E-Book, Deutsch
Reihe: DVB Verlag
Lazar Die Eingeborenen von Maria Blut
2. durchgesehene Auflage 2021
ISBN: 978-3-903244-15-3
Verlag: DVB Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch
Reihe: DVB Verlag
ISBN: 978-3-903244-15-3
Verlag: DVB Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
WENN DAS LAND,
DAS MAN KANNTE,
PLÖTZLICH NICHT MEHR DASSELBE IST…
Österreich zu Beginn der 30er Jahre. Im beschaulichen Kurort Maria Blut beginnt es zu brodeln. Auf den Straßen, am Marktplatz und in der Kirche wird getuschelt: Hat dieser oder jener nicht eine Halbjüdin zur Mutter? In nur wenigen Monaten spitzt sich die Lage zu: Radikalisierte Männergruppen parodieren durch die Straßen und skandieren: »Heil! Heil!«. Wunderheiler und falsche Propheten tauchen auf und verkünden den bevorstehenden Weltuntergang, deklassierte Adelige schimpfen auf die »Saurepublik«, und schließlich steht auch noch die o¨rtliche Konservenfabrik in Flammen. Klammheimlich, wie ein schleichendes Gift, breitet sich die NS-Ideologie in einem o¨sterreichischen Provinznest aus – und am Ende ist nichts mehr, wie es war.
„In ihrem vielleicht besten Roman […] 1935 geschrieben und posthum 1957 erschienen, beschreibt Lazar am Beispiel eines wirtschaftlich maroden Dorfes kassandrahaft das Heranreifen des Nationalsozialismus.“
– Margarete Affenzeller, DER STANDARD
„[…] ein kleines literarisches Wunderwerk“
– Thomas Mießgang, DIE ZEIT
Weitere Infos & Material
I.
Da rennt er, der Doktor, was ist er denn so aufgeregt, und das Hemd hat er offen, gehört sich das, und die Lederhosen an einem Sonntag –“ „Ja wissens denn nicht, den Herrn Pfarrer, den Pater Lambert, der Schlag hat ihn getroffen oder so was, bei der Hitz.“ „Um Gottes willen!“ „Im Refektorium ist er gelegen, ganz so wie tot. War aber auch eine große Hochzeit mit Champagner und so, bei der Hitz.“ „Daß aber da den Lohmann holen?“ „Der Primarius war nicht zuhaus und der Brunnbacher auf einer Autotour, da ist der Kirchendiener halt weitergelaufen, was hätt er sonst auch tun sollen.“ „Nein, nein, das gehört sich nicht, daß sie den Lohmann holen. Den Lohmann zum Pfarrer. Der wird ihm nicht helfen. Und überhaupt, habens gesehen: mit einem offenen Hemd.“ Der Doktor, Doktor Gustav Lohmann nämlich, prallt an der Ecke gegen einen Bauch mit silberner Kette. Oh Entschuldigung! Er hält seine Tasche fest, alle Spritzen sind drin, verfluchte Geschichte. Eben erst ist er von seinem Pfahbau nachhaus gekommen, hungrig, müde, verschwitzt, ein bißchen Stromeskälte in allen Knochen, und nun muß es auch noch der Pfarrer sein. Die Mauern blenden, der Himmel ist blau, hängt in die Häuser hinein, oder ist das Dunst, grauer Gewitterdunst? Na, ist ja gleich. Alle Fenster stehen offen, es riecht nach Schweinsbraten und Krautsalat, dort liegen sogar noch die Betten draußen. Nun noch mit ein paar Sprüngen über den Kirchplatz hinüber. Neben dem Brunnen, dem Brunnen der Gottesmutter von Maria Blut, lehnt an dem Sockel der Statue ein verwischtes Gesicht, ein verstaubtes Gesicht, eine Hand streckt sich vor, nein, nein, jetzt nicht, keine Zeit, kein Kleingeld, und überhaupt, die Pflicht kommt zuerst, trotzdem es der Pfarrer ist, nein, eben deshalb. Und der Doktor verschwindet im Säulengang des Stifts. Der Herr Zimmerl, der Bäckermeister, sieht ihm nach. Eben ist er vor sein Haustor getreten, um Luft zu schnappen. Was macht denn der Doktor im Stift und drängt ganz einfach vorbei an dem armen Teufel, dem Bettler? Ja, ja, so sind sie, diese Roten. Immer nur das Maul aufreißen und was verlangen für die Arbeitslosen, wenn es auf Kosten der andern geht. Der Herr Zimmerl ist kein schlechter Mensch. Er holt zwei Semmeln (sind schon recht hart) und geht mit ihnen um den Marktplatz herum (er soll sich nach dem Mittagessen Bewegung machen) und wirft sie dem Bettler in den Hut auf dem Brunnenrand. Es ist nämlich besser, solchen Leuten kein Geld zu geben, weil sie das ohnehin nur versaufen. In den Gängen des Stifts ist es kühl. Und riecht nach Weihrauch und blassem Gestein. „Na, was ist denn, Hochwürden, schlecht geworden?“ Der Herr Pfarrer sitzt zwischen zwei Laienbrüdern am offenen Fenster. Die Luft draußen ist grau. Er sitzt in einem riesigen Lehnstuhl, die Säcke unter den Augen zittern und die schwere Wamme am Hals. Etwas blaß ist er, etwas erschrocken, der Fuß liegt auf einem Schemel. Aber von einem Schlag kann doch nicht die Rede sein. Der Puls ist ganz gut. Der Pfarrer nickt: „Schau, schau, also Sie sinds!“ (Kann ja auch wieder gehn, du Fettwanst, du alter.) Ausgerutscht im Refektorium, sagen die Laienbrüder. Und der Fuß, ja der Fuß, der ist gebrochen oder verstaucht. „Werden schon sehen.“ (Ausgerutscht. Wird wohl wieder einmal einen sitzen gehabt haben, der hochwürdige Pater. Überhaupt nach der Hochzeit. Es stinkt wie in einem Wirtshaus, abgesehen vom Weihrauch und den zwei schmutzigen Lilien auf dem Fensterbrett.) „Ist nicht mehr Wasser da?“ Der Pfarrer nickt. Das hab ich schon gefressen. Wasser, Wasser. Wenn die Herren Doktoren kommen, kanns gar nicht genug Wasser geben. Und die Handtücher fliegen. Da krempelt er die Ärmel auf, dieser Lohmann, braune Arme hat er mit ganz hellen Haaren darauf, auch die Brust ist braun, beinah wie ein Wilder, das Hemd braucht er doch nicht offen zu haben. „Tuts weh, Herr Pfarrer?“ „Nein, nicht arg.“ Bei den Ohren sollt man ihn nehmen, den Kerl da. Er hat ohnehin Ohren wie ein Bub, lang und neugierig, aber nicht abstehend. Was zerrt er so herum? Und das kalte Wasser. Mir scheint, jetzt wascht er auch noch den Knöchel. Wie er ihn hebt. Sie Herr, das ist mein Fuß, der gehört mir, ja, schaun Sie mich nur an, der Fuß allein, das gibts nicht, da müssen Sie sich schon auch für mich interessieren, mein Fuß, der ist kein Präparat, wie ihr es in euern Seziersälen habt. „Au weh!“ „Nur leicht verstaucht.“ Und jetzt wascht er sich wieder die Hände, daß die Seife nur so spritzt, die gekalkte Wand kriegt lauter Flecken, und noch ein Handtuch, natürlich ein frisches. „Schön, daß kommen sind, Herr Doktor.“ „Meine Pflicht, Hochwürden.“ Draußen ist er. Ob das jetzt eine Gemeinheit war? Eine Anspielung? Denn die Pflicht des Seelsorgers war es ja auch gewesen, der armen Johanna die Letzte Ölung zu erteilen. Und einen dann so hinauszuwerfen, bei der Tür hinauszuwerfen, die Kinder schauen zu, während die sterbende Mutter im Nebenzimmer liegt. Wenn einer schon ein Heide ist und ein Gottloser, so kann die Frau doch in den Himmel kommen, man braucht ihr den geistlichen Zuspruch nicht abzuhalten. Und überhaupt, wenn es der Pater Lambert ist, der noch keinen Kranken jemals erschreckt hat, sind viele sogar gesund geworden durch ihn. Er meints doch nicht bös. Nun liegt die arme Johanna schon lang in der Erd. Sechs oder acht Wochen. Und der rennt herum mit einem offenen Hemd, hat nicht einmal einen Trauerflor. Ob er wirklich zuviel Morphium gegeben hat? Auf dem Marktplatz steht der Bettler noch immer. Aber er streckt die Hand nicht mehr aus. Der Himmel über ihm, über der Mariensäule, ist blauschwarz, eine Wand von Gewitter. Und die Linden weichen zurück wie Schatten. Den Kopf hat er gesenkt, schüttere Strähnen hängen ihm in die Stirn. Wenn man nur Kleingeld hätte, ein bißchen Kleingeld. Lohmann wühlt in seinen Hosentaschen. Unter dem Taschentuch sind zwanzig Schilling, sonst nichts. Man kann einem Bettler doch keine zwanzig Schilling geben. Langsam geht er weiter. Der Mann hat ihn nicht bemerkt. In seinem Hut lagen zwei Semmeln. Es blitzt. Vielleicht war dem Menschen schlecht. Seine Haltung war so merkwürdig, so zerbrochen in jedem einzelnen Glied. Ob man umkehren sollte? Zwanzig Schilling sind viel Geld. Verrückt. Und es regnet auch schon, ein paar fette Tropfen fallen auf das Pflaster. Der Vagabund kann sich ja unterstellen. Ein Blick nach rückwärts. Unbeweglich lehnt er an der Säule. Sei kein Esel, Gustl, schau, daß du nachhause kommst, hast keinen Rock, wirst naß bis auf die Haut, wenn es jetzt auch erst ein paar Tropfen sind. Ists wahr? War er wirklich dort?“ – „Aber natürlich. Da geht er. Sehns ihn denn nicht mit seiner Tasche.“ „Jessas nein, der käm mir nicht an den Leib.“ „Machens die Fenster zu, Frau Nani, es gibt ein Wetter.“ „Und wissens, was mir gestern erst die Reindl erzählt hat –“ Lohmann geht sehr langsam, obwohl es schon ganz richtig regnet. Die Eingeborenen sehen ihm nach. Er spürt es durch das dünne Hemd, er würde es spüren, auch wenn er seine Lederjacke trüge. Sie werfen sich Worte zu, nur ein paar, sie verstehen einander. Ihm ist es gleich, ihnen zulieb wird er nicht rennen, obwohl er hungrig ist und es regnet. Die Kinder werden schon gegessen haben und die Votruba fuhrwerkt in der Küche herum, weil sie nicht fort kann, ganz wütend ist sie, und dabei hat er ihr schon hundertmal gesagt, daß sie nicht auf ihn zu warten braucht. Der Pfiff da, das ist der Zug, mit dem hätte er nach Wien fahren können. Wenn er nur schon morgens gefahren wäre, er wäre alles los gewesen, die dumme Geschichte mit dem Pfarrer, was braucht gerade er Hochwürden den Fuß zu behandeln, warum läuft er denn nicht zur Gottesmutter von Maria Blut mit einem Knöchel aus Wachs, er hats ja nicht weit, gleich nebenan, na ja, mit einem verstauchten Fuß kann man nicht laufen und das alte Schwein glaubt selber nichts und jetzt regnet es aber schon ordentlich. Das hört nicht so bald auf. Er möcht es eigentlich auch ganz gern. Was soll er denn tun? Wenn er nur nach Wien gefahren wäre. Immer will er sonntags nach Wien. Aber die verfluchten Bummelzüge. An einer Schnellzugsstation sollte man wohnen, an einer Station, an der sogar der Orientexpreß hält. Meinethalben an einer Umsteigstation. Hier aber fahren die Züge nur immer vorbei, pfeifen schrill, niemand merkt es mehr, nicht einmal die Hunde schrecken zusammen. „Jessas, Herr Doktor, wie schaun denn Sie aus, zum Auswinden!“ Und die Votruba Toni hebt ihre dicken Arme (wie gebohnert mit weißem Wachs sind diese Arme). Ganz dunkel ist es im Speisezimmer, nur die Arme leuchten. „Ein frisches Hemd, Toni, oder haben wir keines mehr?“ „Oh ja, wir werden schon noch eins haben, aber halt ohne Knöpf.“ „Dann ohne Knöpfe.“ Und während sie ihm die Suppe wärmt und er sich das frische Hemd über den Kopf zieht und es donnert, sieht von der Wand her das bekränzte Frauenbild auf ihn herab. Ja, ja, schon gut, ich hab nun einmal kein anderes Hemd und zerrissen ist es auch unter der Achsel. Meine Schuld ists ja nicht – Herrgott, wenn er sich nur einmal abgewöhnen wollte, mit der Toten zu reden. Die Votruba stellt die Suppe hin und sagt mit einem Blick auf das Bild: „Ich könnt ja auch zuhaus bleiben und die Knöpf annähen.“ „Unsinn. Aber sagen Sie einmal, kommt denn die Reindl nicht mehr?“ „Die Reindl sagt, sie will keine Wäsche nicht flicken. Und sie hat es nur der Gnädigen zulieb getan. Weil sie doch eigentlich eine Schneiderin ist. Und sie näht jetzt...




