E-Book, Deutsch, 288 Seiten
Müller Das Kreuz
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-82847-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Objektgeschichte des bekanntesten Symbols von der Spätantike bis zur Neuzeit
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-451-82847-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin studierte Kathrin Müller Kunstgeschichte und Geschichte in Hamburg und New York (mit einem Stipendium des Evangelischen Studienwerks e.V.). Von 2003 bis 2005 war sie Predoctoral Research Scholar am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin (mit Stipendien der Gerda Henkel Stiftung und des Evangelischen Studienwerks). 2006 Promotion an der Universität Hamburg mit einer Arbeit über astronomische und kosmologische Diagramme des Hochmittelalters. 2006 bis 2009 wissenschaftliche Assistentin am Kunsthistorischen Institut in Florenz/Max-Planck-Institut. 2009 bis 2016 Akademische Rätin auf Zeit am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2018 Habilitation mit einer Arbeit über spätmittelalterliche Tierdarstellungen. Seit September 2017 Professorin für Bildkulturen des Mittelalters an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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Kapitel 2
Kosmos: Das Kreuz und die Beschaffenheit der Welt
Abb. 10: Hrabanus Maurus, „Vom Lob des Heiligen Kreuzes“, Gittergedicht zu den vier Elementen, Fulda oder Mainz, 2. Viertel 9. Jh., 40,5 x 33 cm, Amiens, Bibliothèque municipale, Ms. 223, fol. 12v
Auf der Seite eines Manuskripts aus dem 9. Jahrhundert umgibt ein breiter roter Rahmen ein nahezu quadratisches Feld mit Buchstaben und vier Kreisen von unterschiedlicher Farbe. Es fällt sofort auf, wie ordentlich hier alles ist. Alle Bestandteile sind gleich groß, die Abstände zwischen ihnen immer gleich bemessen. Die Kreise fügen sich nahtlos in das Buchstabenraster ein, da auch in den Kreisbahnen Buchstaben stehen, an den Seiten übereinander, zum Scheitel- und Fußpunkt hin immer deutlicher nebeneinander. Noch bevor man sich fragt, ob die Buchstaben einen Text bilden und in Worten aufeinander folgen, ist man mit der genaueren Betrachtung des gesamten Gefüges beschäftigt. Erst dann wagt man sich an die Lektüre.
Der lateinische Text beginnt – unseren Lesegewohnheiten entsprechend – in der obersten Zeile und ist von links nach rechts zu lesen. Lateinkenntnisse sind eine zwingende Voraussetzung, da es keinerlei Hinweise gibt, wo ein Wort endet und wo das nächste beginnt. Das Lesen erfordert einiges an Konzentration, da man die Zeilen visuell abtastet und sich von dem, was darüber und darunter steht, nicht irritieren lassen darf. Zweifellos verbietet die perfekte Ordnung, kleine Striche als Wortmarkierungen zu setzen. Diese Darstellung will ein Rätsel bleiben und sich das Kunstvolle nicht nehmen lassen.
In den ersten drei Zeilen heißt es: Omnia iam splendent uero de lumine Christi / inlustrata crucis et sacrae facta beando / concelebrant.1 („Alles glänzt schon, vom wahren Licht Christi beleuchtet, und rühmt die Taten des heiligen Kreuzes und preist sie selig.“) Text und Bild könnten unterschiedlicher kaum sein. Dem jubilierenden Lobpreis des Kreuzes Jesu Christi steht die nüchterne, diagrammatische Darstellung gegenüber. Nur der eingeweihte Leser kann eine Verbindung herstellen, denn er erkennt in der Anordnung der Kreise sogleich eine Kreuzfigur. Ihm ist klar, dass er ein sogenanntes Figurengedicht (carmen figuratum) vor Augen hat. Das Wort Figur meint die Form des geschriebenen Textes, was besonders in den Umrissgedichten nachvollziehbar ist, in denen die gesamte Schriftfläche die Form eines Gegenstands, etwa eines Menschen oder eines Tieres, annimmt. Handelt es sich hingegen um ein sogenanntes Gittergedicht (carmen cancellatum), treten die Figuren aus der Buchstabenfläche hervor, wie dies bei unserem Beispiel mit den Kreisen der Fall ist. Aus den Buchstaben innerhalb der Figur, hier den Kreisbahnen, ergeben sich „eingewobene Verse“ (versus intexti), was für unser Gittergedicht noch zu erläutern sein wird.
Figurengedichte haben eine lange, bis ins Alte Ägypten zurückreichende Tradition. Die beiden genannten Varianten sind Erfindungen aus der griechischen und römischen Antike. Der frühmittelalterliche Autor unseres Gedichts, der Fuldaer Mönch Hrabanus Maurus, nahm sich den spätantiken Dichter Publilius Optatianus Porfyrius, der als Erfinder der carmina cancellata gilt, zum Vorbild. Porfyrius war am Hof Kaiser Konstantins des Großen tätig, fiel jedoch aus unbekannten Gründen in Ungnade. Seine Rehabilitation im Jahr 326 bewirkte er durch die kunstfertigen Figurengedichte, die er in der Verbannung zu Ehren Konstantins schrieb. In einer Handschrift aus dem 9. Jahrhundert, die sich heute in der Burgerbibliothek in Bern befindet (Cod. Bern. 212), ist eine kleine Auswahl der Gittergedichte von Porfyrius überliefert, die den Kaiser als hervorragenden, unter dem Schutz Christi stehenden Weltherrscher rühmen. Auf diese göttliche Gunst wird das folgende Kapitel näher eingehen.
Mittelalterliche Handschriften: Die Welt der Bücher
Wenn hier von einer „Handschrift“ die Rede ist, so ist damit ein Manuskript – entlehnt aus dem lateinischen manu scriptum, „mit der Hand geschrieben“, – gemeint. Die Bezeichnung benennt die Praxis, mit der im Mittelalter Bücher (codex; Pl. codices) vervielfältigt wurden. Die Produktionsstätten waren bis ins Hochmittelalter, das heißt bis zum Aufkommen professioneller Werkstätten in den Universitätsstädten, vornehmlich die Klöster. Größere Abteien besaßen Skriptorien, in denen die Handschriften nicht nur für den eigenen Bibliotheksbestand, sondern auch auf Bestellung für andere Klöster, Domschulen, geistliche und politische Würdenträger entstanden.
Die Bibliotheken machten die Klöster zu Stätten der Bildung, Gelehrsamkeit und des intellektuellen Austauschs. Die Mehrzahl der Bücher war theologischen Inhalts und von liturgischer Funktion, doch zum Grundstock der Bibliotheken gehörten auch Gesetzessammlungen und historiografische Literatur sowie Bücher für den Unterricht in den artes liberales – einerseits dem Trivium, bestehend aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik, andererseits dem Quadrivium, das heißt Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Nicht zuletzt bezeugen die Bücher eine Beschäftigung mit Philosophie, Kunst und Poesie.
Die Schreiber und Maler waren üblicherweise Mönche beziehungsweise Nonnen des Klosters, doch es kam auch vor, dass wandernde Schreiber (peregrini) engagiert wurden. Vereinzelt gibt es in den Büchern Hinweise auf die Mühsal des Schreibens – man stelle sich zugige Fenster, kalte Finger, ungünstige Lichtverhältnisse, harte Bänke, Rückenschmerzen und abgenutzte Schreibfedern vor. Die Maler und Schreiber äußerten die Hoffnung, ihre selbstlose Tätigkeit möge als verdienstvolles Tun göttliche Gnade bewirken. Manchmal ist in diesen Sätzen auch der Stolz auf die eigene Leistung, das eigene Können zu vernehmen. So fromm die Äußerungen auch sein mögen, so sehr vermitteln einige von ihnen das Selbstbewusstsein als Schreiber oder Künstler.
Die meisten Bücher entstanden nach der Vorlage eines anderen Buches, das heißt der Text war die Kopie des vorliegenden Textes. Von den Schreibern wurde erwartet, dass sie sorgfältig und genau vorgingen, doch da nicht jeder gleichermaßen begabt, konzentrationsfähig und sicher in Orthografie und Grammatik war, schlichen sich Flüchtigkeitsfehler und falsche Korrekturen ein. Manche Texte wurden hingegen wohlüberlegt abgeändert, etwa zusammengefasst oder um Erläuterungen ergänzt. Das gleiche Schicksal ereilte die Bilder. Jedes Kopieren eines Buches war somit ein Prozess der Aneignung und Reflexion seines Inhalts.
Grundsätzlich muss zwischen dem Autor einerseits und dem Schreiber andererseits unterschieden werden. So enthält der bereits erwähnte Kodex in Bern Gedichte des Porfyrius aus dem Jahr 326, geschrieben 400 Jahre später in Mainz oder dem nordfranzösischen Saint-Amand. Der Schreiber bleibt anonym und der Herstellungsort ist nicht eindeutig bestimmbar. Beides ist bei mittelalterlichen Handschriften der Normalfall. Es sind nur äußerst wenige Autografen, das heißt vom Autor selbst stammende Niederschriften, überliefert. Ähnlich selten sind Abschriften, die unter der Aufsicht des Autors entstanden sind beziehungsweise nachträglich von ihm überprüft wurden. Dies ist vermutlich bei unserer Handschrift mit dem Gittergedicht der Fall (Abb. 10).
„Vom Lob des heiligen Kreuzes“ des Hrabanus Maurus
Um das Jahr 810 verfasste Hrabanus Maurus einen Gedichtzyklus, der meistens „Vom Lob des heiligen Kreuzes“ („De laudibus sanctae crucis“) genannt wird. Hrabanus gehörte dem 744 gegründeten Benediktinerkloster in Fulda an, das nicht nur reich an Besitztümern, sondern auch für seine herausragende Bibliothek, das hohe Bildungsniveau und das rege intellektuelle Leben bekannt war. Diesen Ruf sollte es insbesondere in den 820er und 830er Jahren erlangen, als Hrabanus Abt des Klosters war. Er hatte dort seit seiner Kindheit gelebt, war als äußerst begabter Novize aufgefallen und wurde von Alkuin, dem allseits gerühmten Gelehrten am Hof Karls des Großen sowie Abt des Klosters Saint- Martin in Tours, gefördert. Als Hrabanus „Vom Lob des heiligen Kreuzes“ konzipierte, war er Klosterschulmeister (magister) in Fulda. Die Ambition, hymnische Kreuzgedichte in Form von carmina cancellata zu verfassen, muss im Austausch mit anderen Gelehrten entstanden sein. Unter den Gittergedichten im Berner Codex sind zum Beispiel Alkuins „Kreuz, du bist die Zierde der Welt“ („Crux, decus es mundi“) sowie ein Kreuzgedicht des karolingischen Gelehrten Joseph Scottus enthalten. Am berühmtesten aber ist der Zyklus „Vom Lob des heiligen Kreuzes“ von Hrabanus, weil dieser einen beachtlichen Ehrgeiz entwickelte, das antike Erbe (sowie seine Zeitgenossen) zu überbieten. Sein Werk ist außerdem eines der eindrücklichsten Beispiele für die Verehrung des Kreuzes Christi im Frühmittelalter. Hatte es bis ins 4. Jahrhundert noch ein Schattendasein geführt, war es nun ein Gegenstand, der wie kein anderer die Heilskraft des christlichen Glaubens symbolisierte: „Alles glänzt schon, vom wahren Licht Christi beleuchtet, und rühmt die Taten des heiligen Kreuzes und preist sie selig.“
Niemals zuvor hatte es einen so umfangreichen und so kunstvollen Gedichtzyklus zum Lobpreis des Kreuzes gegeben. Er besteht aus 28 Gittergedichten in Hexametern. Zu jedem von ihnen gehört eine ausführliche Erklärung, die sich in den Handschriften immer auf der gegenüberliegenden Seite befindet und sich gleichermaßen auf den Text wie auf die Form des carmen cancellatum bezieht. Insgesamt wird deutlich, dass die Bedeutung eines...