E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Leoncini Stark wie das Leben, flüssig wie die Liebe
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-451-82675-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit einem Vorwort des Dalai Lama
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-451-82675-7
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In einer Welt, die von Äußerlichkeiten und Schnelllebigkeit beherrscht wird – einer „Liquid World“ – bleibt es ein unumstößliches Bedürfnis des Menschen, geliebt zu werden. Der 1985 geborene Leoncini entwickelt für seine Generation eine Lebensphilosophie, die sich gegen den scheinbar einvernehmlichen Abgesang auf die Liebesfähigkeit junger Menschen stellt. Ganz im Gegenteil sieht er die Liebe als einzige Antwort auf das unablässige Schützenfeuer der Aggression und Unverbindlichkeit aus dem Internet. Entlang der Ideengeschichte von Psychologie und Soziologie entsteht eine klare und kraftvolle Botschaft: ein Appell für Empathie und Heilung in einer von Profit und Technologie getriebenen Zeit.
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Frauen, die nicht geliebt wurden
Als ich während meiner Grundschuljahre den Kommunionsunterricht besuchte, war ich danach jedes Mal verwirrt. Der Katechismus stieß mich in eine Art labyrinthische Paranoia, denn er weckte in mir fortwährend Fragen, auf die ich keine Antwort fand. Damals hatte ich eine platonische Beziehung zu einem Mädchen aus meiner Klasse: „Wir liebten uns“ und schienen füreinander geschaffen. Da sie sehr gläubig war und ich nicht die Chance verpassen wollte, sie zu sehen, entschied ich mich, begeistert in den Kommunionsunterricht zu gehen. Zugegebenermaßen war ich in der Schule eine riesige Nervensäge und stellte alles in Frage, was unsere Lehrerin mit Nonchalance erklärte, als handelte es sich um offenkundige Dinge von augenfälliger Evidenz. Ich erinnere mich, wie sie uns eines Tages ermahnte: „Lernt, denn wenn ihr es nicht tut, ist Gott unglücklich und bestraft euch; betet, denn wenn ihr es nicht tut, erkennt euch Gott nicht als seine Kinder an!“ Begreiflicherweise bestürzt, verfielen alle Kinder in eine Art mystischer Stille, die keiner zu unterbrechen wagte. Da ich damals schon die schlechte Angewohnheit hatte, Worte ernst zu nehmen, hakte ich nach mit einer Überlegung von der Sorte: „Ich kenne einen großen Jungen von mindestens 25 Jahren, der noch nie gebetet hat. Er ist drei Mal sitzengeblieben, aber es geht ihm blendend! Wie ist das möglich?“ Und ich fügte hinzu: „Aber, Frau Lehrerin, wie Leben denn die Kinder, die unseren Glauben nicht kennen? Sind sie alle Sünder und werden regelmäßig bestraft?“ Und schließlich: „Aber wie kann sich Gott alle Menschen merken, die er bestrafen will? Wie viele Köpfe hat er denn? Da können wir doch nicht nach dem Bilde Gottes geschaffen sein, sonst …“ Die Lehrerin, die nun nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, nannte mich ungezogen und vorlaut und warf mich aus dem Klassenzimmer. Doch das machte die Sache für mich auch nicht klarer. Dann kam der verhängnisvolle Tag, als die Lehrerin über die Zehn Gebote zu sprechen kam. Dazu möchte ich vorausschicken, dass ich mit meinen acht Jahren gegenüber dem Mädchen, in das ich platonisch verliebt war, ernste Absichten hegte. Beim neunten Gebot, „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib!“, schaute ich voller Stolz zu Elena, als wollte ich sagen: „Wer begehrt schon andere Frauen! Ich habe dich und bei dir will ich bleiben.“ Verlegen erwiderte sie meinen Blick, worauf ich mich befriedigt in die mütterlichen Augen unserer Lehrerin flüchtete. Ich dachte für mich: „Bravo, Thomas, diesmal hast du sie tatsächlich beeindruckt! Elena hat deine Botschaft sofort verstanden. Hoffen wir, dass auch sie keine Frauen deines Nächsten begehrt …, ich meine: Männer deiner Nächsten.“ Ziemlich beunruhigt darüber, dass das andere Geschlecht vergessen worden war, suchte ich das Blatt mit den Geboten. Nein, ich hatte richtig verstanden: Das neunte Gebot war nur für Männer gemacht, als gäbe es gar keine Frauen. Und plötzlich verstand ich das genaue Gegenteil. Seitdem war ich überzeugt davon, dass Gott unbedingt eine Frau sein musste! Eine Frau, die alle Männer dieser Welt begehren wollte, ohne zu sündigen! Und die Zehn Gebote erschienen mir nun als eine ernste und ungerechte Gefahr für meine zukünftige Beziehung mit Elena. Ich versuchte, meiner Lehrerin Fragen zu stellen, fand mich deshalb aber nur wieder vor die Tür gestellt. Ich war ein nutzloser Revoluzzer. Bedauerlicherweise wurde mir später klar, dass Frauen, da sie aus Politik und Verwaltung ausgeschlossen waren, es auch nicht wert waren, in den Zehn Geboten erwähnt zu werden: Man betrachtete sie als pure Objekte der Begierde und konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich selbst nach Männern sehnten. Nur die Männer mussten ihre sexuellen Fantasien im Zaum halten, Frauen durften solcherlei nicht einmal in der Vorkammer ihres Gehirns haben. Die Geschichte – und dies war nur ein einfaches Beispiel – ist ein einziger Friedhof weiblichen Schweigens. Über Jahrtausende haben Männer die Würde von Frauen zu Grabe getragen. Erst jetzt findet sie endlich eine eigene Stimme. Mich fasziniert die Philosophie. Aus diesem Grund habe ich einige ihrer bekanntesten Vertreter verschiedener Epochen ausgesucht, um einige Momentaufnahmen vergangener Kulturen zu betrachten, bevor wir uns unserer gegenwärtigen Gesellschaft zuwenden. Die Öffentlichkeit kennt unzählige Aphorismen dieser Männer, weiß jedoch mit Sicherheit wenig über ihre Haltung gegenüber Frauen. Doch treten wir einen Schritt zurück, oder besser gesagt: mehr als zweitausendvierhundertfünfzig Schritte, nämlich einen für jedes Jahr. Sokrates, der als Gründungsvater der Philosophie gilt, hatte laut Platons Symposion (Das Gastmahl) eine Lehrerin namens Diotima, die ihn die Dinge des Lebens und der „Erotik“ unterrichtete. Damit sind hier die „Dinge der Liebe“ gemeint, denn der Begriff „Erotik“ wird in einem viel weiteren Sinn verwendet, als wir es heute tun, wenn wir ihn ausschließlich mit der sexuellen Lust verbinden. Offenbar sind sich viele (männlichen) Gelehrte darüber einig, dass es diese Diotima niemals gab und sie nichts als eine Erfindung Platons ist. Meiner Meinung nach spielt das keine große Rolle, bedeutet schließlich das Lateinische „fingere“ formen, modellieren und nicht von Grund auf neu erfinden. Wenn also Platon eine solche weibliche Figur zitiert, muss sie in seiner Vorstellungswelt eine wichtige Rolle gespielt haben. Immerhin durfte die Frau im damaligen Griechenland die Funktion einer „Lehrerin“ ausüben, was in vielen späteren Epochen und Kulturen undenkbar war. Diotima kannte die „Kunst der Liebe“ und behauptete, Lieben bedeute, Schmerz und Glück in Balance zu halten und im Gleichgewicht zu leben zwischen allen Besitzwünschen, stets im Bewusstsein dessen, was fehlt, und dennoch voller Hoffnung. Mit anderen Worten, warten zu können und beim Gedanken daran, was uns fehlt, unsere Seele nicht aufreiben zu müssen. Auf diese Weise entsteht das Bild von der Liebe als einer besitzlosen Begierde, als einem Zustand, über den man hinwegkommen muss und hinwegkommt. Doch was hielten die großen Denkväter in Wirklichkeit von Frauen? Ich möchte im Folgenden die Aussagen einiger Philosophen und Intellektueller nachzeichnen, deren Bücher von Männern wie von Frauen meistgekauft werden. Dabei stelle ich mir vor, unter welchem Schlagwort sie subsummiert worden wären, hätte es damals die sozialen Medien gegeben, und benutze folgerichtig für jedes ein Hashtag. #diefrauistzerbrechlich Friedrich Nietzsche (1844–1900): Frauen „sind erfinderisch in Schwächen, um ganz und gar als zerbrechliche Zierarten zu erscheinen, denen selbst ein Stäubchen wehe tut […] So wehren sie sich gegen die Starken und alles ‚Faustrecht‘.“ (Die fröhliche Wissenschaft); „Der Mann ist für das Weib ein Mittel: der Zweck ist immer das Kind.“ (Also sprach Zarathustra); „[D]ie Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüt und die Leidenschaft.“ (Menschliches, Allzumenschliches) #frauenzurunterwerfungerzogen Arthur Schopenhauer (1788–1860), der in europäischen Buchhandlungen vermutlich meistgekaufte Philosoph des 19. Jahrhunderts: „Die Dame ist ein Wesen, das gar nicht existieren sollte. Statt ihrer sollte es Hausfrauen geben und Mädchen, die es zu werden hoffen.“ (Die Kunst, mit Frauen umzugehen) #diefrauistsozialabhängig Immanuel Kant (1724–1804): So wie Aude Lancelin und Marie Lemonnier in ihrem Buch Les philosophes et l’amour (Die Philosophen und die Liebe) schreiben, gilt Kant als ausgemachter Frauenhasser, ein konservativer Preuße alten Schlags, der es, euphemistisch ausgedrückt, nicht mochte, sich mit einer Frau über seine philosophischen Ansichten oder über die Französische Revolution zu unterhalten. So kam es nicht selten vor, dass Kant einer Gesprächspartnerin gegenüber äußerte, die Kenntnis und die Leitung der Küche bildeten die wahre Ehre der Frau; indem sie ihrem Mann, wenn dieser nach einem anstrengenden Vormittag müde und matt am Tisch sitze, erfreue und erfrische, würde sie sich selbst bei einem beruhigenden Gespräch Freude bereiten und so weiter. #diefraumussgehorchen Jean-Jacques Rousseau (1712–1778): „Der moralische Aspekt der Liebe ist ein künstliches Gefühl; er entspringt gesellschaftlichen Bräuchen und wird von Frauen mit großer Sorgfalt und Geschick hochgehalten, um ihre Herrschaft zu errichten und das Geschlecht, das gehorchen sollte, zum Gebieter zu erheben.“ (Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen) #dasrechtdiegesetzeabzulehnen Michel de Montaigne (1533–1592): „Die Frauen haben das Recht, sich gegen das Gesetz aufzulehnen, denn wir haben es ohne ihre Zustimmung gemacht.“ (Essais) #platondiskriminiertnicht Schließlich behauptet Platon (428 oder 427 v. Chr. – 348 oder 347 n. Chr.) im fünften Buch der Politeia (Der Staat), einem seiner bekanntesten Bücher, es gebe keine spezifisch...