Lenz / Ermisch | Dringende Durchsage | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Lenz / Ermisch Dringende Durchsage

Erzählungen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-455-01824-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-455-01824-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein literarisches Ereignis zum zehnten Todestag des großen deutschen Schriftstellers aus Hamburg
Entdeckungen im literarischen Nachlass von Siegfried Lenz haben mehrfach für Furore gesorgt: 2016 erschien mit mehr als 60 Jahren Verspätung sein zweiter Roman Der Überläufer und 2021 das Märchen Florian, der Karpfen. Dringende Durchsage versammelt nun unbekannte Erzählungen. Sie bieten Einblicke in Lenz' literarische Werkstatt und zeigen ihn als experimentellen und humorvollen jungen Schriftsteller am Beginn einer großen Karriere.

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Weitere Infos & Material


Cover
Titelseite
In jenen Tagen
Dringende Durchsage
Es gibt nur eine Straße in der Welt …
Tiere haben guten Leumund
Gestatten: mein Mann ...
Für andere hoffen – Geschenkte Erzählungen
Nachwort
Textnachweis
Dank
Über Siegfried Lenz
Impressum


Bei Godickes und Gieses, Adamikstraße 15
Zuerst tauchte Giese auf, wundgelaufen und mit rötlichen Augenlidern: er sah das Haus, es war abends, einer der milden, windstillen Abende 1945, lautlos und leer, ein Abend, um die Pfeife der Erschöpfung zu rauchen, Ruheabend, Feierabend. Aber er hatte nicht mal eine Kippe bei sich, und im Haus hatte er sich geirrt: er hatte noch das alte Haus gesehen, das Haus, woraus er gegangen war, heile Burg der Häuslichkeit, lindgrün getüncht: jetzt kam er zurück. Die kleine Bombe hatte mit ironischer Präzision gearbeitet, hatte alles sauber erledigt, was zwischen den Wänden stand, nur die Wände hatte sie dem Giese nachgelassen, die Wände, den Keller und einen würgenden Geruch nach Qualm: eine schöne Ruine, angeschwärzt und vielsagend, die schönste Ruine in der ganzen Adamikstraße. Und Giese dachte: daraus läßt sich etwas machen, sie bietet sich an dafür, diese Ruine bietet eine unheimliche Chance. Er zog zu seiner Frau in den Keller, er stieg in die Katakomben, um Atem zu schöpfen – Gieses Privat-Katakomben. War nicht einst alles aus den Katakomben ans Licht gebrochen, gestärkt und vorbereitet in sinnender Dunkelheit? Hat nicht der wunderbarste Aufruhr seinen Anfang in Höhlen genommen? Das Große reift in der Dämmerung – Giese, Buchhändler, Adamikstraße 15, ahnte es. Die Geschichte war auf den Nullpunkt gefallen, Zero zeigten die Temperaturen: die intellektuellen und die moralischen, die politischen und biologischen Temperaturen – es war die gespenstische Stunde Null, der ungeheure Augenblick, in dem Ende und Anfang identisch sind. Giese spürte, daß dieser Augenblick eine Gunst ist, der makellose Augenblick eines neuen Beginns. Auch Godicke spürte das, als er zurückkam: der zweite Mieter des Hauses Adamikstraße 15. Ex-Obergefreiter Godicke verschwand in seiner Katakombenhälfte, er sah das weinrote, schäbige Sofa unter dem Kellerfenster, er ging darauf zu und warf sich hin und blieb sieben Tage und sieben Nächte liegen. Das waren die Tage und Nächte dämmernder Geschichtslosigkeit, die Zeit stumpfen Neo-Fellachentums – das Bewußtsein war enteignet, die Erinnerung, die Gegenwart. Das Alte war vergessen; das Neue, das hereinbrechen sollte, unbekannt. Es war die sinnbildhafte Situation der Krise: der Mensch lebt ohne Entscheidungen, weil ihm die Möglichkeiten zu Entscheidungen fehlen. Zwischen jähem Schock und jähem Vergessen bleibt nur die Wahrnehmung einer einzigartigen Leere. So ging es Giese, und so ging es Godicke – sie empfingen die obligatorische Injektion Nihilismus und empfanden die rätselhafte Lähmung vor dem Anfang. Aber sie atmeten Katakombenluft und spürten die Chancen der Ruinen, sie ahnten, wo die »Schätze des Nichts« zu finden wären. Damals wurde Bilanz gemacht, rigoros und mit Bedacht. Sie hatten nichts, aber sie werteten auf oder werteten ab, und jeder zog seine Summe. Wenn das Leben am Nullpunkt anlangt, setzt immer die hohe Zeit der Bilanzen ein. Die Schildknappen der Katastrophe wollten herauskriegen, wie hoch ihr Kredit noch bei der Zukunft war. Und jetzt begannen sie, sich zu entscheiden, sie begannen zu handeln. Godicke hob den Kopf vom weinroten Sofa, er blickte durchs Kellerfenster, blickte zum Himmel hinauf aus äugender Froschperspektive, und der Himmel von ’45 war mild, war heiter. Er zog die Margarinekiste vom Fenster weg und besaß auf einmal Panorama: Schuttpanorama, Schrottpanorama, aber auf dem Schutt blühte schon irgendwas. Und dann entdeckte er, hoch auf den Trümmern, seinen Jungen, und sein Junge trug schon wieder ein Holzschwert. Godicke schloß die Augen: er war fertig und müde, er hatte den Wunsch, sich zurückfallen zu lassen auf das schäbige Sofa, aber plötzlich ging er zur Tür, ging ohne ein Wort hinaus und zu dem Jungen, und er nahm ihm, ohne ein Wort, das Holzschwert ab: er zog dem Jungen ein paar über und zerbrach das Holzschwert und verbarg die Splitter wild in den Trümmerritzen, schob sie tiefer und tiefer und warf Backsteine darauf. Giese beobachtete alles, man hatte noch Zeit damals, man nahm sie sich, wo immer man sie brauchte, Zeit war nicht rationiert. Und man war einer Meinung: die Katakombenluft schuf in der Adamikstraße 15 Gleichgesinnte, es herrschte das herrliche Einverständnis der Heimgesuchten, die Solidarität der Planenden. Damals hatten sie einen wachen, zuschnappenden Spürsinn, sie waren offen fürs Neue, und sie merkten, wovor sie sich am meisten in acht nehmen mußten: vor wohlfeiler Beruhigung, und sie ließen sich allesamt beunruhigen. Giese versetzte seinen gefütterten Bademantel, bekam Fleischmarken und sage und schreibe vier Flaschen Wein, er roch nicht am Wein, hielt ihn nicht einmal gegen das Licht, der Kenner, sondern schleppte ihn lakonisch ins Theater und sah einen neuen Sartre dafür und einen neuen Camus. Für Giese ging die Essenz seiner Existenz voraus - seine Handlung widerlegte die, die er gekommen war zu sehen. Ein Zeichen der Krise ist die Unschlüssigkeit, das Schwanken angesichts mehrerer Glaubensgewißheiten: dauerte diese Krise überhaupt? Wir erfassen uns, wir befinden uns jeweils da, wo »wir aufmerken« –, und waren das damals nicht Tage höchster Aufmerksamkeit? Hatten die Instinkte nicht Rasiermesserschärfe angenommen? Hatte das Bewußtsein nicht die lauernde Wachsamkeit des Leoparden? Hatten wir nicht – zwischen Heißgetränk und Hindemith – in der Physiognomik der Katastrophe geforscht und gesehen, daß aus dieser Katastrophe ein Pfeil flog, das freieste Geschoß, das Chance und Richtung bezeichnete? Waren nicht die Tafeln der diabolischen Werte ohne Zaudern zerbrochen worden? Die Krise war da, aber sie dauerte nicht lange. Der neue Bogen wurde mit der Weisheit der Narben gespannt. Godicke und Giese schichteten Backsteine auf, schichteten sie auf zu abgezählten Tausenderstapeln, jeder Stein ging durch ihrer beider Hände. Was sie an Arbeit umsetzten war Räucherfischpaste, waren Steckrüben gestovt und ein gelbbraungrüner Fleischersatz, die Gefahr der Gewichtszunahme bestand nicht. Beide arbeiteten nur in Hemd und Hose, beide verrieten eine imposante Magerkeit: Praxiteles wäre vielleicht stehen geblieben. Sie schufen einen freien Platz vor der Ruine, sie säuberten ihn, gruben ihn um, und der Platz wurde ein Garten. Es war ein armseliger Bissen Erde in der toten Landschaft. Und eines Tages begannen sie zu pflanzen. Sie pflanzten keine Radieschen, keine Kartoffeln, keinen Salat, keine Bohnen, sie trieben es weiter – was sie taten, war eine Provokation, eine prometheische Empörung: vor der Adamikstraße 15 wurden Blumen gesät. Damals waren sie sich einig in der Strategie des Alltags: das Nötigste genügt, sagte Giese. Unabhängig bleiben, das ist das Entscheidende. Wer unabhängig ist, ist disponibel. Wir sind intellektuelle Nomaden, Vorzeitjäger, eine besondere Sorte von Schlafgästen auf dieser Welt. Unser Kapital ist die Unsicherheit; die Prozente, die es abwirft, liegen darin, daß wir in Übereinstimmung mit unserer Zeit leben. Mehr kann niemand erreichen. Die Schöpfung liegt vor, als unumstößlicher Entwurf – wir können sie allenfalls korrigieren. Die Schöpfung ist sich ihrer Sache so sicher wie ein Henker, nachdem der Urteilsspruch gefällt ist. So Giese. Damals ereignete sich alles unter dem Prinzip grundsätzlicher Vorläufigkeit. Man gab dem Augenblick die Ehre, und der Augenblick revanchierte sich: er lieferte neue Maßstäbe, er förderte eine kritische Trennschärfe zutage, er machte hellhörig, bescheiden. Im Hause Adamikstraße 15 war man nahe daran, sich für die Katastrophe zu bedanken. Sie empfanden eine gewagte Lust am Desaster, eine durchaus unmasochistische Freude über die Nullpunktexistenz. Dann verschwand die trauliche Ruine: im Frühjahr erschien der Wagen mit den Leitern, ein Gerüst wurde zusammengeschraubt, hoch reckten sich die Himmelsleitern des Wirtschaftswunders über die geschwärzten Wände. Godicke, Redakteur, besah sich alles von der andern Straßenseite: er hatte sich nicht nur gewöhnt an die Ruine, er hatte sie liebgewonnen, schmerzlich lieb, er sah sie mit undurchsichtiger Wehmut schwinden. Eine unvermeidliche Erscheinung, dachte er, beschwichtigte er sich. Und er dachte an den Brief in seiner Tasche: ein Leserbrief, handgeschrieben; der Absender lebte auf einem Dorf, Post soundso. Es war der erste Brief dieser Art, eine kritische Zuschrift im Ton versteckter, aber sorgfältiger Drohung. Er hatte, wie oft zuvor, einen Chagall reproduziert, einen harmlosen von skurrilem Zauber – wenn Sie das nicht in Zukunft unterlassen, sagte der Brief, sehe ich mich leider gezwungen, Ihr Blatt abzubestellen. Wollen Sie sich, so schloß er, mit diesen Bildern lustig machen über Ihre Leser? Godicke wurde eine Sekunde unsicher. Der Vorwurf war absurd, aber er grübelte ihm nach. Was regte sich da? Welche alten Konserven begannen zu platzen? Wo war das kommentarlose Einverständnis der taufrischen Stunde Null? Oder hatte dies Einverständnis, hatte alles getrogen? War die Katastrophe nur eine gigantische Täuschung, die Chancen, die sie verheißen hatte, fade Illusionen? Giese verkaufte Bücher. Verkaufte? Er lieferte sie aus: die Zeitgenossen kamen zu ihm, blaß, mager und verfroren, und sie kauften, was da war. Und es störte sie nichts, weder das schlechte Papier, der Satz, der billige Einband. Giese spürte etwas von dem großen Durst, er erlebte den großen Hunger nach den Jahren...


Ermisch, Maren
Die Herausgeberin Maren Ermisch, geboren 1976, studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Kiel. Sie war von 2003 bis 2009 Mitarbeiterin im Buddenbrookhaus in Lübeck und ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen. Sie promovierte 2015 mit einer Arbeit über Theodor Fontanes Schottland-Reisebuch Jenseits des Tweed. Im selben Jahr kuratierte sie gemeinsam mit dem Storm-Haus in Husum und dem Buddenbrookhaus in Lübeck die Ausstellung „Bürger auf Abwegen. Thomas Mann und Theodor Storm“. Im Rahmen der Hamburger Ausgabe der Werke von Siegfried Lenz edierte sie die Bände Der Mann im Strom und Heimatmuseum (gemeinsam mit Heinrich Detering).

Lenz, Siegfried
Siegfried Lenz, 1926 im ostpreußischen Lyck geboren, gestorben 2014 in Hamburg, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Seit seinem Debütroman Es waren Habichte in der Luft von 1951 veröffentlichte er alle seine Romane, Erzählungen, Essays und Bühnenwerke im Hoffmann und Campe Verlag. Mit den masurischen Geschichten So zärtlich war Suleyken hatte er 1955 seinen ersten großen Erfolg, Sein Werk ist geprägt von der Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Problemen (z. B. Der Mann im Strom, 1957, oder Brot und Spiele, 1959) und mit dem Nationalsozialismus bzw. seiner Aufarbeitung. Zu Lenz’ größtem Erfolg wurde der 1968 erschienene Roman Deutschstunde. Bis heute ist die Geschichte eines Polizisten, der im Nationalsozialismus das Malverbot seines Freundes überwacht, eine bestechende Entlarvung eines pervertierten Pflichtgefühls. Das Buch wurde verfilmt, avancierte zur Pflichtlektüre an Schulen und war international ein großer Erfolg. Der Deutschstunde folgten viele weitere große Romane (Das Vorbild, 1973, Heimatmuseum, 1978, Der Verlust, 1981, Exerzierplatz, 1985, Die Auflehnung, 1994, Landesbühne, 2009), welche Siegfried Lenz neben Schriftstellern wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Martin Walser zu einem der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren machte. Sein zweiter Roman Der Überläufer erschien postum im Jahr 2016 und wurde ein großer Erfolg. Für seine Bücher wurde er mit zahlreichen bedeutenden Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem Gerhart-Hauptmann-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2009.

Siegfried Lenz, 1926 im ostpreußischen Lyck geboren, gestorben 2014 in Hamburg, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Seit seinem Debütroman Es waren Habichte in der Luft von 1951 veröffentlichte er alle seine Romane, Erzählungen, Essays und Bühnenwerke im Hoffmann und Campe Verlag. Mit den masurischen Geschichten So zärtlich war Suleyken hatte er 1955 seinen ersten großen Erfolg, Sein Werk ist geprägt von der Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Problemen (z. B. Der Mann im Strom, 1957, oder Brot und Spiele, 1959) und mit dem Nationalsozialismus bzw. seiner Aufarbeitung. Zu Lenz' größtem Erfolg wurde der 1968 erschienene Roman Deutschstunde. Bis heute ist die Geschichte eines Polizisten, der im Nationalsozialismus das Malverbot seines Freundes überwacht, eine bestechende Entlarvung eines pervertierten Pflichtgefühls. Das Buch wurde verfilmt, avancierte zur Pflichtlektüre an Schulen und war international ein großer Erfolg. Der Deutschstunde folgten viele weitere große Romane (Das Vorbild, 1973, Heimatmuseum, 1978, Der Verlust, 1981, Exerzierplatz, 1985, Die Auflehnung, 1994, Landesbühne, 2009), welche Siegfried Lenz neben Schriftstellern wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Martin Walser zu einem der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren machte. Sein zweiter Roman Der Überläufer erschien postum im Jahr 2016 und wurde ein großer Erfolg. Für seine Bücher wurde er mit zahlreichen bedeutenden Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main, dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dem Gerhart-Hauptmann-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Lew-Kopelew-Preis für Frieden und Menschenrechte 2009.



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