E-Book, Deutsch, 528 Seiten
Moody Konfliktzone Ostsee
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12403-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Zukunft Europas
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-608-12403-3
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Oliver Moody, geboren 1989, studierte Klassische Philologie und Arabistik in Oxford. Seit 2018 ist er Berlin-Korrespondent der The Times und Sunday Times und berichtet über Deutschland, Skandinavien, Mitteleuropa und das Baltikum. Zusammen mit Katja Hoyer betreibt er den Podcast »The New Germany« für die Körber-Stiftung. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Politische Propaganda & Kampagnen, Politik & Medien
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Systeme
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Geopolitik
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Globalisierung, Transformationsprozesse
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Weltgeschichte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziologie Allgemein
Weitere Infos & Material
Einleitung
Die schwedische Insel Fårö erscheint unberührt, Spuren der letzten Jahrhunderte sind kaum zu erkennen. Die Trockenbauhütten für das Vieh sind nach mittelalterlichen Vorbildern errichtet und tragen steil aufragende Reetdächer. Etwa alle 50 Jahre wird ein solches Dach in einer Gemeinschaftsaktion der Inselbewohner ausgebessert, wobei das uralte Wissen über Reetdächer an die nächste Generation weitergegeben wird. Anschließend wird der Erfolg mit einem gewaltigen Trinkgelage gefeiert. Einige der kleinen Bauernhöfe sind auch heute noch mit löchrigen Linien gekreuzter Holzpfähle umzäunt, als wollten sie damit einen Kavallerieangriff abwehren. Vor der Küste ragen die raukar auf, große, von den Wellen der Ostsee überspülte Kalksteinbrocken, die wie seltsame Nachbildungen von Hunden, Triumphbögen oder menschlichen Köpfen wirken.
Als der schwedische Regisseur Ingmar Bergman 1967 zum ersten Mal nach Fårö kam, stieß er auf einen »steinigen Strand, der sich bis in die Ewigkeit erstreckt«. Die Insel wurde zu seinem Zufluchtsort.[1] In diesen Jahren reiste auch der sozialdemokratische Ministerpräsident Schwedens Olof Palme regelmäßig hierher und mietete sich in der Nähe des Dörfchens Sudersand eine Hütte ohne Fernseher oder Telefonverbindung. Manchmal brachte er seine engsten Mitarbeiter oder befreundete Politiker aus der ganzen Welt mit nach Fårö, um weit entfernt von prüfenden Blicken in Stockholm heimlich Pläne zu schmieden. Meist nutzte er jedoch einfach die Zeit, um den Kopf freizubekommen.
Die winzige Insel mit ihren milden Wintern liegt näher am Mittelpunkt der Ostsee als jedes andere Fleckchen Land. Sie nimmt einen ganz speziellen Platz in der Nationalmythologie des modernen Schweden ein und steht für Abgelegenheit, Nostalgie, Sicherheit, Ruhe und eine ununterbrochene Verbindung zu der langen Geschichte des Landes.
Doch dieses Gefühl von Sicherheit und Zeitlosigkeit ist eine Illusion. Fårö und die benachbarte, größere Insel Gotland befinden sich in einer strategischen Position inmitten jener Schifffahrtslinien, die die wirtschaftliche und militärische Lebensader der Ostsee bilden. Dank moderner Waffentechnik sind sie von der westlichen Hälfte der baltischen Staaten leicht unter Beschuss zu nehmen, genau wie von Kaliningrad aus, der russischen Exklave, die bis oben hin mit Hyperschallwaffen, Kampfflugzeugen, Kriegsschiffen ausgestattet ist – und auch mit Atomsprengköpfen, wie einige benachbarte Regierungen vermuten.[2]
Fårö und Gotland sind in einen Krieg verstrickt, der sich von Kalifornien bis Kamtschatka rund um den Globus erstreckt, mit der Ostsee als geografischem und geopolitischem Mittelpunkt. Derzeit kämpfen die Ukraine und Russland diesen Krieg aus, doch der umfassendere Konflikt bestimmt das Leben und bedroht die Sicherheit und das Wohlergehen jedes Menschen im Westen, auch wenn viele von uns den Ernst der Lage noch nicht erkannt haben.
Dabei haben die ersten Donnerschläge eines physischen Kriegs den Ostseeraum bereits erreicht. Im September 2022 schaltete eine Reihe Unterwasserexplosionen östlich der dänischen Insel Bornholm die russischen Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 aus.[3] Eineinhalb Jahre später erklärte Kyjiw, seine Spezialkräfte hätten die »Serpuchow« in Brand gesteckt, eine Korvette der Buyan-M-Klasse der russischen Baltischen Flotte, und zwar möglicherweise an einem Ort, der rund 150 Kilometer südlich von Gotland liegt. Es dürfte der erste bekannt gewordene Angriff auf ein russisches militärisches Ziel in der Region seit 1945 gewesen sein.[4]
Nun ist es ein Leichtes, diese Vorfälle als Kollateralschäden eines örtlich begrenzten Stellvertreterkriegs abzutun, der sich fast 1500 Kilometer entfernt abspielt. Das wäre allerdings gefährlich überheblich. Sie sind Teil von etwas deutlich Größerem: einem generationsübergreifenden Wettstreit zwischen Russland und dem Westen auf jeder denkbaren Ebene unterhalb einer direkten militärischen Konfrontation, angefangen bei Energie und Wirtschaft bis hin zu Parlamenten und sozialen Netzwerken. Dieser Wettstreit hat zwei Dreh- und Angelpunkte. Einer ist die Ukraine. Der andere ist der Ostseeraum.
Moskau hat dies bereits ziemlich explizit klargemacht. Während Russland im Dezember 2021 seine Truppen in Vorbereitung einer groß angelegten Invasion an der ukrainischen Grenze aufmarschieren ließ, die dann ja auch drei Monate später erfolgte, stellten Wladimir Putins Unterhändler in Washington eine dermaßen extravagante Forderung, dass US-Diplomaten kaum glaubten, was sie da hörten. Moskau forderte die vertragliche Zusicherung, dass die NATO alle militärischen Aktivitäten östlich jener Gebiete einstellte, die 1997 zum Bündnisgebiet gehörten.[5]
Das hätte Europas geopolitische Uhren um ein Vierteljahrhundert zurückgedreht und von der Allianz verlangt, ihre Kräfte aus Polen und den baltischen Staaten zurückzuziehen. Vor allem für Letztere hätte das die Gefahr einer russischen Einmischung extrem erhöht. Damals erklärte der britische Russland-Experte Sam Greene, das Ultimatum liefe darauf hinaus, dass Putin »eine Linie rund um den postsowjetischen Raum zieht und ein ›Zutritt verboten‹-Schild aufstellt«. »Es geht ihm dabei nicht um einen Vertrag«, fügte Greene hinzu. »Es geht ihm um eine Feststellung.«[6] Jeffrey Mankoff, ein Experte für russische Außenpolitik an der US National Defence University, formulierte es so: »Ich denke, die Russen waren ziemlich transparent in dem, was sie wollten. Sie wollten die nach dem Ende des Kalten Kriegs getroffenen Abmachungen neu verhandeln.«
Putin wird dieses Ziel kaum durch Verhandlungen erreichen können. Wird er versuchen, es gewaltsam durchzusetzen? Für Europa wird dies zur wichtigsten Frage des laufenden Jahrzehnts.
Sie können sich Ihre Strategie in den Arsch schieben
Dieses Buch handelt von der Wiederkehr der alten Auseinandersetzung mit Russland über den Ostseeraum. Es geht um die Frage, wie der Westen sie gewinnen kann und wie der Ausgang dieses Konflikts über die Zukunft Europas und des gesamten Westens entscheidet. Der Kampf wird seit mehr als 800 Jahren geführt, seit zwei russische Fürstentümer begannen, von mehreren estnischen Kleinstaaten Tributzahlungen zu fordern. Vor dem Ersten Weltkrieg kontrollierte Russland Finnland, die baltischen Staaten und einen beträchtlichen Teil Polens. Bis 1989 reichte die sowjetische Einflusssphäre über die südliche Ostseeküste hinaus bis an die Mündung der Trave bei Lübeck.
Immer wieder machte Putin deutlich, dass er so viel wie möglich davon wiederherstellen möchte, notfalls mit Gewalt. Berichten zufolge prahlte er schon im September 2014 im »privaten Rahmen« damit, seine Streitkräfte könnten die Hauptstädte Polens und der baltischen Staaten innerhalb von 48 Stunden einnehmen.[7] Nachdem im Mai 2024 mehrere europäische Länder erklärten, die Ukraine dürfe die von ihnen gelieferten Waffen auch dazu nutzen, Ziele auf russischem Gebiet zu beschießen, erklärte er: »Die Vertreter der NATO-Staaten, insbesondere Europäer und ganz besonders die Vertreter kleiner Länder, sollten sich bewusst machen, womit sie hier spielen. Sie sollten nicht vergessen, dass ihre Länder klein und dicht besiedelt sind. Daran sollten sie denken, bevor sie von Angriffen tief auf russischem Gebiet sprechen.«[8]
Seine Propaganda-Scharfmacher sind in ihren Formulierungen noch weniger zurückhaltend. Der damalige Vertreter der russischen Föderation bei der NATO und spätere Chef der russischen Raumfahrtagentur Dmitri Rogosin bezeichnete 2018 neben der Krim und anderen Teilen der Ukraine auch die baltischen Staaten als »Stammterritorium der russischen Nation«.[9] Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew, den die USA früher als verlässlichen Partner schätzten, der aber nun einen Großteil seiner Zeit mit irritierenden Posts in den sozialen Medien verbringt, erklärte wiederholt, die baltischen Staaten seien verirrte Provinzen Russlands.[10] In den meisten Fällen tendieren westliche Analysten dazu, solche Äußerungen nicht allzu ernst zu nehmen, doch das russische Regime möchte mit ihnen zumindest den Eindruck aufrechterhalten, dass ein Angriff auf die baltische Flanke der NATO jederzeit möglich ist.
Dabei kann es durchaus sein, dass Putin selbst noch nicht weiß, was er unternehmen wird. Witold Jurasz, ein polnischer Publizist mit Schwerpunkt Außenpolitik, der bereits als Diplomat in Moskau tätig war, erinnert sich an ein Gespräch, das er vor einigen Jahren mit einem russischen Minister führte. »Ich fragte ihn: ›Warum beschäftigt ihr Russen euch immer mit der taktischen Ebene und scheint euch nicht um die strategische zu kümmern?‹« Die Antwort seines Gesprächspartners lautete: Nun, wissen Sie, Sie glauben, Sie verfolgen diese großartige Strategie, aber dann haben wir zehn kleine taktische Siege, und Sie können sich Ihre Strategie in den Arsch schieben.
Und genau so war es bis zur Invasion der Ukraine. Putin wird manchmal ein großer Stratege genannt. Das ist er nicht. Er ist ein großer Taktierer. Er hat zahllose...