E-Book, Deutsch, 146 Seiten
Reihe: Systemische Horizonte
Lehmann Kunst – Liebe – Religion
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8497-8531-4
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Theorie der Humanmedien
E-Book, Deutsch, 146 Seiten
Reihe: Systemische Horizonte
ISBN: 978-3-8497-8531-4
Verlag: Carl-Auer Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Harry Lehmann, Dr. phil.; Philosoph und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg mit den Schwerpunkten Systemtheorie, Kunstphilosophie und Musikphilosophie; freier Autor mit zahlreichen Publikationen, darunter: Ideologiemaschinen. Wie Cancel Culture funktioniert (2024).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Humanmedien
Die unterschiedlichen Kommunikationssphären des Rechts, der Macht, des Reichtums, der Schönheit, der Wahrheit, der Liebe und des Glaubens ließen sich schon im Mittelalter differenzieren und mit unterschiedlichen Worten bezeichnen. Vor allem aber waren sie mit verschiedenen Symbolen assoziiert: Zepter und Krone fungierten als Symbole der Macht, Kreuz und Kirche symbolisierten die Religion, Paläste und Gold den Reichtum, Bücher und Bibliotheken die Sphäre des Wissens, Gerichtsverfahren das Recht und die Minnegesänge zeigten an, dass es hier um Liebe geht.
Jede Kommunikation lässt sich verneinen; es zirkulieren eine Unmenge von subjektiven Gesichtspunkten, die ein Gespräch zwischen Menschen unterbrechen oder beenden können. Sobald aber Kommunikationssymbole präsent sind, entsteht die Möglichkeit, dass sich alle Anwesenden auf einen einzigen spezifischen Kontext fokussieren und von allen anderen Themen und persönlichen Interessen absehen. Idiosynkratische Äußerungen verlieren im Licht der Symbole ihre Anschlussfähigkeit und diejenigen, die sich nicht auf diese kommunikativen Selbstbeschränkungen einlassen, schließen sich selbst aus den Gesprächskontexten aus.
Solche mitlaufenden Symbole führen in den entsprechenden Gesprächs- und Handlungskontexten zu einer »symbolischen Generalisierung« der Kommunikation. Sie stellen sicher, dass alle Gesprächsteilnehmer jederzeit wissen, in welchem sozialen Kontext sie sich befinden und in welchem nicht. Es kommt, so die Systemtheorie, zur Ausbildung von »symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien«, die darauf spezialisiert sind, die Annahmechancen einer unwahrscheinlichen Kommunikation zu erhöhen (vgl. GdG, 202–205; siehe das »Verzeichnis der zitierten Schriften von Niklas Luhmann«, S. 137).
Symbolische Generalisierungen haben vermutlich schon seit jeher die Kommunikation strukturiert; in der Neuzeit gewinnen manche Symbole aber eine besonders starke Prägnanz. Neben Büchern und Bibliotheken gelten jetzt auch Fernrohre und mathematische Formeln als Symbole des Wissens oder es entstehen Gemäldesammlungen und Orchesterpartituren, welche das Kommunikationsmedium der Künste symbolisieren können. Diese neuen Symbole werden zum Katalysator eines Epochenumbruchs vom Mittelalter zur Neuzeit.
Mittelalter
Sobald sich einzelne Kommunikationssphären unterscheiden lassen, entstehen Leitdifferenzen mit einem Positivwert auf der einen Seite, wie Glaube, Recht, Macht oder Liebe, und einem Negativwert auf der anderen Seite, der zunächst einmal nur die leere Außenseite der jeweiligen Kommunikationssphäre bezeichnet, auf der es nicht mehr um Glauben, nicht mehr um Recht, nicht mehr um Macht und nicht mehr um Liebe geht. Wir werden diese Leitdifferenzen, die eine eindeutige Präferenz für ihren Positivwert besitzen, im Anschluss an Luhmann Präferenzcodes nennen. Luhmann sagt diesbezüglich:
»Es kann um Recht oder Unrecht gehen, um wahr oder unwahr, um Eigentum haben oder nicht haben, um Geld zahlen oder nicht zahlen, um an der Regierung oder in der Opposition sein. Solche Leitdifferenzen beginnen ihre semantische Karriere als Präferenzcodes. Sie suggerieren, dass es besser sei, sich für den positiven Wert als für den negativen Wert zu entscheiden« (SA4, 19).
Präferenzcodes lassen sich mit einem Winkelzeichen über dem Positivwert darstellen, sodass die ihnen eingeschriebene Präferenz auch grafisch zum Ausdruck kommt:
In einer hierarchisch differenzierten Gesellschaft, mit einem König und einem Papst an der Spitze der Gesellschaftspyramide, lassen sich die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sprachlich voneinander abgrenzen, aber sie besitzen deswegen keine Eigenständigkeit. Der König ist mächtig, reich, schön, er ist immer im Recht und er besitzt die Wahrheit. Der hierarchischen Gesellschaftsstruktur entspricht eine Spitzenintegration der gesellschaftlichen Kommunikation, in welcher die Positivwerte der Präferenzcodes miteinander verschmelzen (Abb. 1).
Die Negativwerte der Präferenzcodes gewinnen mit der Zeit eine relationale Bedeutung, indem sie das Gegenteil des jeweiligen Positivwertes bezeichnen. Wenn es um die Dinge des Glaubens geht, dann muss auch von den Ungläubigen die Rede sein; wer in der Politik nach Macht strebt, muss auch mit einem Machtverlust rechnen; wenn Recht gesprochen wird, muss es vom Unrecht unterschieden werden; wer im Mittelalter die Geliebte ansingt, braucht auch Worte dafür, mit denen er sich vom vulgären Begehren des Volkes distanzieren kann. Die Präferenzcodes erfüllen also eine Doppelfunktion, indem sie eine Abgrenzung nach außen und eine positive Wertung nach innen ermöglichen. Und falls man an den mittelalterlichen Klöstern und Höfen noch vage Vorstellungen von antiker Kunst und Philosophie besaß, mussten diese ebenso in der Form von Präferenzcodes kommuniziert werden.
Abb. 1: Codierung der Kommunikation in der hierarchisch differenzierten Gesellschaft des Mittelalters
Die hierarchische Differenzierungsform der Gesellschaft – die alle Macht, alle Ressourcen und alle Entscheidungsgewalt auf eine Person konzentriert – stellt jene Gesellschaftsstruktur bereit, die eine Spitzenintegration der Präferenzcodes ermöglicht. Die hier stattfindende Verschmelzung der positiven Kommunikationswerte manifestiert sich auch in der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, die wiederum die sozialen Hierarchien stabilisiert. In Europa wurde diese semantische Integration von der katholischen Kirche geleistet, welche die Gründungstexte des Christentums in einer Weise kanonisierte, dass diese das Denken und Verhalten der Menschen durchgängig regulieren konnten. Dem Katholizismus waren nicht zuletzt starke moralische Urteile eingeschrieben, welche die Achtung eines Menschen in der Gemeinschaft davon abhängig machten, ob dieser gottgefällig lebte.
Eine über Religion und Moral integrierte Gesellschaft lässt keinen Spielraum für Widerspruch und Innovation. Wissenschaftliche Thesen wie die, dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe sei, lassen sich unter solchen Kommunikationsverhältnissen – die zugleich Machtverhältnisse sind – nur schwer vertreten, da sie zugleich als blasphemische und amoralische Kommunikation verstanden werden. Solange die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien über gemeinsam geteilte Ideen verbunden bleiben, wird jeder Widerspruch in einer Kommunikationssphäre sogleich als Widerspruch in anderen Kommunikationssphären registriert. Spezifische Negationen schlagen im ganzen Gesellschaftssystem Wellen und stoßen entsprechend überall auf Ablehnung und Widerstand. Man kann unter diesen Umständen gesellschaftlich Höherstehenden nicht einfach sagen, ihre Aussagen seien falsch, sie seien im Unrecht, sie seien hässlich, arm oder vulgär. In einer hierarchisch differenzierten Gesellschaft lassen sich die Negativwerte der Kommunikationscodes kaum produktiv nutzen; sie markieren nur das Territorium, das es zu meiden gilt.
Neuzeit
Aufgrund vieler glücklicher Zufälle kam es im 15. Jahrhundert zu einer langsamen Auflösung der hierarchischen Differenzierungsform in Europa. Ein entscheidender Faktor dürfte hierbei das Entstehen von Banken gewesen sein, infolgedessen sich »Geld« als leistungsfähiges Kommunikationsmedium der Wirtschaft etablieren konnte, das nun auch in Form von Krediten existierte. Dieses quasi aus dem Nichts geschöpfte Geld war nicht mehr unmittelbar an Eigentum und Besitz gekoppelt, sodass sich ein spezifischer Typus von wirtschaftlichen Operationen herauszubilden vermochte, der einfach und flexibel von allen Beteiligten zu handhaben war, nämlich die »Zahlungen«. Das Geld als universell einsetzbares Zahlungsmittel überformte unter den Bedingungen einer Kreditwirtschaft den Präferenzcode von Reichtum und Armut und etablierte sich selbst als neues Symbol der Wirtschaftskommunikation.
Zahlungen sind abstrakte Operationen, die sich in Zahlen und Bilanzen ausdrücken. Aufgrund dieses Abstraktionsgrades entzieht sich diese Art von Kommunikation weitgehend der direkten Beobachtung und damit auch dem unmittelbaren Zugriff durch Kirche und Staat. Der mit dem Kreditwesen möglich gewordene Zahlungsverkehr führt also an sich schon zu einer größeren Autonomie der Wirtschaftskommunikation. Es geht jetzt nicht mehr primär um den Erwerb konkreter Güter, sondern um das Erwirtschaften von Geld, womit das Grundprinzip des Kapitalismus etabliert ist.
Durch diese kreditbasierte Wirtschaftsform entstehen komplexe Probleme, die es vordem nicht gab. Man muss berechnen können, welche Investitionen Erfolg versprechend sind, an wen man einen Kredit vergeben soll, wie hoch die Zinsen für das geliehene Geld anzusetzen sind oder welches Ausfallrisiko für einen Kredit besteht. Um solche komplizierten Fachfragen beantworten zu können, muss man spezifische Programme wie Investitionspläne, Risikoanalysen, Zinsrechnungen oder Bewertungskriterien für Immobilien entwickeln, die als Sicherheiten hinterlegt werden können.
Laut Systemtheorie kommt es bei einer derart stark symbolisch generalisierten Kommunikation zu einer Trennung von Codierung und Programmierung. Auf der einen Seite gibt es jetzt einen Binärcode mit einem Positiv- und einem Negativwert, wobei es sich um vollkommen abstrakte Werte handelt, die nicht mehr in der Lebenswelt, in der Kultur oder in der Religion verankert sind. Auf der anderen Seite befinden sich Programme, mit deren Hilfe sich...