E-Book, Deutsch, 350 Seiten
Müller-Funk / Faber / Unterkofler Avantgarden in Zentraleuropa
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8463-6016-3
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andere Räume, andere Bühnen
E-Book, Deutsch, 350 Seiten
ISBN: 978-3-8463-6016-3
Verlag: UTB
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Publikationen zum Thema ‚Avantgarde‘ erscheinen in der Regel in verschiedenen Nationalsprachen und sind so Teil von nationalen Diskussionen, die von außen schwer zu verfolgen sind. Dieses Studienbuch erschließt die avantgardistische Kultur Zentraleuropas in einer Gesamtschau. Die Region Zentraleuropa findet sich auf keiner Landkarte – sie bildet aber eine spezifische Einheit, die sich insbesondere historisch und kulturgeschichtlich als geschlossenes Biotop anschauen lässt. Verhandelt werden als bedeutend erachtete Künstlerpersönlichkeiten, sogenannte Zentren, sogenannte Peripherien und als paradigmatisch geltende Bewegungen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I. Einleitung und Rahmen
1. Für eine Geschichte der Avantgarden der kleinen Länder
2. Theorien der Avantgarde nach Peter Bürger
3. Vier Phasen der Avantgarde, vier historische Avantgarden
4. Zentrum und Peripherie
5. Moderne und Avantgarde
6. Aufbau des Buches
7. Überblick
Jugoslawien und der postjugoslawische Raum (Dietmar Unterkofler)
1. Überblick
2. Manifeste und Programmatisches
3. Personen und Werke
Chronologie
Österreich (Wolfgang Müller-Funk / Alexandra Millner)
1. Überblick
2 Manifeste und Programmatisches
3 Personen und Werke
Chronologie
Polen (Kalina Kupczy ska / Beata niecikowska)
1. Überblick
2. Manifeste und Programmatisches
3. Personen und Werke
Chronologie
Rumänien (Imre Balazs)
1. Überblick
2. Manifeste und Programmatisches
3. Personen und Werke
Chronologie
Tschechoslowakei, Tschechien und Slowakei (Zuzana íhová)
1. Überblick
2. Personen und Werke
3. Manifeste und Programmatisches
Chronologie
Ukraine (Vera Faber)
1. Überblick
2. Manifeste und Programmatisches
3. Personen und Werke
Chronologie
Ungarn (Károly Kókai)
1. Überblick
2. Manifeste und Programmatisches
3. Personen und Werke
Chronologie
Bibliographie
Abbildungsverzeichnis
Register
2. Theorien der Avantgarde nach Peter Bürger
Es gehört zur Eigenart wissenschaftlicher Begriffe, dass ihre Bedeutung nicht stabil bleibt. Sie unterliegt Schwankungen, die mit veränderten Diskurslagen und Kontexten zusammenhängen. Im deutschsprachigen Raum haben sich jene Zuschreibungen, Bestimmungen und Definitionen als besonders langlebig und bestimmend erwiesen, die Peter Bürger in seinem 1971 erstmals erschienenen Buch Theorie der Avantgarde entwickelt hat. Der zeitliche Abstand eines halben Jahrhunderts hat daran wenig geändert, auch wenn Bürgers Studie, die, zuweilen auch kritisch, an ästhetische Überlegungen von Adorno, Benjamin und Marcuse anschließt, natürlich selbst historisch geworden ist. So lässt sie sich heute selbst als wichtiges Dokument einer verspäteten Rezeption einer kontinentaleuropäischen Avantgarde verstehen. Bürger hebt einen Aspekt hervor, dem bei Adorno, etwa in seiner posthum erschienenen Ästhetischen Theorie kaum Augenmerk geschenkt wird, die Tatsache nämlich, dass „in den historischen Avantgardebewegungen Formen der Aktivität entfaltet worden sind, die sich in keiner Weise mehr adäquat unter die Werkkategorie fassen lassen: z. B. die dadaistischen Veranstaltungen, die die Provokation des Publikums zu ihrem erklärten Ziel machen.“ Es gipfelt in der „Liquidierung der Kunst als einer von der Lebenspraxis abgespaltenen Tätigkeit.“ Und: „[…] der Akt der Provokation selbst nimmt die Stelle ein.“ Insofern propagiert sie eine Kunst jenseits der bürgerlichen Welt und ihrer individuellen Produktions- und Rezeptionsformen. Bürgers Paradebeispiel ist Marcel Duchamps 1917 erstmals ausgestelltes Readymade Urinoir. In diesem eher strukturellen Charakteristikum sieht Bürger „die Radikalität des Bruchs mit dem bisher Geltenden.“ Diese Beschreibung bleibt in Bürgers Studie vor allem der ‚klassischen‘ Phase der Avantgarde vorbehalten, die man zeitlich im Sinne von Asholt und Fähnders auf die Jahre 1909 bis 1938 datieren kann, also auf den Zeitraum zwischen dem ersten futuristischen Manifest Marinettis und dem Zweiten Weltkrieg, der mit der Besetzung großer Teile Europas durch das nationalsozialistische Großdeutsche Reich beginnt, das avantgardistische Aktivitäten rigoros unterbindet. Provokation, Manie des Neuen, Absage an das geschlossene organische Kunstwerk, Bruch und Fragment, Sinnauflösung und Fokussierung auf Zufall und Kontingenz sind Bürger zufolge jene charakteristischen Momente, die sich in Dada, Futurismus und Surrealismus nachweisen lassen – auf den Konstruktivismus, der als Avantgarde im nachrevolutionären Russland, im weimarischen Deutschland aber auch in den in diesem Band besprochenen kleinen Ländern eine maßgebliche Rolle spielte, geht Bürger nicht eigens ein, ebensowenig wie auf die immer wieder diskutierte Frage, nachdem Verhältnis zwischen Strömungen wie Expressionismus und Neue Sachlichkeit, zwei deutschen Phänomenen, und der Avantgarde. Modernistische Strömungen wie Kubismus oder Informel inspirierten die Avantgarde, begleiteten sie oder nutzten Errungenschaften von diesen. Sie zeigen an, wie weit Avantgarde Teil der Moderne geworden ist. So gilt diese Beeinflussung auch umgekehrt. Im modernistischen Werk von Paul Celan haben seine Erfahrungen mit den Surrealisten in Bukarest in den Jahren 1945 bis 1947 ihre Spuren nachhaltig hinterlassen. Den Kontrast zwischen historischer Avantgarde und den Neoavantgarden nach 1945, die nunmehr auch Länder wie z. B. die USA und Japan erfassen, sieht der Autor darin, dass in letzterer die Werkkategorie „restauriert worden ist und die von der Avantgarde in antikünstlerischer Absicht ersonnenen Verfahrensweisen zu künstlerischen Zwecken gebraucht wurden.“ Diese Gegenüberstellung scheint nicht ganz plausibel, hat doch schon Duchamp seine Readymades als künstlerisch wie antikünstlerisch verstanden. Und dass das neoavantgardistische Werk des seinerzeit der Fluxus-Bewegung nahestehenden Künstlers Daniel Spoerri (Ungarische Gemüsekiste, 1964) ähnlich wie jenes von Duchamp das traditionelle ‚bürgerliche‘ Kunstwerk in Frage stellte, lässt sich wohl schwerlich bestreiten. Was bei Bürger insgesamt zu kurz kommt, ist die Tatsache, dass die Kulturkämpfe im Gefolge der 1968er-Bewegung das bürgerliche Kunstverständnis nachhaltig erschüttert haben. „Daß die Avantgarde heute (1971, A. d. V) historisch ist“, muss also andere Gründe haben. Dieser Umstand ist wohl viel eher auf einen historischen Transzendenzverlust zurückführen, denn die von Bürger zu Recht ins Feld geführte Suspendierung des klassischen Kunstwerks ist eingebettet in das Projekt der Überwindung einer ‚falschen‘ bürgerlichen Gesellschaft. Die neue, oft sozialistisch gedachte Gesellschaft, soll die schmerzhafte Trennung von Kunst, Leben und Politik überwinden, ‚transzendieren‘. Die avantgardistische Praxis ist demnach nicht zuletzt eine Antizipation einer zukünftigen Welt. Die Parallelität zwischen den avantgardistischen Kunstbewegungen und jenen revolutionär-antikapitalistischen ist sinnfällig, etwa im italienischen Futurismus wie auch in seinen gesamtrussischen Varianten oder im Surrealismus. Damit ist aber ein Zusammenhang benannt, der in der Studie von 1971 ausgespart geblieben ist, aber im Vorwort der schon mehrfach erwähnten Dokumentation der Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde eine maßgebliche Rolle spielt, ein revolutionärer Impetus, der nicht nur auf die Veränderung der Stellung der Kunst in der Gesellschaft abzielt, sondern auf die radikale Veränderung aller relevanten sozialen und kulturellen Verhältnisse. Von den politischen Programmen antikapitalistischer Bewegungen unterscheiden sich diese Manifeste durch ihren performativen Gestus, der Hypertrophie, Ironie und spielerische Momente einschließt. Bekanntlich hat die Liaison diverser Avantgarden mit den antibürgerlichen Bewegungen nicht lange gehalten. Das gilt für das Kapitel Futurismus-Faschismus ebenso wie für die avantgardistischen Bewegungen im bolschewistischen Russland. Interessant ist es, an dieser Stelle Boris Groys Buch Gesamtkunstwerk Stalin zu erwähnen, das den Stalinismus ironisch überspitzt als beinahe perfekte Verwirklichung der Avantgarde, also der Überführung von Kunst ins Leben, liest. Peter Bürgers Studie aus 1971 spiegelt die mehr als fünf Jahrzehnte nach Auftreten der Avantgarde immer noch spürbare Irritation der bürgerlichen Kulturwelt. Das von ihm auch formulierte moralisierende und als Diskreditierung gemeinte Urteil, dass die Kunst der Avantgarde jetzt in den Museen hänge, die sie niederbrennen wollte, begleitete die Neoavantgarde mit und verschloss für weite Kreise von Kulturwissenschaftlern den Weg zu einer adäquaten Rezeption eines ihnen zeitgenössischen Phänomens. Bürgers ironischer Kommentar macht noch einmal sinnfällig, wie stark die Avantgarde von der utopischen Erzählung der Überwindung der Kluft von Kunst und gesellschaftlichem Leben geprägt war und bis zu einem gewissen Grad noch immer ist. Bereits Friedrich Schlegels berühmtes romantisches, prae-avantgardistisches Mini-Manifest enthält hundert Jahre vor den Manifestanten der Avantgarde bereits einige Elemente, die sich in den Manifesten von linken bzw. rechten Futuristen, Konstruktivisten und Surrealisten finden, so die Überwindung der Trennung von Kunst und Leben, den holistischen Blick auf den Gesamtzustand der zu überwindenden Kultur, die Proklamation einer ganz neuen Welt, das Zusammenspiel der Künste, eine Utopie des Metapolitischen und ein unübersehbares Unbehagen an der entstehenden rationalisierten kapitalistischen Welt: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen. Im poetistischen Manifest von Karel Teige (? Kapitel VI) aus dem Jahr 1924, das übrigens den Konstruktivismus ausdrücklich einschließt, wird die „reguläre Liquidierung der bisherigen künstlerischen Abarten“ verkündet, „um die Herrschaft der reinen Poesie herzustellen“. Und auch hier ist davon die Rede, die Genres, Gattungen und Künste zu vermischen, die Kunst lebendig und das Leben ästhetisch zu machen. Eine juvenile...