Magris Kreuz des Südens
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-446-28371-8
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Drei wahre unwahrscheinliche Leben
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-446-28371-8
Verlag: Hanser, Carl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Drei unwahrscheinliche, wahre Geschichten von der Welt 'am Ende der Welt'. Claudio Magris' meisterhafte Erzählungen handeln von außergewöhnlichen Menschen, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Patagonien auswanderten, um sich mit dem 'Anderen' zu konfrontieren: Ob es der slowenische Ethnologe Janez Benigar ist, der sich mit einer Mapuche vermählt, der französische Anwalt Orélie-Antoine de Tounens, der sich zum König von Araukanien ausrufen lässt und einen hoffnungslosen Freiheitskampf initiiert, oder schließlich Schwester Angela Vallese aus dem Piemont, die ihr Leben für die verfolgten Ureinwohner Feuerlands opfert. Magris erzählt die erstaunliche Geschichte unbekannter Helden, die die Fremde zur Heimat machten.
Claudio Magris, 1939 in Triest geboren, studierte Germanistik in Turin und Freiburg. Bis 2006 war er Professor für Deutsche Sprache und Literatur in Triest. Bei Hanser erschienen zuletzt »Verfahren eingestellt« (Roman, 2017), »Schnappschüsse« (2019) und »Gekrümmte Zeit in Krems« (Erzählungen, 2022). Magris erhielt zahlreiche wichtige Literaturpreise, u.a. 1999 den Premio Strega für »Die Welt en gros und en détail«, 2001 den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung und 2006 den Prinz-von-Asturien-Preis. 2009 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Essaypreis Charles Veillon. 2012 wurde ihm das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
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Am 17. November 1860 verkündet Orélie-Antoine de Tounens, Anwalt in der französischen Stadt Périgueux, der Welt die Geburt beziehungsweise Wiedergeburt des Königreichs Araukanien, dem er später den Namen »Reich von Araukanien und Patagonien« verleihen und zu dessen König er sich erklären wird. In Wahrheit sprach er bereits seit dem 18. Juli des Jahres als König, als er nämlich, vielleicht mit zwei Freunden, deren einen er schon zum Minister ernannt hatte, vielleicht aber auch allein, die Grenze zu Araukanien überschritten hatte, das Chile im Übrigen als sein Territorium betrachtet. Wenn überhaupt, fürchtet es höchstens Ansprüche von Seiten Argentiniens.
Wie verlaufen die Grenzen Araukaniens? Ich kenne die Grenzen des Gebiets nicht, wird Benigar mehr als fünfzig Jahre später sagen und versuchen, sie mithilfe der Ortsnamen zu bestimmen. Jedenfalls wird er ein vorsichtiges Vielleicht vorausschicken und dann von einem Gebiet im Zentrum Chiles und einem zweiten innerhalb von Argentinien sprechen. Seiner Ansicht nach lägen sie für Argentinien zwischen dem 30. und dem 46. Breitengrad und für Chile zwischen dem 30. und dem 47., zwischen den Anden und dem Pazifik. Ein Gebiet von ungefähr 800.000 Quadratkilometern. Die vermutlich mit den brasilianischen Guaraní verwandten Mapuche beziehungsweise Araukaner hatten vor 8000 oder 9000 Jahren die Anden überquert, sich zunächst in Zentralchile und nach und nach im Norden, in der Atacama-Wüste, und im Süden bis zur Insel Chiloé niedergelassen. Den Namen Mapuche hatten sie sich selbst gegeben: Volk der Erde. Es waren Jäger und Sammler, bald auch Bauern, immer auch Krieger, gewohnt, den getöteten Feind zu enthaupten und seinen Schädel als Trinkgefäß zu benutzen. Die Inka nannten sie Auca — was in Mapudungun, der Mapuche-Sprache, »wild«, »rebellisch« bedeutet und auch von einer störrischen Stute gesagt wird —, weil sie sich heftig der Invasion durch die Inka und deren Herrschaft widersetzt hatten. Ein freies Volk, das seinen Anführern keine Vollmachten einräumt und Entscheidungen in einer Form von Versammlung trifft. Als sich Jahrhunderte später jener außergewöhnliche französische Anwalt zu ihrem König machen will und diesen verstreut und in Wäldern versteckt lebenden Indigenen legislative Rechte zuspricht, ist er vielleicht gerade von ihrer ungezähmten Wildheit fasziniert, die ihn dazu veranlassen wird, die alten, vielleicht nur mutmaßlichen Grenzen zwischen Chile und Araukanien zu studieren und die Unabhängigkeit und Freiheit dieses Landes zu verkünden.
Mehr als zwanzig Jahre lang träumte der französische Anwalt davon, den Araukanern, die nach den Inka auch den spanischen Konquistadoren oft erfolgreich heftigen Widerstand geleistet hatten, dem dann wieder brutale Repressionen folgten, Größe und Freiheit zurückzugeben. Der heroische und immer wieder siegreiche General Lautaro war durch das in achtzeiligen Stanzen im Stil Ariosts verfasste Ritterepos von Alonso de Ercilla zu einer Figur der spanischsprachigen Literatur geworden: Für Voltaire war es ein Meisterwerk der Weltliteratur.
Die Befreiung und die Krone Araukaniens beschäftigten Orélie-Antoine de Tounens seit seiner Magisterarbeit über »Die Konquista und das Eigentum im Verhältnis zum Völkerrecht«, dazu kam seine obsessive Fixierung auf die Herkunft der eigenen Familie, die seiner Ansicht nach von einem Präfekten des römischen Galliens, den Kaisern von Byzanz und den Herren von Aquitanien abstammte und fünfhundert Jahre zuvor, im Hundertjährigen Krieg, ihres Adelspartikels beraubt worden war. Er kann zwar seinem Namen das »de« wieder hinzufügen, doch glaubt er, Adel und das Recht, zugleich die Pflicht zu regieren, beruhe auf der persönlichen Tugend und dem Verständnis für die universale Menschenwürde. Es gefällt ihm, dass Murat, Sohn eines Reitknechts, König von Neapel geworden ist und dass etliche napoleonische Generäle aus dem Volk kamen. Die Kaziken, die die einzelnen araukanischen und patagonischen Stämme anführen, sind für ihn nicht weniger adelig als der französische Hochadel. Sein erdachter Thron sollte den Gewaltverbrechen, den Raubzügen und Enteignungen, welche die indigenen Völker, ihre Welt und ihre Lebensbedingungen zerstören und weiterhin zerstören werden, ein Ende bereiten, den Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten von Seiten der Weißen und der Handelsgesellschaften, die sich illegal an der Schafzucht bereicherten. Das ging so weit, dass für das Ohr eines getöteten Araukaners oder Patagoniers ein Pfund Sterling gezahlt wurde.
Orélie-Antoine de Tounens begeistert sich seit seiner Schulzeit für den Plan einiger ehemaligen napoleonischen Offiziere, den Kaiser auf Sankt Helena zu befreien und in Südamerika ein französisch-indianisches Reich zu errichten. Später hat er vor, einen französisch-araukanischen Staat zu gründen, eine Art Kanada oder Louisiana, die verlorenen französischen Gebiete; keine Kolonie, sondern einen von Indigenen regierten Staat. Der Katholik Orélie-Antoine, der viele Jahre später, bettelarm, verlacht, aus der Gesellschaft ausgeschlossen und verfolgt, Papst Pius IX. um Hilfe bitten wird, ist von Jugend an Mitglied der Freimaurerloge der Freunde der Standhaften von Périgueux. Er wird sie regelmäßig um Geld für seine Projekte angehen, sie werden ihn aber am Ende ausschließen oder, das ist nicht ganz klar, seine Mitgliedschaft ruhen lassen, ein weiterer Schlag, der ihn vollends zu Boden werfen wird, den er aber einsteckt, ohne ganz den Mut zu verlieren.
Er ist ein typischer Abenteurer des neunzehnten Jahrhunderts, hat nichts von der Unbekümmertheit des Hochstaplers aus dem achtzehnten Jahrhundert, nichts von dessen zynischem und hellwachem Wirklichkeitssinn, seiner illusionslosen Kenntnis der Welt. Orélie-Antoine ist ein Held wie aus dem Melodram, eine Theaterfigur, eine Karikatur, er liebt das Pathos und die großen Gesten, bewegt sich an der Grenze zwischen Drama und Operette. Im Grunde ist auch Maximilian von Habsburg, liberaler Gouverneur der Lombardei, der später in verantwortungslosem Leichtsinn die Kaiserkrone von Mexiko annehmen wird, einem Land, von dem er nur sehr wenig weiß, weniger noch von dessen vulkanisch brodelndem Feuer, das ihn vernichten wird — letztlich ist auch er ein edler Walzerkönig, den Orélie-Antoine nicht von ungefähr bewundert. Im Kleinformat gehört auch Orélie-Antoine zu jenem Europa des neunzehnten Jahrhunderts, das Imperien gründet und sich über die ganze Welt ausdehnt, sich aber ahnungslos auf dem Weg in den Untergang befindet, bis zu jenem kollektiven Selbstmord, dem Ersten Weltkrieg, nach dem die globale Macht in andere Hände übergehen wird.
Es gab freilich viele Gründe, warum Geschichte und Kultur der Araukaner nicht nur einen großmütigen und gestörten Abenteurer faszinierten. Hatten sie doch die Tehuelche bzw. die Patagonier unterworfen, hatten der Invasion der Inka widerstanden, den spanischen Konquistadoren zugesetzt — Almagro, dem Eroberer Chiles, Pedro de Valdivia, der sie abgeschlachtet hat, doch am Ende selbst besiegt und getötet wird, während wenige Jahre später Caupolican, ihr neues Oberhaupt, von den Spaniern gefangen genommen und hingerichtet wird. Die Inka und nach ihnen die Spanier hatten den Mapuche den ruhmreichen Beinamen Auco gegeben; die Spanier werden sie schließlich Araukaner nennen, nachdem sie sie in einem erbitterten Krieg überwältigt haben — diesen von den Siegern aufgezwungenen Namen werden die Besiegten bis heute ablehnen.
Er taucht zum ersten Mal im Jahr 1569 auf, als Alonso de Ercilla y Zúñigas veröffentlicht wird. Tragische und melodiöse Oktaven, inspiriert von den großen Vorbildern aus der Tradition des Ritterepos, gewissermaßen eine Synthese von Vergil und Ariost.
Mit dem Poem des Konquistadors und Dichters, schreibt Isaías Lerner, Herausgeber und Kommentator des Gedichts, entsteht eine neue große epische Kunst, die nicht allein dem antiken Vorbild (im Wesentlichen Vergil und Lukan) verpflichtet ist, sondern durch die politischen Umwälzungen der Zeit, die großen Schlachten um die Vorherrschaft in Europa und die Eroberung der Neuen Welt geprägt ist. Jede große epochale Wende verlangt nach einer neuen großen Kunst, die ihr eine Form verleiht.
Gerade Ercilla verschmilzt in seinem Poem die Erfahrungen seines abenteuerlichen Kriegerlebens im Neuen Indien und die epochalen Veränderungen in einer genialen Mischung von gelebtem Leben, literarischen Topoi, klassischen Motiven, Renaissance-Modellen, antiken und ...