E-Book, Deutsch, Band 142023, 190 Seiten
Meyrink / Syrg / Sommermeyer Gustav Meyrinks Der Golem
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7583-5719-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Roman
E-Book, Deutsch, Band 142023, 190 Seiten
Reihe: Orlando Syrg Taschenbuch: ORSYTA
ISBN: 978-3-7583-5719-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Klassiker der phantastischen Literatur! In jüdischer Dichtung und Mystik ist der Golem ein sagenhaftes von einem Rabbi magisch aus Lehm geformtes Wesen von gewaltiger Kraft. Seinem Meister hörig, muss er dessen Aufträge besorgen. In Meyrinks Version, begegnet der Erzähler (Hutverwechsler; vgl. unten, S. 15) als Gemmenschneider Athanasius Pernath (seine andere traumhafte Identität) dem Golem im naturalistisch gezeichneten Prager Ghetto, auf dem Weg der Selbsterkenntnis mit dem Ziel spiritueller Durchdringung aller Lebensbereiche, anarchistischen Energien verdrängter Triebe ausgesetzt, mit kabbalistischer Symbolik, Verbrechen, Glaubensschwärmerei, Ekel und Weisheit konfrontiert.
Gustav Meyrink (Meyer), geboren am 19. Januar 1868 in Wien; gestorben am 4. Dezember 1932 in Starnberg. Erzähler, Dramatiker, Übersetzer. 1889-1902 Bankier in Prag. 1902 erleidet er zu Unrecht wegen Verdachts der Geldunterschlagung drei Monate Gefängnis. Er kann sich strafprozessual rehabilitieren, sein geschäftlicher und sozialer Leumund sind freilich zerrüttet. Meyrink begibt sich nach Wien, arbeitet temporär als Redakteur der satirischen Zeitschrift »Der liebe Augustin«. 1906 zieht er nach München, 1911 nach Starnberg. Seine Hauptwerke sind zugleich Klassiker der phantastischen Literatur: »Der Golem«, »Das grüne Gesicht«, »Walpurgisnacht« und »Der weiße Dominikaner«.
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Tag
Da stand ich plötzlich in einem düsteren Hof und sah durch einen rötlichen Torbogen gegenüber ? jenseits der engen, schmutzigen Straße ? einen jüdischen Trödler an einem Gewölbe lehnen, das an den Mauerrändern mit altem Eisengerümpel, zerbrochenen Werkzeugen, verrosteten Steigbügeln und Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war. Und dieses Bild trug das quälend Eintönige an sich, das alle jene Eindrücke kennzeichnet, die tagtäglich so und so oft wie Hausierer die Schwelle unserer Wahrnehmung überschreiten, und rief in mir weder Neugierde noch Überraschung hervor. Ich wurde mir bewusst, dass ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung zu Hause war. Auch diese Empfindung hinterließ mir trotz ihres Gegensatzes zu dem, was ich doch vor kurzem noch wahrgenommen und wie ich hierher gelangt, keinerlei tieferen Eindruck. ? ? Ich muss einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und einem Stück Fett gehört oder gelesen haben, drängte sich mir plötzlich der Einfall auf, als ich die ausgetretenen Stufen zu meiner Kammer emporstieg und mir über das speckige Aussehen der Steinschwellen flüchtige Gedanken machte. ? Da hörte ich Schritte die oberen Treppen über mir vorauslaufen, und als ich zu meiner Tür kam, sah ich, dass es die vierzehnjährige, rothaarige Rosina des Trödlers Aaron Wassertrum gewesen war. Ich musste dicht an ihr vorbei, und sie stand mit dem Rücken gegen das Stiegengeländer und bog sich lüstern zurück. Ihre schmutzigen Hände hatte sie um die Eisenstange gelegt, ? zum Halt ? und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem trüben Halbdunkel hervorleuchteten. Ich wich ihren Blicken aus. Mich ekelte vor ihrem zudringlichen Lächeln und diesem wächsernen Schaukelpferdgesicht. Sie muss schwammiges, weißes Fleisch haben wie der Axolotl, den ich vorhin im Salamanderkäfig bei dem Vogelhändler gesehen habe, fühlte ich. Die Wimpern Rothaariger sind mir widerwärtig wie die eines Kaninchens. Und ich sperrte auf und schlug rasch die Türe hinter mir zu. ? ? ? Von meinem Fenster aus konnte ich den Trödler Aaron Wassertrum vor seinem Gewölbe stehen sehen. Er lehnte am Eingang der dunklen Wölbung und zwickte mit einer Beißzange an seinen Fingernägeln herum. War die rothaarige Rosina seine Tochter oder seine Nichte? Er hatte keine Ähnlichkeit mit ihr. Unter den Judengesichtern, die ich Tag für Tag in der Hahnpassgasse auftauchen sehe, kann ich deutlich verschiedene Stämme unterscheiden, die sich so wenig durch die nahe Verwandtschaft der einzelnen Individuen verwischen lassen, wie sich Öl und Wasser vermengen wird. Da darf man nicht sagen: Die dort sind Brüder oder Vater und Sohn. Der gehört zu jenem Stamm und dieser zu einem andern, das ist alles, was sich aus den Gesichtszügen lesen lässt. Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem Trödler ähnlich sähe! Diese Stämme hegen einen heimlichen Ekel und Abscheu voreinander, der sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft durchbricht, ? aber sie verstehen ihn geheim zu halten vor der Außenwelt, wie man ein gefährliches Geheimnis hütet. Kein Einziges lässt ihn durchblicken, und in dieser Übereinstimmung gleichen sie hasserfüllten Blinden, die sich an ein schmutzgetränktes Seil klammern: Der eine mit beiden Fäusten, ein anderer nur widerwillig mit einem Finger, alle aber von abergläubischer Furcht besessen, dass sie dem Untergang verfallen müssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben und sich von den übrigen trennen. Rosina ist von jenem Stamm, dessen rothaariger Typus noch abstoßender ist, als der der andern. Dessen Männer engbrüstig sind und lange Hühnerhälse haben mit vorstehendem Adamsapfel. Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr ganzes Leben leiden sie unter brünstigen Qualen, diese Männer, ? und kämpfen heimlich gegen ihre Gelüste einen ununterbrochenen, erfolglosen Kampf, von immerwährender widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert. Ich war mir nicht klar, wieso ich Rosina überhaupt in verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Trödler Wassertrum bringen konnte. Nie habe ich sie doch in der Nähe des Alten gesehen oder bemerkt, dass sie jemals einander etwas zugerufen hätten. Auch war sie fast immer in unserem Hof oder drückte sich in den dunklen Winkeln und Gängen unseres Hauses umher. Sicherlich halten sie alle meine Mitbewohner für eine nahe Verwandte oder zumindest Schutzbefohlene des Trödlers, und doch bin ich überzeugt, dass kein einziger einen Grund für solche Vermutungen anzugeben vermöchte. Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreißen und sah von dem offenen Fenster meiner Stube hinab auf die Hahnpassgasse. Als habe Aaron Wassertrum meinen Blick gefühlt, wandte er plötzlich sein Gesicht zu mir empor. Sein starres, grässliches Gesicht mit den runden Fischaugen und der klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist. Wie eine menschliche Spinne kam er mir vor, die die feinste Berührung ihres Netzes spürt, so teilnahmslos sie sich auch stellt. Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben? Ich wusste es nicht. An den Mauerrändern seines Gewölbes hängen unverändert Tag für Tag, jahraus jahrein dieselben toten wertlosen Dinge. Mit geschlossenen Augen hätte ich sie hinzeichnen können: Hier die verbogene Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier gemalt, mit den so sonderbar zusammengestellten Soldaten. Dann eine Girlande verrosteter Sporen an einem schimmligen Lederriemen und anderes halb vermodertes Gerümpel. Und vorne auf dem Boden, dicht nebeneinander geschichtet, sodass niemand die Schwelle des Gewölbes überschreiten kann, eine Reihe runder eiserner Herdplatten. Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier und da einmal ein Vorübergehender stehen und fragte nach dem Preis des einen oder anderen, geriet der Trödler in heftige Erregung. In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippen mit der Hasenscharte empor und sprudelte gereizt irgendetwas Unverständliches in einem gurgelnden, stolpernden Bass hervor, dass dem Käufer die Lust weiter zu fragen verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte. Der Blick des Aaron Wassertrum war blitzschnell von meinen Augen abgeglitten und ruhte jetzt mit gespanntem Interesse an den kahlen Mauern, die vom Nebenhaus an mein Fenster stoßen. Was konnte er dort nur sehen? Das Haus steht doch mit dem Rücken gegen die Hahnpassgasse, und seine Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die Straße gekehrt. Zufällig schienen die Räume, die nebenan in derselben Stockhöhe wie die meinigen liegen ? ich glaube, sie gehören zu einem winkligen Atelier ? in diesem Moment betreten worden zu sein, denn durch die Mauern hörte ich plötzlich eine männliche und eine weibliche Stimme miteinander reden. Unmöglich konnte das aber der Trödler von unten aus wahrgenommen haben! ? Vor meiner Tür bewegte sich jemand, und ich erriet: es ist immer noch Rosina, die draußen im Dunkeln steht in begehrlichem Warten, dass ich sie doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle. Und unten, ein halbes Stockwerk tiefer, lauert der blatternarbige, halbwüchsige Loisa auf den Stiegen mit angehaltenem Atem, ob ich die Tür öffnen werde, und ich spüre förmlich den Hauch seines Hasses und seine schäumende Eifersucht bis herauf zu mir. Er fürchtet sich, näher zu kommen und von Rosina bemerkt zu werden. Er weiß sich von ihr abhängig wie ein hungriger Wolf von seinem Wärter und möchte doch am liebsten aufspringen und besinnungslos seiner Wut die Zügel schießen lassen! ? Ich setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten und Stichel hervor. Aber ich konnte nichts fertigbringen und meine Hand war nicht ruhig genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern. Das trübe, düstere Leben, das an diesem Hause hängt, lässt mein Gemüt nicht still werden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf. Loisa und sein Zwillingsbruder Jaromir sind wohl kaum ein Jahr älter als Rosina. An ihren Vater, der Hostienbäcker gewesen, konnte ich mich kaum mehr erinnern, und jetzt sorgt für sie, glaube ich, ein altes Weib. Ich wusste nur nicht, welche es war unter den vielen, die versteckt im Hause wohnen wie Kröten in ihrem Schlupfwinkel. Sie sorgt für die beiden Jungen, das heißt, sie gewährt ihnen Unterkunft; dafür müssen sie ihr abliefern, was sie gelegentlich stehlen oder erbetteln. ? Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich konnte es mir nicht denken, denn erst spät abends kommt die Alte heim. Leichenwäscherin soll sie sein. Loisa, Jaromir und Rosina sah ich, als sie...