E-Book, Deutsch, 185 Seiten
Lenhard / Spinath / Kersting Erleben, Lernen und Verhalten von Kindern und Jugendlichen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-17-036296-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie Schule mit Auffälligkeiten umgehen kann
E-Book, Deutsch, 185 Seiten
ISBN: 978-3-17-036296-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kindheit und Jugend sind schillernde Abschnitte im Laufe des Lebens, die in der Retrospektive gerne verklärt werden. Dabei werden häufig die immensen Aufgaben übersehen, die Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer Entwicklung lösen müssen. Die Schule spielt dabei eine zentrale Rolle. In ihr können Kinder wachsen und sich entfalten oder auch scheitern. Das Buch stellt hierzu den aktuellen Forschungsstand der wichtigsten Themenbereiche dar und liefert plausible Erklärungen für Lernstörungen, Angst, Gewalt sowie besondere Begabungen. Neben den Grundlagen wird auch das notwendige Praxiswissen für den Umgang mit problematischen Entwicklungen und Belastungsfaktoren im schulischen Kontext vermittelt und es werden konkrete Lösungsansätze vorgestellt.
Weitere Infos & Material
1 Einführung
Kindheit und Jugend sind schillernde Zeiträume im Leben eines Menschen, voller Wünsche und Träume und gekennzeichnet von einer sehr schnellen Entwicklung. Erwachsene denken oft gerne und mit einem verklärten Blick an diese Zeit zurück und verdrängen nur zu leicht die Schwierigkeiten, denen sie in diesem Lebensabschnitt gegenüberstanden. Der vorliegende Band möchte diese spezifischen Schwierigkeiten aufarbeiten und neben den Grundlagen auch das notwendige Praxiswissen zur Erkennung und zum Umgang mit ihnen vermitteln. Dabei gliedert es sich in die folgenden Themenkomplexe: a. Kognitive Fähigkeiten und Schulleistung: Hochbegabung, Lese-Rechtschreibstörung und Rechenstörung; b. Externalisierende Verhaltensprobleme: ADHS, Aggression und schulische Gewalt; c. Internalisierende Verhaltensprobleme: Angst. Während also zweifelsohne Fragestellungen und Phänomene der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie im Fokus stehen, erhebt das Buch nicht den Anspruch eines Lehrwerks für die Klinische Psychologie und Psychotherapie, sondern zielt auf den Umgang mit problematischen Entwicklungen und Belastungsfaktoren vordringlich im schulischen Kontext ab. Es hat das Ziel, das Wissen zur Erkennung und zum Verständnis problematischer Entwicklungen und jenseits therapeutischer Herangehensweisen Wege zum Umgang mit diesen Problemen zu vermitteln. Lernziele
• Überblick über psychische Belastungsfaktoren, • Kenntnis der Kriterien zur Definition psychischer Störungen, • Kenntnis der Begriffe Prävention, Intervention, Epidemiologie, Komorbitität, Klassifikationsmanuale (ICD und DSM). 1.1 Das Jugendalter – ein gefährlicher Entwicklungsabschnitt?
Betrachtet man beispielhaft für Sekundarschulen in Deutschland die Gymnasien, so hat ein durchschnittliches Gymnasium aktuell etwa 720 Schülerinnen und Schüler (Statistisches Bundesamt, 2018a, S. 38) und bei einem Schnitt von ungefähr 15 Jugendlichen pro Lehrkraft ca. 48 Lehrkräfte. Wendet man die Ergebnisse der epidemiologischen Forschung auf diese Zahlen an, so ergeben sich die folgenden Belastungszahlen: • 162 haben Lernprobleme (22,5 %; Fischbach et al., 2013). • 88 verletzen sich regelmäßig selbst (12,25 %, Brunner et al., 2015). • 29 haben eine dauerhaft andauernde depressive Störung (ca.4 %; Klasen et al., 2015). • 72 haben klinisch bedeutsame Ängste (10 %; Ravens-Sieberer et al., 2007). • 32 sind von ADHS betroffen (4,5 %; Akmatov et al., 2018). • 72 beteiligen sich regelmäßig an Gewalthandlungen (10 %; Schäfer & Letsch, 2018). • 29 sind stabil in einer Opferrolle (4 %; Schäfer & Letsch, 2018). • 158 haben Probleme mit dem Essverhalten (21,9 %; Hölling & Schlack, 2007). Summiert man diese Zahlen, dann kommt man auf einen Anteil von 88,2 %. Es drängt sich der Eindruck auf, dass fast jede Person von einem psychischen Problem betroffen sei. Glücklicherweise ist das in diesem extremen Ausmaß nicht der Fall und die Mehrheit der Jugendlichen wächst unbeschwert auf. Unglücklicherweise kumulieren sich die Probleme aber bei einzelnen Schülerinnen und Schülern, sodass beispielsweise eine Lernstörung gleichzeitig mit Angststörungen und Depressionen einhergehen kann. Dieses Phänomen des gleichzeitigen Auftretens verschiedener Störungen oder Krankheiten nennt man Komorbidität oder komorbide Störungen. Die verschiedenen Störungen können miteinander interagieren und einander bedingen oder sie können in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Im Einzelfall zeigen sich allerdings häufig unterschiedliche Problemfelder bei einer Person, ohne dass eine Aussage getroffen werden kann, welche Störung für die Entstehung welcher anderen Störung verantwortlich ist. Doch auch aufseiten der Lehrkräfte sieht es nicht zwangsläufig viel besser aus, denn von den durchschnittlich 48 Lehrkräften überfordern sich 15 permanent selbst (31 %; Schaarschmidt & Kieschke, 2013), 14 sind Burn-Out-gefährdet und ca. 36 Personen (75 %) werden vor Erreichen der gesetzlichen Regelaltersgrenze aus dem Dienst ausscheiden (Statistisches Bundesamt, 2018b). Es drängt sich die Frage auf, wieso das Schulsystem so stark von psychischen Störungen belastet ist, aber die Antwort ist letztendlich einfach: Es ist gar nicht besonders massiv betroffen, sondern psychische Probleme sind ein ganz normales Phänomen des menschlichen Lebens. In der Schule fallen die Probleme jedoch häufig erstmals auf und es besteht die berechtigte Hoffnung, in diesem jungen Alter Veränderungen herbeiführen zu können. Aufgrund der Schulpflicht besuchen zudem alle Kinder und Jugendlichen das Schulsystem und sie bringen auch alle Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, mit in die Schule. Gleichzeitig sind Probleme zum Teil ein Entwicklungsphänomen, denn die Entwicklung verläuft in diesem Lebensabschnitt rasant und sie geht mit Aufgaben einher, die gelöst werden müssen. Entwicklung ist somit nicht nur faszinierend, komplex und spannend, sondern Probleme können sich auch sehr schnell verschärfen. Doch auch das Schulsystem steht mit seiner begrenzten Differenzierungsfähigkeit vor der Herausforderung, diesen unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht zu werden, und durch die Schulpflicht entfällt die Möglichkeit, den Anforderungen und schulischen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Hintergrundwissen über die Komplexität der Herausforderungen, denen Kinder und Jugendliche gegenüberstehen, ist deshalb für im Bildungsbereich tätige Personen enorm wichtig. Abb. 1.1: Todesfälle pro 100 000 Personen des gleichen Alters und Geschlechts (Statistisches Bundesamt, 2019) Betrachtet man die Sterbetafeln des Statistischen Bundesamtes ( Abb. 1.1; Statistisches Bundesamt, 2019), so fällt auf, dass das Alter zwischen 2 und 13 Jahren ein relativ behüteter Lebensabschnitt ist. In diesem Altersbereich versterben nur wenige Kinder, auch wenn jeder einzelne Fall ein individuelles, tragisches Schicksal darstellt. Ab dem Alter von 14 Jahren kommt es zu einer generellen Zunahme der Mortalität und vor allem bei den Jungen zeigt sich eine steile Zunahme. Hierfür gibt es viele Gründe. Zum einen tritt im Jugendalter oft eine höhere Risikobereitschaft auf, die beispielsweise zu riskantem Substanzgebrauch und gefährlichem Verhalten im Straßenverkehr führt. Auch Suizidalität spielt eine bedeutsame Rolle: Bis zum Alter von 35 Jahren sind Unfälle und Selbsttötungen die häufigsten Todesursachen und somit Faktoren, die einen starken Bezug zum Verhalten der betreffenden Personen haben. Doch auch jenseits dieser extremen Ereignisse gibt es zahlreiche Belastungsfaktoren im Kindes- und Jugendalter, mit denen umgegangen werden muss, wie z. B. Konflikte mit Gleichaltrigen oder den Eltern, Trennungen, finanzielle Probleme, schulische Leistungsanforderungen, Ausgrenzung und Bullying bzw. generell in diesem Lebensalter auftretende Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse, und es entstehen Belastungen, die sich in Form psychischer Störungen manifestieren können. Viele dieser Störungen treten im Kindes- und Jugendalter erstmalig auf, wie z. B. • Lernstörungen: Diese ergeben sich aus den schulischen Anforderungen ab der Einschulung und sie zeigen sich anhand der zunehmenden Probleme, mit der steigenden Komplexität und Geschwindigkeit der Wissensvermittlung in den folgenden Schuljahren Schritt zu halten. • Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration: Eine Diagnose erfolgt i. d. R. frühestens ab dem 6. Lebensjahr, mit einem Schwerpunkt in der Grundschule. Auch hier sind die Gründe mit denen der Lernstörungen vergleichbar und es kommen häufig weitere Konflikte im sozialen Verhalten hinzu. • Angststörungen: Während bereits im Vorschulalter verschiedene Phänomene, wie die Angst, allein gelassen zu werden, oder die Angst vor Fremden, zu beobachten sind, werden zu Schulbeginn Trennungsängste und schließlich im Laufe der Schule Prüfungsangst und soziale Angst...