sicherung noch weitestgehend innerhalb der tradierten nationalstaatlichen Grenzen operieren (vgl. Stichweh 2000). Gerade aus dieser Ungleichzeitigkeit erklären sich viele Spannungsfelder, die schon seit Jahren in unterschiedlicher Intensität die Öffentlichkeit bewegen. Ein Beispiel für diese Ungleichzeitigkeiten und ihre Begleiterscheinungen bieten die aktuellen Dynamiken in der europäischen Union bzw. in der Eurozone, wo eingespannt zwischen den unkontrollierbaren Wechselwirkungen einer Bankenkrise, einer ausufernden Staatsverschuldung, verunsicherter Finanzmärkte, stagnierender realwirtschaftlicher Wachstumstraten versucht wird, eine die beteiligten Mitgliedsstaaten übergreifende wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit zu gewinnen und die dafür erforderlichen institutionellen Rahmenbedingungen Schritt für Schritt zu schaffen. Gerade die Dynamik der Finanzmarktkrise 2008/2009 und die daran anschließende Weltwirtschaftskrise haben uns gelehrt, wie verflochten inzwischen die wirtschaftlichen Zusammenhänge sind und wie sehr nationale Ungleichgewichte im gesamteuropäischen Kontext problemgenerierend wirken. Was ein entfesselter, weitgehender deregulierter, weltweit hochvernetzt operierender Finanzsektor auslösen kann und wie stark das politische System im Grunde genommen als krisenverstärkendes Moment in diese Dynamik eingebaut ist, ist in den letzten Jahren für den aufmerksamen Betrachter eindrucksvoll zu beobachten (vgl. dazu die gleichermaßen anschauliche wie profunde Analyse von Rajan 2012).
Eine Vielzahl anderer Beispiele lassen sich in der internationalen Sicherheitspolitik, in der Entwicklungszusammenarbeit, in den Auseinandersetzungen um das Phänomen des Klimawandels, der Energie- und Rohstoffversorgung etc. beobachten. Helmut Willke bringt die hier angedeutete Ungleichzeitigkeitsproblematik der globalen Entwicklung treffend auf den Punkt: »Die soziologische und soziale Problematik von Globalisierung und Globalität liegt darin, dass die bislang nationalstaatlich verfassten Gesellschaften durch die Herauslösung bestimmter Funktionssysteme – wie etwa Ökonomie, Wissenschaft oder Kunst – aus dem Kontext territorialer Einbindung und gesellschaftlicher Selbststeuerung in ihren Fundamenten erschüttert werden, während neue Formen der Restabilisierung noch nicht erkennbar sind« (ders. 2013, S. 61).
Angesichts dieses Befundes müssen wir realistischer Weise auch in Zukunft vor allem mit Blick auf die zyklische Eigenlogik des Finanzsystems mit wiederholten krisenhaften Verwerfungen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung rechnen. Deshalb ist es von besonderer Bedeutung, in einer größeren Detailschärfe der Frage nachzugehen, ob überhaupt und in welche Richtung sich die Grundmuster des Globalisierungsgeschehens gerade ändern. Im Globalisierungsdiskurs wird nämlich oft eingewendet, dass hier ein gesellschaftliches Phänomen und seine umwälzenden Folgen beschworen werden, das historisch gesehen überhaupt nicht neu ist. Dem ist durchaus zuzustimmen. Schon im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert beobachten wir einen Grad an internationaler Vernetzung der wirtschaftlichen Austauschbeziehungen, der auch aus dem Blickwinkel der Gegenwartsgesellschaft höchst erstaunlich war. Bedingt durch die Folgen der beiden Weltkriege wurde dieses Niveau erst wieder in den letzten Jahrzehnten des 20. Jhd. erreicht. Ungeachtet dieser langen Vorgeschichte der Globalisierung gehen wir im Moment von der Annahme aus, dass wir uns in der allerjüngsten Zeit auf einen massiveren weltwirtschaftlichen Strukturwandel zubewegen, der es berechtigt erscheinen lässt, von einem grundlegenden Musterwechsel in der Internationalisierungsdynamik von Unternehmen zu sprechen.
Was genau ist da in Veränderung begriffen?
Dass Unternehmen in der Vergangenheit über ihre schon eingespielten Exportaktivitäten hinaus weitere Internationalisierungsschritte unternommen haben, hatte lange Zeit relativ simple strategische Gründe. Es ging vielfach darum, einerseits ganz bestimmte Faktorkostenvorteile, die sich durch die globalen Entwicklungsunterschiede boten, zu lukrieren (Lohnkosten, Steuervorteile, Zugang zu Rohstoffen etc.). Zum anderen winkten durch die Internationalisierung zusätzliche Wachstumschancen, indem es galt, für das eigene Produktportfolio neben dem Heimmarkt weitere Absatzmärkte zu erschließen. Diesen klassischen Treibern des Internationalisierungsgeschehens wurde durch die enormen Innovationen in den Informations- und Kommunikationstechnologien sowie durch die Produktivitätssprünge in der Logistik schrittweise die letztlich auch heute noch erfolgskritischen Rahmenbedingungen geschaffen. Diesem Internationalisierungsgeschehen der letzten Jahrzehnte lagen ganz bestimmte Annahmen zu den Grundstrukturen einer globalen wirtschaftlichen Arbeitsteilung zugrunde. Folgt man diesen Annahmen, dann passiert die eigentliche Wertschöpfung in der entwickelten Welt. Dorthin fließen folgerichtig auch die Gewinne zurück. Der Rest der Welt kann nur in Abhängigkeit dazu an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung teilhaben.
Spätestens seit der jüngsten Weltwirtschaftskrise ist unübersehbar, dass sich diese klare Asymmetrie aufzulösen beginnt und sich die weltwirtschaftlichen Gewichte deutlich verschieben. In den gesellschaftlich hochentwickelten Weltregionen hat sich die Wachstumsdynamik merklich abgeflacht. Vor allem in Europa ist auf mittlere Sicht nicht davon auszugehen, dass sich die gewohnten Wachstumsraten der zurückliegenden Jahrzehnte wieder einstellen werden. Skeptiker sprechen bereits von einer »Postwachstumsgesellschaft« (vgl. dazu Seidl/Zahrnt 2010) und stellen sich die Frage, ob wir uns nicht insgesamt von der Vorstellung verabschieden müssen, dass ein permanentes Wirtschaftswachstum die unabdingbare Voraussetzung für eine gedeihliche Wohlstandsentwicklung ist. In den USA kämpft man mit den Folgen eines schon lange währenden Deindustrialisierungsprozesses, im Zuge dessen das wettbewerbsbestimmende Produktions-Know-how in vielen Industrien nach Asien abgewandert ist. Zwar wird die veränderte Energiesituation in den Staaten (Stichwort Erdgasgewinnung aus tieferen Gesteinsschichten) aller Wahrscheinlichkeit nach in der US-amerikanischen Wirtschaft eine gewisse Re-Industrialisierung befördern. Das wird aber mit großer Sicherheit an den bereits erfolgten Umschichtungen der Wirtschaftskapazitäten im globalen Maßstab nichts Grundlegendes ändern. Weltwirtschaftlich betrachtet liegen die relevanten Wachstumspotenziale heute in den sogenannten Schwellenländern bzw. in jenen Ländern (z. B. Afrikas), die sich gerade am Sprung auf deren Entwicklungsniveau befinden. Dorthin haben sich die strategischen Schwerpunkte verlagert.
Diese Veränderungen verschaffen den Schwellenländern in den sich weiter intensivierenden Wettbewerbsauseinandersetzungen zwischen den einzelnen Weltregionen eine ganz andere Position, als das bislang der Fall war (vgl. Ghemawat 2010). Die Grundstrukturen weltweiter Wertschöpfungsaktivitäten verlieren ihre jahrzehntelang eingeübte Asymmetrie. Die unternehmerische Dynamik und...