E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Mette Gnadenzeit
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-96122-130-1
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman.
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-96122-130-1
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jürgen Mette (*1952) ist Theologe und war bis 2013 geschäftsführender Vorsitzender der Stiftung Marburger Medien und Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Tabor. Er ist verheiratet, Vater von drei Söhnen und Großvater von sechs Enkelkindern. Seit ihn 2009 die Diagnose Parkinson getroffen hat, schreibt er Bücher, u. a. den Spiegel-Bestseller 'Alles außer Mikado', und ist als Referent unterwegs.
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1
Oberstdorf,
Oberallgäu
Bachhuber hatte schon viele Tote gesehen, aber dieses Mal würgte ihm der Brechreiz die halb verdauten fetten Bratkartoffeln des Abendessens die Kehle hoch, als müsse er gleich Bröckchen husten. 30 Jahre machte er diesen Job schon, aber dieses grauenhafte Bild fraß sich in seinem abgebrühten Hirn fest und es würde ihn nie wieder verlassen.
Kurz nach den heute-Nachrichten im Zweiten war der Anruf von der Kripo Kempten bei ihm eingegangen. Gerade als er durch die Programme zappen wollte, reichte ihm Hilde das Mobiltelefon, das leise vibrierend quer über den Esszimmertisch krabbelte. Sie hatte sich auf einen gemütlichen Abend mit Alois gefreut, ein Bayrisch-Hell von seiner Lieblingsbrauerei Zötler aus Rettenberg eingeschüttet und ein paar Käsewürfel von der Sennerei Schlappold-Alpe auf das Tischchen zwischen den beiden Fernsehsesseln gestellt. Aber daraus sollte nichts werden.
Nichts Neues für Hilde, schließlich war sie 30 Jahre mit einem Polizeibeamten verheiratet, Oberkommissar Alois Bachhuber von der Kripo Kempten, wohnhaft in Oberstdorf. Ein Bär von einem Mann und trotzdem eine Seele von Mensch. Gut, er kämpfte seit der Hochzeit mit seinem Gewicht, aber solch ein Mannsbild musste ja auch standfest sein.
Die Allgäuer Küche war nun mal weniger vegan, eher hochkalorisch und ganz schön fleischlich. Krautkrapfen und Schupfnudeln, Kässpatzen und Nonnafürzle. Alois pflegte öfters zu sagen, er habe eben ein erweitertes „Speck-drum“. Hilde konnte über diesen Spruch nicht mehr lachen, sorgte sie sich doch so sehr um Leib und Leben ihres geliebten „Liese“, wie sie ihn im Oberstdorfer Dialekt zärtlich nannte.
Beim letzten Arztbesuch hatte man erhöhte Zuckerwerte festgestellt und ihm zur Ernährungsumstellung geraten. Aber das war schwer – bei solch einem aufregenden Lebensstil. Seit er das seinem Nachbarn erzählt hatte, einem drahtigen Veganer, zog der ihn immer mit dem Spruch „Diabetes ist kein Zuckerschlecken“ auf. Er konnte es schon nicht mehr hören.
Und er war stolz auf sein „Oberschtdorf“. Die Bachhubers gehörten zum Oberstdorfer Urgestein, seit Generation dort zu Hause, wo andere Urlaub machen. Wann immer er über Kempten hinaus Richtung Lindau, Ulm oder München musste, fühlte er sich wie amputiert. Am schönsten war dann immer die Rückreise vom Norden kommend in den südlichsten Zipfel Deutschlands – dann schwelgte er in heimatlichen Gefühlen. Wenn er hinter Sonthofen den letzten Hügel vor dem imposanten Talkessel überwunden hatte, wo links das Rubihorn und das Nebelhorn mächtig aufragen und wo rechts der Weg in die südlichste und schönste Sackgasse Deutschlands – das Kleinwalsertal – führt und geradeaus der Himmelschrofen das Trettachtal und das Stillachtal trennt, dann wurde ihm immer warm ums Herz.
Dabei waren es gar nicht die Berge, die wilden Schluchten und das immer schäumende Illerdelta, die ihm Heimatgefühle bescherten, auch nicht das scheppernde Kuhglockeninferno beim Alpabtrieb und der sich daraus ergebende spinatartige Kuhfladenparcours. Das war ja alles vertraut und alltäglich. Es waren vor allem die Menschen, mit denen er in Oberstdorf aufgewachsen war: der wettergegerbte, knorrige, maximal gesichtsbehaarte und schier unverständlich kommunizierende Älpler – wenn er denn überhaupt mit anderen redet –, der Oberallgäuer schlechthin. Menschen, auf die man sich immer verlassen konnte.
Das Nebelhorn liegt oft im Nebelbett, wen wunderts? Oberstdorf ist ein Feuchtgebiet, 1650 Millimeter Jahresniederschlagsmenge. Zieht man den Niederschlag ab, der als feinster Pulverschnee die Skisaison aufs Lieblichste verzuckert, dann hat Oberstdorf schon wieder einen Hauch von Toskana.
Bachhuber hatte im Oberallgäu noch nie „schlechtes“ Wetter erlebt, weil er immer mit der richtigen Kleidung unterwegs war. Es gab hier kein schlechtes Wetter, sondern bestenfalls nörgelnde Urlauber, die doch besser zum Massentoast auf die Kanaren geflogen wären. Und weil diese schroffe Bergwelt von einem zuweilen schroffen Wetter saftig gesegnet wird, braucht der Gast und der Einheimische zwei Dinge, um glücklich zu sein: stets eine wasserdichte Außenhaut auf dem Leib und ein wasserdichtes Zuhause. Nirgends war es schöner als bei Hilde. Sie verstand es immer wieder, ihm und den Kindern ein heimeliges Zuhause zu bereiten.
„Tote Frau im Oytal gefunden!“ Das war es dann mit dem gemütlichen Abend. Die Oberstdorfer Bergwacht war von einem Hüttenwirt informiert worden und die alarmierte die Oberstdorfer Polizeiinspektion. Nach der Begutachtung des Tatortes und der Leiche wiederum schalteten die Beamten das K1 von der Kripo Kempten ein.
Wenige Minuten später saß Bachhuber im X3 aus der bayerischen Autoschmiede, die Bergstiefel noch nicht fertig geschnürt, den grünen Lodenjanker flüchtig übergeworfen, die Dienstwaffe in das Schulterhalfter geschoben, die Taschenlampe griffbereit auf dem Beifahrersitz. Sein Assistent, der Brutscher Sepp, hätte eigentlich Bereitschaft gehabt, aber der war mal wieder nicht zu erreichen. Bachhuber fluchte still vor sich hin, weil auf den Sepp kein Verlass war. Wahrscheinlich hockte der wieder im Faltenbachstüble und hört sein Handy nicht. Er funkte die Kollegen in Kempten an und lotste sie ins Oytal. Der Notruf war vom Wirt der Unteren Gutenalpe gekommen, einer nur im Sommer bewirtschafteten Hütte im Hochtal auf 1100 Meter.
Als Bachhuber die Steigung an der Schattenberg-Sprungschanze mit heulendem Motor hochjagte, fiel sein Blick rechts auf das beleuchtete Oberstdorf. Im Hintergrund das Söllereck und dahinter der Hohe Ifen mit seinem markanten schräg liegenden Grat. In der nebligen Dämmerung des Septemberabends überholte er auf der Höhe des Wasserhochbehälters ein paar Fußgänger, die zügigen Schrittes an dem durch Rundhölzer gesicherten Abhang hochliefen. Jeder hatte ein Buch unter dem Arm. Zwei trugen Gitarren auf dem Buckel. Wo wollen die denn noch hin, fragte sich Bachhuber. Zur Märchenstunde? Aber er hatte die Kemptener Kollegen am Telefon, die gerade zwischen Fischen und Langenwang waren, darum dachte er nicht weiter über die kleine Wandergruppe nach. „Schicked uib!“, keuchte er ins Telefon, was so viel wie „Beeilt euch!“ hieß.
Dieser Streckenabschnitt war für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Gäste des Hotels „Himmelsblick“ brauchten zur Anreise eine Sondergenehmigung. Dort waren gerade noch ein paar Autos mit heimischen Kennzeichen vorgefahren, obwohl der Gästeparkplatz schon ziemlich voll war. Von der Geiger Maria, einer Freundin seiner Frau, die im „Himmelsblick“ putzte, wusste er, dass dort abends öfters fromme Veranstaltungen abgehalten wurden. Keine Messe wie in der Kirche – „Bibelstunden“ nannten sie das. Vielleicht war die kleine Wandergruppe am Kühberg auf dem Weg zu solch einer Bibelstunde. Er hatte keine Ahnung, was es mit den Bibelstunden auf sich hatte. Bachhuber war katholisch, wie fast jeder Oberstdorfer. Die evangelischen Zugereisten waren ihm egal; das waren für ihn fast schon Sektierer. Sein System Kirche funktionierte seit Menschengedenken verblüffend simpel: Leben und leben lassen, beichten und beten lassen, und dann das Ganze von vorn.
Alois war mal in der bigBOX in Kempten in einer Vorstellung des rheinischen Kabarettisten Jürgen Becker gewesen. Der hatte ein Lied drauf, das ihm richtig gut gefiel:
„Ich bin so froh, dass ich nicht evangelisch bin
Die haben doch nix anderes als Arbeiten im Sinn
Als Katholik, da kannste pfuschen, dat eine ist gewiss
Am Samstag gehste beichten und fott ist der janze Driss.“
Das war seine Religion.
Und im Übrigen war er der Meinung, dass der Pfarrer für die Bibel zuständig ist. Er hatte ein Prachtexemplar von Bibel zu Hause, mit Goldschnitt und geprägtem weinroten Ledereinband. Er schonte diese Kostbarkeit, die in der Vitrine neben den Bildbänden und den Kochbüchern vom Schuhbeck ihren Stammplatz hatte. Er hatte sie seit seiner Kommunion nicht mehr in der Hand gehabt. Die Geschichten da drin sagten ihm nichts. Ja, von Adam und Eva hatte er natürlich gehört und von der Arche Noah und dem Turmbau zu Babel, aber dann wurde es schon dünner mit der Bibelkenntnis. Sein Gottesdienst war nämlich die Jagd, der Hochwald, die Pirsch draußen in Spielmannsau. Da spürte er die Nähe des Schöpfers.
Als seine Mutter vor ein paar Monaten hochbetagt gestorben war, hatte er sich unter Hildes Drängen am Sonntag nach der Beerdigung wieder in die Kirch begeben. Die Messe, die feierliche Musik und die Eucharistie, das gefiel ihm schon, aber die Predigt sagte ihm nichts, gar nichts. Sein Onkel, Bruder seiner Mutter, war Priester und Missionar in Indien, aber zu dem hatte er keinen Kontakt mehr. Den hätte er gern mal gefragt, warum die Kirche so reich war und warum sich der Bischof von Limburg solch ein Luxusbad leisten durfte. Alois hatte eine sehr klare Vorstellung von Kirche. Die sollten den Menschen Gutes tun und sich sonst raushalten aus Politik und Gesellschaft.
Hilde war da schon zugänglicher. Sie schaute regelmäßig die frommen Sender K-TV und Bibel-TV. Diesen betagten Fernsehpriester auf K-TV verstand man schlecht, aber der war wenigstens katholisch. Aber diese Joyce Meyer, die seine Frau so gerne guckte, die war ihm nicht ganz geheuer. Katholisch ist die nicht, da war er sich ganz sicher. Diese amerikanische „Du-darfst-du-selbst-sein-Betschwester“ ging ihm derart auf den Senkel, dass er neulich mal ein erzürntes „Diese fromme Emanze macht dich noch ganz verrückt!“ raushaute. Aber Hilde sagte dann immer milde: „Liese, des verschtohscht du id! Dia...