Magris Die Grenze
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-552-05942-9
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von der Durchlässigkeit eines trennenden Begriffs
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-552-05942-9
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Francesco Magris wurde 1966 in Triest geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Italien, Belgien und Cambridge und ist heute Professor für Ökonomie an der Universität von Tours, Frankreich. Die Grenze ist sein erstes Buch auf Deutsch.
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Rand und Grenze
Im Deutschen bedeutet das Wort »Grenze« sowohl Rand als auch Grenze. Die volkswirtschaftliche Schule, die das mikroökonomische Marginalprinzip anwendet, heißt »Grenznutzenschule«. Nach Jacob Grimm, einem der beiden großen Philologen der Romantik, die für ihre Märchensammlungen berühmt wurden, war die erste, ursprüngliche Bedeutung von Grenze jene, die das Ende eines privaten Grundbesitzes anzeigte. Im Altertum, so Johann Jakob Bachofen, einer der tiefsinnigsten Mythenforscher, wurde die Grenze des privaten Besitzes an Grund und Boden durch Grabsteine markiert, er endete an der Stelle, wo die Toten der eigenen Familie und der Sippe begraben waren. Trotzdem fällt es schwer, sich die Grenze als einen schweren Grabstein vorzustellen, man denkt eher an einen dünnen, fast nicht existenten Strich (der Rand einer Farbe am Himmel, der Saum des Lichts, der in der kabbalistischen Mystik auch der Saum der Finsternis ist, also nichts Materielles, Greifbares, er gehört weder zum Licht noch zur Finsternis).
Tatsächlich ist die Grenze ein Nicht-Ort, wie ein österreichischer Autor zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts über Triest sagte und eine englische Schriftstellerin hundert Jahre später wiederholte. Triest ist, Marc Augé zufolge, ein physischer und ein geistiger Ort, ungeklärt und vorläufig, weil es, wie viele Grenzstädte, häufig die staatliche Zugehörigkeit wechselte. In einer berühmten Anekdote sagt der Bewohner einer mitteleuropäischen Stadt, er sei in vielen verschiedenen Ländern gewesen, ohne je zu verreisen, denn seine Stadt gehörte mal zum einen, mal zum anderen und dann wieder zu einem dritten dieser Länder.
Die Grenze kann mal beschützen, mal gefangen nehmen, sie verschließt sich in sich selbst oder dehnt sich aus, um sich das einzuverleiben, was außerhalb von ihr liegt. Bertrand Westphal, einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten Geokritik, in der die Geographie zum Schlüssel für das Verständnis kultureller Phänomene wird, sagte in Bezug auf den Limes des römischen Reiches und Ovid, der an den äußersten Rand dieses Reiches verbannt wurde, dass Ovid von diesem Rand aus das Unbekannte erblickte, »das skythische Nichts«. Ovid tat dies jedoch in der imperialen Überzeugung, dass der römische Limes sich verschieben werde, um auch dieses Unbekannte einzuschließen.
Andererseits kann die Grenze auch geschlossen sein, eine verriegelte Tür für die Bewohner ihres Landes, auch wenn sie es nur für kurze Zeit verlassen möchten, wie im Fall des Eisernen Vorhangs und vieler anderer Grenzen totalitärer Staaten. Édouard Glissant erzählte eine Anekdote über die Chinesische Mauer — eine Grenze par excellence, ein breiter, starrer Rand —, in der ein General auf das Gebiet jenseits der Mauer zeigt und zu seinen Soldaten sagt: »Dort ist die Welt, und ihr werdet nicht hingehen.« Der Rand kann ein Verbot sein, die Säulen des Herkules, über die nicht hinausgegangen werden darf, das Ende des Festlands, eine Schwelle, die zu überschreiten, um aufs Meer hinaus zu segeln, in der Antike als Frevel galt. So wurde Jason, der erste Seefahrer, mitunter als Gotteslästerer angesehen.
Jack Goody bemerkt, dass »jede menschliche Gruppierung ihre mehr oder weniger präzise umrissenen Territorien hat«, das heißt, sie hat Grenzen, die all jene von diesem Gebiet ausschließen, die nicht als legitime Mitglieder der Gruppe angesehen werden, und jede Missachtung der gezogenen Grenzen stellt eine Übertretung dar. Dennoch haben diese Grenzen veränderliche Größen, je nachdem, ob sie den Migrationsfluss von Menschen oder den Warenfluss kontrollieren sollen (obwohl das Schengener Abkommen Ersteren und das GATT-Abkommen Letzteren begünstigen) oder ob sie, im Gegenteil, darauf abzielen, durch die Beseitigung restriktiver Bestimmungen die grenzüberschreitenden Bewegungen von Waren (den Handel) und Personen (zum Beispiel den Tourismus) zu fördern, weil staatliche Einnahmen bekanntlich empfindlich auf Schwankungen dieser Bewegungen reagieren. Die erhöhte Durchlässigkeit von Grenzen, die wir heute erleben, obwohl der internationale Terrorismus und die Ausbreitung von Epidemien es nahelegen, die Kriterien für den erlaubten Zugang zu den betroffenen Ländern zu verschärfen, ist eine Folge schwindender Souveränität der Nationalstaaten zugunsten einer weltweiten governance. Deren legislative Entscheidungen auf so unterschiedlichen Feldern wie der Wirtschaft, Gesundheit oder Verteidigung sind bindend für die einzelnen Staaten, die sie unter dem Druck politischer oder finanzieller Sanktionen in ihre eigene Rechtsordnung aufnehmen müssen. Die wachsende Geschwindigkeit des Informationsaustauschs und der Fortbestand stark bürokratisierter Regierungen müssten eigentlich zur Verschärfung von Grenzkontrollen führen, meint Goody.
Was dennoch zu einer Neubewertung der Bedeutung von Grenze zwingt, ist die Tatsache, dass das ethnische Kriterium in der Unterscheidung zwischen Staaten sich überlebt hat und schon seit Jahrhunderten (man denke an die Kolonialreiche) durch die Kultur ersetzt wird, das heißt, durch einverständlich geteilte Prinzipien in der Bildung und beim Mediengebrauch, in der Politik und vor allem durch die gemeinsame Sprache. Grenzen werden durchlässiger, weil die Beziehungen zwischen Staaten sich mittlerweile auf kulturelle Nähe statt auf ethnische Verwandtschaft gründen. Man denke an die Bindungen zwischen Ländern mit der gleichen Sprache, die zur Schaffung von gemeinsamen Einflusssphären führen, wie beispielsweise den anglophonen oder frankophonen Raum, trotz starker ethnischer Ungleichgewichte zwischen diesen Ländern. Frankreich zum Beispiel hat eine viel engere Bindung zu Québec oder den Ländern des Maghreb — frankophonen, aber ethnisch sehr stark von Frankreich unterschiedenen Ländern — als zu Staaten wie zum Beispiel Italien, mit denen es die Ethnie teilt und sogar eine enge geographische Nachbarschaft hat, die kulturell und sprachlich als ferner empfunden werden.
Frankreich neigt unter diesem Blickwinkel eher dazu, die ideelle Grenze niederzureißen, die es von der Provinz Québec oder vom Maghreb trennt, als seine geographische Grenze zu Italien. Italien fehlt eine bedeutende koloniale Tradition, die den Export seines kulturellen und sprachlichen Erbes in andere Länder begünstigt hätte, darum sieht es sich in sprachlicher Hinsicht isoliert und von einer unermesslichen Grenze umgeben. Andererseits ist es kein Geheimnis, dass viele separatistische Bewegungen, zum Beispiel die baskische und katalonische in Spanien, ihre Existenzberechtigung auch mit ihrem besonderen sprachlichen Erbe begründen, das der Nationalsprache stolz entgegengesetzt wird, weil sie nach Meinung der Separatisten das Werkzeug darstellt, mit dem das Zentrum sich gegenüber dem Rand durchsetzt und sich den Rand einverleibt.
Trotz ihrer Bedeutung als Rand, der sie tendenziell unbedeutend macht, hat die Grenze eine wichtige Rolle im Lauf der Geschichte gespielt. Geschichte ist schließlich auch eine Abfolge von Kriegen, die geführt werden, um sich Grenzgebiete als Beute zu sichern. Man denke an die Kriege, in denen Frankreich und Preußen — später auch Deutschland — sich abwechselnd Elsass und Lothringen streitig machten und wegnahmen, oder an den Ersten Weltkrieg, den Italien, zumindest vorgeblich, für die Annexion zweier Grenzstädte mit italienischer Sprache und Kultur und ihrer damals unter österreich-ungarischer Herrschaft stehenden Provinzen kämpfte, nämlich Trient und Triest. Und der auslösende Funke für den Zweiten Weltkrieg war, obwohl ebenfalls ein Vorwand, Deutschlands Absicht, Danzig zu rächen, das heißt, die polnische Grenze zu verschieben. Wie Churchill mit ironischem Bezug auf das Pulverfass des Balkans sagte, Orte an der Grenze erzeugen oft mehr Geschichte, als sie konsumieren können, weshalb sie sich genötigt sehen, sie zu exportieren. Meist verwickeln sie dann auch das Zentrum im Namen der Grenze in langwierige Kriege mit dem unvermeidlichen Blutzoll, doch deren Gründe werden von denen, die im Zentrum leben und die Realitäten an der Landesgrenze nicht kennen, kaum verstanden.
Abgesehen von diesen, mit sprachlich-kultureller Nachbarschaft oder Ferne zusammenhängenden Aspekten der Grenze, Themen, die schon oft gründlich analysiert und auch in literarischer Form vielfach verarbeitet wurden, gibt es einige andere Aspekte, die eine nähere Betrachtung lohnen. Das Gefühl der Marginalität zum Beispiel, das Bewohner der Grenze erfahren, kann sich in zwei entgegengesetzten Reaktionen äußern. Einerseits kann das Wissen um die eigene Randlage, das Ausgeschlossensein vom Fluss der Geschichte und des Lebens, der im Zentrum verläuft und vom Zentrum genährt wird, ein Minderwertigkeitsgefühl auslösen. Andererseits kann sie...