E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Mette Alles außer Mikado
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-96122-129-5
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Leben trotz Parkinson.
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-96122-129-5
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jürgen Mette (*1952) ist Theologe und war bis 2013 geschäftsführender Vorsitzender der Stiftung Marburger Medien und Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Tabor. Er ist verheiratet, Vater von drei Söhnen und Großvater von sechs Enkelkindern. Seit ihn 2009 die Diagnose Parkinson getroffen hat, schreibt er Bücher, u. a. den Spiegel-Bestseller 'Alles außer Mikado', und ist als Referent unterwegs.
Autoren/Hrsg.
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1.
Die unheimliche Begegnung mit Herrn P.
»Warum zitterst du so?«
Weil es zu kalt ist auf der Wartburg in Eisenach. Ich bitte darum, Heizlüfter aufzustellen, schließlich drehen wir die Fernsehserie mitten im frostig kalten Januar. Bei Kälte zittere ich immer. Aber ich weiß, dass es andere als thermische Gründe sind, die mich fremdbestimmen. Ich wollte es nur noch nicht wahrhaben.
Direkt vor dem Altar der Schlosskapelle war eine rote Sesselgruppe aufgebaut: ein Tischchen, Stative, Gleise für die fahrbare TV-Kamera. Und wir drei Akteure dieser zwölfteiligen Gesprächsreihe: ein Professor der Theologie für Neues Testament, eine TV-Journalistin und ich als Gastgeber und Moderator. Wir bildeten mit den Kamera-, Licht- und Tonleuten, der Visagistin, dem Produzenten und Regisseur ein kreatives und improvisationsfähiges Team. Vormittags berieten wir gemeinsam das Drehbuch, nachmittags dokumentierte ich alles schriftlich und abends, wenn die letzten Touristen die Burg verlassen hatten, wurden wir in Szene gesetzt. Und dann hieß es bis Mitternacht »Kamera läuft! Ton ab!« Alles ohne Teleprompter, diesem Gerät, das den Text auf einen Bildschirm der Kamera projiziert, damit der Moderator seinen Text vor Augen hat. Alles freihändig, möglichst druckreif und die Stoppuhr stets im Blick.
Ich hatte mich nicht für diesen Job beworben, geschweige denn ein Casting durchlaufen. Der Sender, für den ich oft Radiosendungen gemacht habe, traute mir diese Aufgabe als TV-Moderator einfach zu.
Mit dem Einstieg in die mediale Welt des bewegten Bildes begann die unheimliche Entdeckung, dass mich irgendetwas emotional und muskulär gegen meinen Willen bewegt. Das war der Anfang eines langen Weges, auf dem ich zunehmend meine Freiheit verlieren sollte. Der geheimnisvolle Herr P. war in mein Leben getreten. Er hatte seinen Besuch längst angekündigt, aber das wollte ich nicht wahrhaben. Ich hatte die scheuen Vorboten schöngeredet.
Die neue und alles beherrschende Frage war: Warum zittere ich eigentlich? Ich hab noch nie im Leben Lampenfieber gehabt.
Mit 18 stand ich als Sänger der Musikgruppe unseres christlichen Jugendkreises zum ersten Mal auf der Bühne. Als 22-Jähriger war ich Frontmann einer Studentenband, mit 25 Jahren Dirigent eines Jugendchores, und von da an habe ich fast jeden Sonntag auf irgendeiner Bühne oder Kanzel gestanden. Ich habe nie vor und schon gar nicht während eines Bühnenauftritts gezittert.
Jetzt nehme ich es wahr. Das Zittern wird latent, bisher war es nur in Stresssituationen akut. Jetzt nistet es sich ein, etabliert sich, manifestiert sich. Meine linke Hand zittert und ich kann es nicht verbergen. Meine Muskeln machen sich selbstständig. Irgendeine Schaltung im Gehirn macht, was sie will. Irgendein Prozessor jagt mir Zuckungen in den Arm, dem ich eigentlich den Auftrag erteilt hatte, mir eine Gabel Pasta in den Mund zu schieben. Und wenn die Pasta in Tomatensauce gebadet hat, ist das Ergebnis dieser unklaren Kommandostruktur eine ziemlich unansehnliche Sache. Wo ich doch so gern Spaghetti esse und auch gern weiße Hemden trage.
Irgendein Teil meines Nervensystems spinnt und verweigert mir zunehmend den Gehorsam. Ich bin nicht mehr selbstbestimmt. Ich teile die Steuerung meiner Bewegungsabläufe mit einer mir unbekannten Macht. Da hört nicht irgendeine Körperfunktion auf zu funktionieren; darauf könnte ich mich ja vielleicht noch einlassen. Was mich so verrückt macht, ist die Entdeckung, dass mein Organismus ohne mein Einverständnis eine neue Motorik entwickelt, die nicht nur völlig überflüssig und unbrauchbar ist, sondern auch furchtbar lästig. Wer braucht die zusätzliche Fähigkeit, am ganzen Leib zu zittern? Der virtuose Violinist vielleicht, der beim Vibrato eine zittrige Hand am Griffbrett nötig hat, aber doch nicht ich. Was ist das? Und warum kann ich diesem unheimlichen Muskelwahnsinn nicht mit einem klaren Befehl aus dem Gehirn den Saft abdrehen? Ich kann diesen Reflex nicht abstellen. Es gibt keinen Schalter. Ich ahne, was Menschen mit Restless-leg-Syndrom durchmachen, die, sobald sie sich hinlegen, unruhige Beine bekommen und keinen Schlaf finden.
»Na, was fehlt dir denn?« »Mir fehlt nichts! Im Gegenteil, ich kriege einen zu viel. Ich habe noch eine Körperfunktion dazubekommen. Ich kann zittern, ohne dass mich einer mit der Waffe bedroht.«
Das konnten bisher nur zwei: der Schweizer Schauspieler Bruno Ganz, der in dem Film »Der Untergang« den parkinsonkranken Adolf Hitler spielte. Wie hatte der diesen permanenten Reflex bloß trainiert, den ich mir so gern abtrainieren würde?
Und das kann in hinreißend komischer Perfektion der fränkische Comedian Volker Heißmann vom Kabarett-Duo »Rassau und Heißmann« aus Fürth, wenn er »das Mariechen« spielt, eine kauzige Zitteroma. Das ist der beste Parkinsonimitator überhaupt. Nur, der kann den Tatterich hinter der Bühne abstellen. Ich nicht!
Das alles verunsichert mich heftig. Aus Verunsicherung wird Angst, aus Angst wird Panik, aus Panik wird Zorn. Und Zorn klingt nur ab, wenn sachliche Informationen die Emotionen runterkühlen. Darum gab ich nachts im Hotelzimmer auf der Wartburg das Stichwort »Parkinson« in eine Internetsuchmaschine ein und las zum ersten Mal etwas über diese Krankheit. Nur ein paar Fragmente. Schnell wieder raus aus den Fachartikeln und der Selbsthilfe-Betroffenheitsliteratur. Ich will mich nicht damit befassen. Das würde mich nur runterziehen. Aber ich verlasse den Laienstand und unterziehe mich widerwillig dieser medizinischen Lektion. Ich lerne einige Symptome namentlich kennen, die mich für den Rest meines Lebens beschäftigen werden.
Tremor? Nie gehört. Was ist das? Zittern im Ruhezustand. Na ja, immerhin besser als gelähmt.
Dopamin? Ein biogenes Amin aus der Gruppe der Katechomaline. Verstehe! Ein wichtiger Neurotransmitter, im Volksmund auch Glückshormon genannt. Damit bin ich offenbar reichlich gesegnet, ich glückliche Frohnatur, so meine erste laienhafte Wahrnehmung. Tatsache ist allerdings, dass es mir an Dopamin fehlt. Das Gleichgewicht der verschiedenen Botenstoffe ist gestört.
Transmitter? Botenstoffe? Ich wusste gar nicht, dass das Zeug mobil ist. Was man jetzt alles erfährt.
Meine laienhafte Phantasie malt sich aus, dass diese Botenstoff-Spediteure streiken. Wegen Eiweißablagerungen in den Gehirnzellen? Klingt eigentlich gar nicht so gefährlich. Morgen früh lieber kein Frühstücksei köpfen? Quatsch! Eiweiß im Hirn hat nichts mit Eiweiß in der Omelette-Pfanne zu tun.
Ich falle in die Kissen des komfortablen Hotelbetts, schreie lautlos zu Gott und finde keinen Schlaf. Der geheimnisvolle Herr P. ist in mein Leben getreten. Ich schieße mich zornig auf ihn ein, personifiziere ihn, nenne ihn beim Namen. Dieser P. scheint fest entschlossen zu sein, mich zu einem Behinderten zu machen. Für immer!
Wer bist du, Unbekannter?
Wann hast du dich heimlich in mein Leben geschlichen?
Wo hast du dich so lange versteckt, du Dämon der alten Leute, du Quälgeist der Tattergreise?
Hau gefälligst ab, du Undercover-Agent der neuen dementen Gesellschaft! Du kommst viel zu früh. Melde dich noch mal, wenn ich 80 bin. Da zittern fast alle.
Wer gibt dir das Recht, in meinem Kopf Blockaden zu errichten?
Was geht dich der Eiweißgehalt meiner Gehirnzellen an, Fremder?
Wer hat dir erlaubt, meine Dopamin-Transmitter heimlich zu beeinflussen, sodass diese ihre Transportarbeit zunehmend verweigern? Warum hast du diese treuen Arbeiter in meinem Kopf gegen mich aufgehetzt? Gehen die nach und nach alle in den unbefristeten Streik?
P., ich hasse dich! Und ich werde dich täglich verachten. Ich denke nicht daran, mit dir mein Leben zu teilen. Ich dementiere die Demenz, du Totengräber der Hoffnung auf einen schönen Ruhestand.
Was wollte ich nach dem aktiven Berufsleben noch alles tun! Meinen Söhnen Häuser bauen oder Wohnungen einrichten, unser eigenes Haus gründlich renovieren, den Garten neu anlegen – endlich so, wie meine Frau es sich seit 30 Jahren wünscht. Sie hat romantische Gartenphantasien – bei mir muss es praktisch sein. Sie träumt von Rosenlauben, während ich frage, ob das alles rasenmäherkompatibel ist. Ich gehe gern mal mit der Kettensäge in den Garten, sie mit der Rosenschere. Aber im Ruhestand wollte ich sie glücklich machen, dann sollte sie ihren Traumgarten bekommen.
Und Europareisen wollte ich machen: Fahrradtouren von Passau nach Wien und die E-5-Bergtour von Meran nach Oberstdorf oder den GR 20 von Calenzana nach Conza auf Korsika. Warum habe ich die schönen Dinge des Lebens immer vor mir hergeschoben?
Nun kann ich diesen Wunschzettel auf ein Seniorenprogramm zusammenstreichen. Als Fahrradfahrer – vielleicht bald mit dem E-Bike – auf der Rentnertrasse an der Lahn entlang und mit der Seilbahn auf die Zweitausender.
Wie habe ich früher über die Turnschuh-Alpinisten mit ihren Spazierstöcken und Trachtenanzügen gelästert, wenn sie – mit Kameras behangen – aus der Gondel auf die Terrasse der Bergstation gespuckt wurden, um ein paar Meter Trampelpfad mit ihrer Leibesfülle zu verdichten und der ohnehin strapazierten und kümmerlichen Flora den Rest zu geben. Bin ich auch bald einer dieser schnaufenden Edelweißkameraden, die oberhalb der Baumgrenze ihr Hefeweizen schlürfen und deftigen Schweinsbraten mit Knödeln verdrücken? Noch schnell ein Gruppenbild vor der grandiosen Bergkulisse und dann ab in die Gondel talwärts.
Inzwischen schäme ich mich für...