Schriften, Reden und Gespräche
E-Book, Deutsch, 224 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 205 mm
ISBN: 978-3-311-70291-7
Verlag: AKI Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Meine Worte werden da sein
Als junge Frau sah ich mich um, aber da war niemand, der aussprach, was ich hören wollte und gebraucht hätte. Ich fühlte mich vollkommen entfremdet, desorientiert, verrückt. Ich dachte mir, es müsse doch irgendeine Person geben, die so fühlt wie ich. Als Jugendliche war ich wirklich sprachlos. Ich konnte nicht sprechen. Ich sprach nicht, bis ich fünf Jahre alt war, genau genommen nicht wirklich, bis ich anfing, Gedichte zu lesen und zu schreiben. Ich las Gedichte und prägte sie mir ein. Wenn Leute mich fragten: »Was meinst du, Audre?«, oder: »Was hast du gestern gemacht?«, antwortete ich, indem ich ein Gedicht zitierte. Und irgendwo in dem Gedicht steckte die Zeile oder das Gefühl, das ich mitteilen wollte. Mit anderen Worten: Ich kommunizierte buchstäblich durch Gedichte. Als ich keine Gedichte finden konnte, die ausdrückten, was ich fühlte, begann ich, selbst welche zu schreiben. Da war ich zwölf oder dreizehn. Meine Kritiker*innen wollten mich vom ersten Gedicht an, das ich mit fünfzehn Jahren veröffentlicht hatte, auf eine bestimmte Rolle festlegen. Meine Englischlehrer*innen an der Hunter High School[4] sagten, dass ebendieses Gedicht viel zu romantisch sei (es war ein Gedicht über meine erste Liebesgeschichte mit einem Jungen). Da sie es nicht in der Schulzeitung veröffentlichen wollten, schickte ich es an das Magazin Seventeen[5], das es natürlich druckte. Meine Kritiker*innen wollten mich immer in ein bestimmtes Licht rücken. So sind die Leute. Es ist einfacher, mit Dichtung umzugehen – zumal mit der einer Schwarzen Frau –, wenn man die Dichterin in Schubladen steckt und einengt, damit sie die Erwartungen erfüllt. Doch ich wusste immer, dass ich nicht in irgendwelche Schubladen gesteckt werden kann. Das ist zugleich meine Stärke und meine Schwäche. Meine Schwäche, weil mich meine Unabhängigkeit viel Unterstützung gekostet hat. Meine Stärke, weil es mir die Kraft zum Weitermachen gegeben hat. Ich weiß nicht, wie ich all das überleben und gleichzeitig hätte schreiben sollen, hätte ich nicht gespürt, dass alles, was mich ausmacht, auch das ist, was mich und meine Vision einer möglichen Welt erfüllt. Ich war nur einmal Writer in Residence, und zwar vor elf Jahren am Tougaloo College in Mississippi. Das war entscheidend für mich. Entscheidend deshalb, weil 1968 gerade mein erstes Buch[6] veröffentlicht worden war. Es war meine erste Reise in den tiefen Süden. Es war das erste Mal, dass ich von meinen Kindern[7] getrennt war. Es war das erste Mal, dass ich mit jungen Schwarzen Studierenden in einer Workshop-Situation war. Ich erkannte, dass dies meine Arbeit ist, dass Unterrichten und Schreiben untrennbar verbunden sind. Dort verstand ich, was ich für den Rest meines Lebens machen wollte. Ich war »die Bibliothekarin, die schreibt«. Nach meiner Erfahrung in Tougaloo wusste ich, dass Schreiben zentral für mein Leben war und die Bibliothek nicht ausreichte, auch wenn ich Bücher liebte. Und zusammen mit den Ereignissen, die auf meinen Aufenthalt in Tougaloo folgten – Kings Tod, Kennedys Tod, Marthas Unfall –, hat mich all das erkennen lassen, dass das Leben sehr kurz ist und was wir zu tun haben, jetzt sofort getan werden muss. Ich hatte nie wieder eine andere geförderte Stelle als Autorin. Das Gedicht »Touring«[8] aus The Black Unicorn bringt deutlich zum Ausdruck, wie sich das für mich anfühlt. Ab und zu lese ich meine Gedichte öffentlich vor. Ich streue meine kleinen Samen aus, und dann gehe ich wieder. Ich hoffe, dass daraus etwas wächst. Manchmal finde ich heraus, dass es passiert ist, manchmal erfahre ich es nie. Ich muss einfach nur Vertrauen haben. Ich schreibe hauptsächlich für jene Frauen, die nicht sprechen, die sich nicht mit Worten ausdrücken. Weil sie – weil wir – solche Angst haben. Weil uns beigebracht wurde, die Angst wichtiger zu nehmen als uns selbst. Uns wurde beigebracht, unsere Ängste zu respektieren, doch wir müssen lernen, uns selbst und unsere Bedürfnisse zu respektieren. In den fünfziger und sechziger Jahren machten mich mein Lebensstil und die Gerüchte über mein Lesbischsein in Schwarzen Literaturkreisen zur Persona non grata. Nicht in jeder Hinsicht offen damit umzugehen, wer ich bin, führt zu einer bestimmten Erwartungshaltung mir gegenüber, die ich einfach nicht mehr bedienen möchte. Ich hoffe, dass so viele Menschen wie möglich sich mit meinem Werk und dem, was ich bin, auseinandersetzen können und in meinen Schriften etwas finden, das hilfreich für ihr Leben ist. Falls sie nichts finden, nichts finden können, haben wir alle verloren. Doch vielleicht werden ihre Kinder etwas finden. Was mich betrifft, war es überaus notwendig und produktiv, mich mit allen Aspekten meiner selbst auseinanderzusetzen. Das sage ich schon seit Langem. Ich bin nicht nur ein Teil meiner selbst. Ich kann weder nur Schwarz sein, ohne auch eine Frau zu sein, noch kann ich Frau sein, ohne auch eine Lesbe zu sein … Es wird natürlich immer Leute geben – und es gab sie immer –, die zu mir kommen und sagen: »So, definiere dich jetzt so und so«, um in der Folge andere Teile von mir auszuklammern. Das zu tun, ist unrecht mir selbst gegenüber, es ist unrecht gegenüber den Frauen, für die ich schreibe. Eigentlich ist es unrecht allen gegenüber. Wenn du die Definition dessen, was du bist, darauf beschränkst, was genehm ist, der Mode entspricht oder erwartet wird, schaffst du Unehrlichkeit durch Verschweigen. Wenn also eine Literaturgemeinschaft dadurch unterdrückt wird, dass sie von außen totgeschwiegen wird, wie es bei Schwarzen Schriftsteller*innen in den USA der Fall ist, und wenn stillschweigend auf einer einseitigen Definition dessen beharrt wird, was »Schwarzsein« ist oder sein soll, wird unser dynamischstes und kreativstes Talent auf ebenso schmerzhafte wie effektive Weise zum Schweigen gebracht. Denn alle aus dem Inneren kommenden Veränderungen und Fortschritte entstehen, wenn wir die Unterschiede zwischen uns wahrnehmen und anerkennen. Ich sehe mich selbst als Leidtragende, die jahrelang von der Schwarzen literarischen Community mundtot gemacht wurde, und ich bin bestimmt nicht die Einzige. So lässt sich zum Beispiel nicht an der Qualität meines Werkes zweifeln. Was glaubt ihr, warum mein letztes Buch, The Black Unicorn, in den dreizehn Monaten seit seinem Erscheinen in keiner einzigen Schwarzen Zeitung und keinem einzigen Schwarzen Magazin besprochen oder auch nur erwähnt wurde? Ich weiß, dass ich die Aufgabe habe, die Wahrheit so auszusprechen, wie ich sie wahrnehme, und nicht nur von meinen Erfolgen zu erzählen. Nicht nur die Dinge zu teilen, die sich gut angefühlt haben, sondern auch den Schmerz, den intensiven und oft ungelinderten Schmerz. Ich hätte nie gedacht, dass ich mein vierzigstes Lebensjahr erleben würde, und jetzt bin ich fünfundvierzig! Manchmal denke ich: »Hey, ich hab’s wirklich geschafft!« Ich bin sehr froh, mich dem Thema Brustkrebs, Vergänglichkeit und Sterben gestellt zu haben. Es war zwar hart, aber auch sehr stärkend, mich daran zu erinnern, dass ich mein ganzes Leben hätte schweigen können, um dann tot zu sein, für immer, ohne jemals das gesagt oder getan zu haben, was ich hätte tun müssen. Aus Schmerz, aus Angst … Wenn ich mit dem Reden gewartet hätte, bis ich das Richtige sage, würde ich jetzt kleine, kryptische Nachrichten über den Seelenschreiber senden, Klagen aus dem Jenseits. Ich bin mir sicher, falls das, was ich zu sagen habe, falsch sein sollte, wird es irgendeine Frau geben, die aufsteht und sagt, dass Audre Lorde sich geirrt hat. Doch meine Worte werden da sein, etwas, woran sie sich reiben kann, was sie zum Denken anregt und handeln lässt. Um ihre Leserschaft davon zu überzeugen, dass sie auch Gefühle haben, tendieren Schwarze Schriftsteller dazu, ihre Wut herauszuschreien, wohingegen Schwarze Schriftstellerinnen dazu neigen, den Schmerz und die Liebe zu dramatisieren. Anscheinend haben sie kein Bedürfnis, ihre Fähigkeit des Empfindens zu intellektualisieren, sie konzentrieren sich darauf, die Empfindung an sich zu beschreiben. Und Liebe ist oft Schmerz. Doch ich denke, es ist wirklich dringend notwendig, herauszufinden, wie viel dieses Schmerzes ich fühlen, wie viel dieser Wahrheit ich wahrnehmen und trotzdem unbeirrt leben kann. Letztlich ist es unerlässlich, zu entscheiden, wie viel des Schmerzes ich nutzen kann. Das ist die wesentliche Frage, die wir alle uns stellen müssen. Es gibt diesen Punkt, an dem der Schmerz zum Selbstzweck wird, und dann müssen wir ihn loslassen. Einerseits dürfen wir keine Angst vor dem Schmerz haben, andererseits dürfen wir uns nicht dem Schmerz als Selbstzweck unterwerfen. Wir dürfen die Viktimisierung nicht feiern, denn es gibt andere Wege, Schwarzsein zu leben. Die Linie zwischen diesen zwei Möglichkeiten, mit dem Schmerz umzugehen, ist fein, doch sehr deutlich. Ich wünschte, sie würde in den Werken Schwarzer Schriftstellerinnen sorgfältiger gezogen. Ich bin mir in meiner Arbeit auf besondere Weise dieser zwei Möglichkeiten, auf den Schmerz zu antworten, bewusst. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass Schmerz kein Lebenszweck ist. Er ist ein Teil des Lebens. Die einzige unerträgliche Art des Schmerzes ist der vergeudete Schmerz, der Schmerz, aus dem wir nicht lernen. Ich denke, wir müssen anfangen, zwischen den beiden zu unterscheiden. Protest ist für mich eine echte Möglichkeit, jemanden zu...