Loewit Sterben
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7099-3588-0
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zwischen Würde und Geschäft
E-Book, Deutsch, 328 Seiten
ISBN: 978-3-7099-3588-0
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Moderne Hochleistungsmedizin und die Verlängerung des Sterbens:
Der medizinische Fortschritt lässt heute nahezu jede Krankheit heilbar erscheinen. Mit modernen Behandlungsmethoden erkämpfen wir uns immer mehr Lebenszeit. Doch welchen Preis zahlen wir dafür? Bedeutet ein längeres Leben automatisch ein besseres? Haben wir verlernt, den Tod als Teil des Lebens zu akzeptieren?
Dr. Günther Loewit greift ein brisantes Thema auf: Sein Buch Sterben ist ein Plädoyer für Ehrlichkeit, Respekt und menschenwürdige medizinische Begleitung der letzten Lebensphase anstelle von Geschäftemacherei mit der Angst vor dem Tod.
* kritisch, provokant und informativ
* neuer Zugang zum Thema Sterben und Umgang mit dem Tod
* Blick hinter die Kulissen des Gesundheitssystems
* vom Medizin-Querdenker Dr. Günther Loewit
* Sterbehilfe und Lebensverlängerung als eine Frage der Ethik
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Sterben und Tod I:
Das Leben
Menschen sterben nicht, weil sie nicht mehr essen und trinken,
sondern Menschen essen und trinken nicht mehr, weil sie sterben. Das Versprechen vom ewigen Leben Die modernen Medien suggerieren ewige Jugend, Gewinn und laufend steigenden Lebensstandard als einzig erstrebenswerte Güter. Das Covergirl ist immer jung, faltenfrei und makellos gekleidet. Unsere permanenten virtuellen Begleiter sind entweder ohnehin unsterblich oder altern zumindest nicht. Die Auflösung unserer Bildschirme übertrifft die Möglichkeiten des menschlichen Auges. Selbst vergrößert bleibt auf ihnen das virtuelle Leben fehlerfrei. Nur das eigene Gesicht im Spiegel altert. Unaufhörlich, unaufhaltsam. Der westliche Lebensstandard unserer Tage wäre früheren Generationen wie die vorzeitige Erfüllung aller biblischen Versprechen auf das Paradies erschienen. Aus einer solchen Sicht verwundert es nicht, dass wir nicht mehr sterben wollen. Wer möchte schon freiwillig alle materiellen Güter und glitzernden Versprechungen dieser Welt für einen ungewissen Begriff vom Jenseits hinter sich lassen? Studien belegen allerdings, dass uns das Paradies der westlichen Wohlstandsgesellschaft auch unglücklich und depressiv macht. Aus dem biblisch-symbolischen Fegefeuer ist oftmals das Burn-out zu Lebzeiten geworden. Der Glaube an ein erstrebenswertes Jenseits ist mit zunehmender materieller Sättigung deutlich geschwunden. Im Sterben liegt kein Trost mehr. Und eine überhebliche Medizin macht glauben, dass Sterben im Grunde gar nicht mehr notwendig wäre. Oder zumindest, dass bis zur Stunde des Todes alle Organe reparabel oder austauschbar wären. „Die Augenmedizin hat sehr große Fortschritte gemacht: Rechtzeitige Diagnose und Vorsorge können die Sehkraft bis ins hohe Alter erhalten, betonen Mediziner.“ So zitierte der „Kurier“ im März 2013 die Sichtweise der Augenärzte. Was der zitierte Augenmediziner allerdings nicht sagt, ist, dass ein hoher Prozentsatz der alten und hochbetagten Menschen auch trotz der Fortschritte in der Ophtalmologie (Augenheilkunde) nur schlecht oder nichts sieht. Eben weil alte Menschen immer noch älter werden und die mit jeder erreichten Altersstufe zunehmenden Verschleiß- und Abbauprozesse nicht ewig korrigiert werden können. Die Orthopäden wiederum betonen, dass sie in der Lage seien, bis ins ebenso hohe Alter Hüft-, Knie-, Sprung- und allerlei andere Gelenke durch künstliche Implantate ersetzen zu können. Dank der minimalinvasiven Chirurgie, die derartige Eingriffe wie z.B. bei einer Arthroskopie mit kleinsten Verletzungen an der Hautoberfläche und oft nur mit lokaler Betäubung durchführen kann, würden die perioperativen Risiken – also die Risiken auf Komplikationen während und unmittelbar nach der Operation – auch für hochbetagte Patienten ständig weiter sinken. Auch Gefäß- und Herzspezialisten machen auf ihren jährlichen Mega-Event-Kongressen ähnliche Aussagen. Die Auflistung solcher und ähnlicher medizinischer Versprechungen könnte beliebig fortgesetzt werden. Kurz zusammengefasst: Niemand muss leiden, niemand muss sterben. Oder besser: Niemand müsste sterben. Wäre da nicht noch der Tod. Der Tod als medizinisch-gesellschaftliches Versagen. Als unausweichliche Hürde knapp vor dem ersehntesten aller Ziele, der Unsterblichkeit. Schon längst ist der moderne Medizinbetrieb mit all seinen lebensbegleitenden Ritualen zu einer festen gesellschaftlichen Größe geworden. Von der Zeugung an über die Schwangerschaft und die Geburt, während des ganzen Lebens bis zum letzten Atemzug gibt es keinen Schritt mehr, der nicht von der Medizin begleitet oder gar autorisiert werden müsste. Das ärztliche Attest ist ein lebensbegleitender Bestandteil von Beruf und Freizeit geworden. Kein Kinderfußball, kein Judo-Kurs, keine Ausbildung zur Krankenschwester, Kindergärtnerin oder Lehrerin, keine Anstellung im Lebensmittelhandel, bei Bund oder Land kommt ohne „körperlich und geistig gesund und frei von ansteckenden Krankheiten“ aus. Ein 18-jähriger junger Mann wird bei seiner Einberufung zur Musterung einer gründlichen medizinischen Untersuchung unterzogen: Lungenröntgen, eine augenärztliche, eine internistische und eine orthopädische Untersuchung, Harnanalyse und Blutabnahme. Der leicht erhöhte Blutdruck wird auf die Nervosität des Probanden zurückgeführt. Dass der junge Brillenträger fehlsichtig ist, ist offensichtlich und bedarf keiner eigenen Untersuchung. In der Harnprobe wird eine leicht erhöhte Eiweißmenge festgestellt. Der junge Mann wird erstens für tauglich zum Dienst mit der Waffe befunden und zweitens gebeten, die beanstandeten Befunde bei seinem Hausarzt einer weiteren Abklärung unterziehen zu lassen. Dort ist der Blutdruck dann im Normbereich, der Harn in Ordnung. „Vermutlich“, sagt der Hausarzt, „haben Sie beim Heer keinen reinen Mittelstrahlurin abgegeben, das wird die Ursache für den falschen Befund gewesen sein.“ Acht Monate später tritt der inzwischen 19-Jährige seinen Zivildienst beim Roten Kreuz an. Der erste Tag der Grundschulung ist einer weiteren eingehenden medizinischen Untersuchung gewidmet. Wieder wird dem jungen Mann Blut abgenommen. Diesmal sind zwei Leberwerte leicht erhöht. Wieder wird der Proband in schriftlicher Form ersucht, die krankhaften Befunde beim Hausarzt weiter abklären zu lassen. Dem Hausarzt erklärt der Zivildiener während der neuerlichen Blutabnahme in einem Nebensatz: „Wissen Sie, Herr Doktor, das war interessant, beim Roten Kreuz, da haben fast alle einen Zettel für den Hausarzt wegen der Leberwerte bekommen.“ Da dämmert dem Arzt, dass offensichtlich ein Analysegerät nicht korrekt kalibriert oder gar defekt war. Und wirklich, die zwei beanstandeten Leberwerte sind jetzt unauffällig. Nach einem Monat Ausbildung zum Hilfssanitäter wird der Zivildiener der Rettungsstelle in seinem Heimatort zugeteilt. Er staunt nicht schlecht, als er erfährt, dass der erste Arbeitstag wieder mit einer medizinischen Untersuchung beginnen wird. Etwas überspitzt könnte man formulieren: Die Medizin hat sich in so gut wie alle Bereiche des Lebens eingenistet wie eine Religion und bemüht in ihren Verhaltensweisen auch einen Großteil der kirchentypischen Strukturen. An die Stelle der einzelnen Götter in Weiß ist der Götze Medizin als übergeordnete Gottheit getreten. Und wie überall, wo es um Götter geht, geht es um Macht. Daher darf es auch nicht verwundern, dass die Medizin den behandelnden Händen der Ärzte entwunden und in die Fänge der Politik übergegangen ist. Wo sich der Kreis auch schließt. Denn an die Stelle von freier Arztwahl – seitens der Patienten – und freier Wahl diagnostischer und therapeutischer Schritte – seitens der Ärzte – ist ein von der Politik festgelegtes enges Korsett in Form einer juridisch überprüfbaren, evidenz-basierten Einheitsmedizin getreten. Wehe den Ärzten, und wehe den Patienten, die sich nicht an diese Vorgaben halten wollen. Den einen könnte der berufliche Tod, den anderen der leibliche Tod drohen. Kurz: Wer sich nicht ein Leben lang medizinisch kontrollieren und behandeln lassen will, dem blüht der Tod. Alle anderen Menschen sterben entweder medizinisch versehentlich, oder, aus juristischer Sicht noch besser, weil jemand aus dem Bereich der Gesundheitsindustrie schuld ist. Die Medizin verspricht jede Krankheit schon lange vor ihrem Ausbruch entdecken und heilen zu können. Scheinwissenschaftliche Aussagen, dass eine Lebenserwartung von 125 Jahren theoretisch möglich sei, klingen in Anbetracht des Alltags in modernen Pflegeanstalten wie Spott und Hohn. Und doch verfallen die Menschen unserer Tage solchen Versprechungen im gleichen Maß, in dem sie früher an ein ewiges Leben im Himmel geglaubt haben. Wozu sollte also noch jemand freiwillig sterben wollen? Aber unsere Kultur hat nicht nur das Sterben verlernt, sondern auch den Tod aus ihrer Wirklichkeit verbannt. Sterben passt nicht zur Erfolgsgesellschaft. Sterben passt nicht in die allgegenwärtige virtuelle Parallelwelt. Sterben ist Versagen, Sterben ist Schwäche, Sterben ist eine Schande. Sterben ist das Eingeständnis der Endlichkeit in einer unendlich globalisierten Welt. Wir sterben nur noch unter Protest. Von der Schulmedizin im letzten Augenblick – wenn eine Heilung nicht mehr möglich erscheint – fallengelassen wie die sprichwörtliche heiße Kartoffel. Wir sterben versehentlich. Wir sterben abgesondert und abgeschoben im Hospiz. Wir sterben palliativ. Wir sterben während einer letzten OP. Wir sterben auf der Intensivstation. Wir sterben einsam. Wir sterben im Pflegeheim. Wir sterben im Geheimen. Wir sterben unsichtbar für die Welt außerhalb des Geriatrie-, Medizin- und Pflegesystems. Wann und warum ist uns die Vertrautheit des Sterbens abhandengekommen? Ist die Freude am Leben in den letzten Jahrzehnten derart gewachsen, dass wir nicht mehr sterben wollen? Gegen diesen Gedanken sprechen die Statistiken, die unseren westlichen Gesellschaften mehr kranke, depressive und ausgebrannte Mitglieder bescheinigen, als es je zuvor gegeben hat. Warum verbannt unsere Gesellschaft also den Tod aus ihrer Wirklichkeit? Warum wird der Tod nicht als Erlösung von Depression und Langeweile gesehen? Warum hat die Betrachtung „Jetzt und in der Stunde unseres Todes“ dermaßen an Bedeutung für unsere Lebensführung verloren? Und warum ist unsere Gesellschaft nicht mehr imstande, den Tod als notwendigen Schlusspunkt des Lebens...