Langewiesche / Birbaumer | Neurohistorie | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 140 Seiten

Langewiesche / Birbaumer Neurohistorie

Ein neuer Wissenschaftszweig?

E-Book, Deutsch, 140 Seiten

ISBN: 978-3-86408-218-4
Verlag: Vergangenheitsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Können Geschichts- und Neurowissenschaften zusammenarbeiten? Zeichnet sich eine Neurohistorie ab? Was ist von ihr zu erwarten? Werden neue Fragen gestellt und auf alte Fragen neue Antworten geboten? Lassen sich neurohistorisch innovative Forschungsbereiche erschließen? Stellt die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung gängige geschichtswissenschaftliche Methoden und Theorien in Frage? Auf diese Fragen gibt die neueste Forschung gegensätzliche Antworten. Niels Birbaumer und Dieter Langewiesche erörtern sie und erkunden von beiden Seiten, der Neuro- und der Geschichtswissenschaft, was von einer Neurohistorie zu erwarten ist. Die Autoren wenden sich gegen aufgeregte Szenarien, die von Aufbruchsvisionen über Paradigmenwechsel bis hin zu Bedrohungsängsten reichen. Vielmehr wollen sie Lust machen, Fachgrenzen zu überschreiten und innovatives Denken zu provozieren. Dieses Pamphlet ist ein intellektuelles Wagnis und eine freudvolle Herausforderung.

Dieter Langewiesche hat breit zur europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts geforscht und in den letzten Jahren vor allem zu den Themenfeldern Nation und Krieg, europäische Geschichte in globaler Perspektive und Geschichtsdenken publiziert.
Langewiesche / Birbaumer Neurohistorie jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Streit um Hegemonie auf dem Wissenschaftsmarkt und in der Gesellschaft – eine endlose Geschichte


Wenn Geisteswissenschaftler auf die Neurowissenschaften blicken und umgekehrt, geht es meist um den freien Willen des Menschen. Wird er auf neurowissenschaftlicher Grundlage verneint, schließen daran ernste Fragen an über die individuelle Zurechenbarkeit von Handlungen. Etwa im Strafrecht. Die Geschichtswissenschaft ist in solche Debatten in aller Regel nicht eingebunden. Das war auch in der Vergangenheit so. Denn die derzeitige Debatte zwischen Neurowissenschaftlern und Philosophen über Willensfreiheit, und wer fundierter über sie urteilen könne, ist nicht die erste dieser Art. Erinnert sei nur an den Ignorabimus-Streit, den Emil du Bois-Reymond 1872 mit einem Vortrag international ausgelöst hatte.1 Als Experte der experimentellen „Wissenschaft von den näheren Bedingungen des Bewusstseins auf Erden“, so definierte er damals ressortimperialistisch Physiologie2, fühlte er sich kompetent, nach den Grenzen menschlicher Erkenntnismöglichkeit zu fragen. Wie viele Naturwissenschaftler seiner Zeit (und manche heutige Neurowissenschaftler) sah er sich dafür fachlich besser gerüstet als die Philosophen oder gar die Theologen.3
Diese Debatte soll als Ausgangspunkt für eine auf die Gegenwart bezogene Analyse dienen. Rückblickend lässt sie sich zwei Diskussionsforen zuordnen, einem gesellschaftspolitischen und einem wissenschaftlichen. Gesellschaftspolitisch wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert darum gerungen, welcher Disziplin die Rolle der Leitwissenschaft gebühre, seit man der Theologie und dann auch der Philosophie diesen Anspruch nicht mehr zugestand. Hier ging es um Relevanzhierarchien auf dem Wissenschaftsmarkt und um kulturelle Hegemonie in der Gesellschaft. Und selbstverständlich ging es um Geld im Wettbewerb um staatliche und andere Mittel. Als Rudolf Virchow 1893 in seiner Berliner Rektoratsrede den Übergang aus dem philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter verkündete, bezog er in diesem interessenpolitischen Wettstreit entschieden Stellung. Erst im „naturwissenschaftlichen Zeitalter“, also in seiner Gegenwart, sei das „alte Wort Baco’s von Verulam eine Wahrheit geworden: Scientia est potentia“4. Mit dem überlegenen Fortschrittsdienst der Naturwissenschaften an der Gesellschaft begründete er deren Dominanzanspruch. Das war gängige Argumentation damals. Die Naturwissenschaft als die neue Leitwissenschaft, und nicht mehr die Philosophie, mit Auswirkungen bis ins Gymnasium. “Kegelschnitte! Kein griechisches Skriptum mehr!“ lautete der Kampfruf zur Gymnasialreform, den du Bois-Reymond ausgab, um eine starke öffentliche Resonanz zu provozieren.5 Das gelang ihm. Er wurde einer der medial bekanntesten deutschen Professoren seiner Zeit, ein public intellectual mit internationaler Ausstrahlung, weil er immer wieder in Fragen eingriff, die in der Öffentlichkeit debattiert wurden, aber jenseits seines Fachgebietes lagen. Da er dies meist auf wissenschaftlichen Bühnen tat, wie der preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, beanspruchte er für seine fachfernen gesellschaftspolitischen Interventionen wissenschaftliche Kompetenz und die Autorität des Experten.6
Die Forderung nach einer neuen Relevanzhierarchie unter den Wissenschaften, die sich auch in der Konkurrenz um finanzielle Mittel niederschlug, ist die Brücke zum zweiten Forum, auf dem die Debatte ausgetragen wurde, dem wissenschaftlichen. Denn Naturwissenschaftler wie Rudolf Virchow, Emil du Bois-Reymond oder Justus Liebig, um nur drei zu nennen, die mit ihrer Botschaft immer wieder in die Öffentlichkeit gingen – sie alle definierten die moderne Naturwissenschaft auch methodisch als die Leitwissenschaft der Gegenwart. In den Worten du Bois-Reymonds aus einer Berliner Akademie-Rede im Jahr 1872: die Philosophie könne „Vorteil aus der naturwissenschaftlichen Methode ziehen […], nicht aber umgekehrt die Naturforschung aus der Methode der Philosophie.“7
Dieser Streit mündete in die höchst fruchtbare wissenschaftstheoretische Debatte über Kultur- bzw. Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft (Heinrich Rickert und Wilhelm Dilthey) oder nomothetische und idiographische Wissenschaften (Wilhelm Windelband). Auch Max Webers grundlegende Schriften zur Logik der Kulturwissenschaften gehören hierher. Naturwissenschaftler haben diese wissenschaftstheoretische Debatte mit ihrem Ressortimperialismus provoziert oder zumindest angestoßen und befeuert, Philosophen und Sozialwissenschaftler haben sie geführt. Mit Ergebnissen, die noch heute gültig sind.
Weiterhin gültig sind auch Einwände pragmatischer Art, die in diesen Theorie-Debatten meist nicht vorgebracht wurden. Warum sollte der Wert der „Weltbesiegerin unserer Tage“, wie du Bois-Reymond die Naturwissenschaft nannte8, in ihren konkreten Untersuchungsgebieten für die Gesellschaft bedeutsamer sein als die Forschungsergebnisse von Geistes- und Sozialwissenschaftlern? Wenn zum Beispiel Parteiensysteme international verglichen werden oder das städtische Wahlverhalten erhoben und daraus die spezifische Anfälligkeit von Sozialgruppen für den Nationalsozialismus abgeleitet wird, so ist das für die Gesellschaft nicht minder bedeutsam als die experimentelle Lokalisation einer Hirnregion für die politische Ausrichtung mit Hilfe der Kernspintomographie. Historiker waren an diesen Hierarchiedebatten in den Wissenschaften kaum beteiligt, wenngleich damals auch in der Geschichtswissenschaft über eine neue oder erweiterte kulturgeschichtliche Grundlegung des Faches gestritten wurde9 und der Fehdehandschuh der Naturwissenschaftler auch auf dem fachlichen Territorium der Historiker lag. Du Bois-Reymond hatte nämlich die grundsätzliche methodische Überlegenheit der Naturwissenschaft, von der er überzeugt war, auch auf die Geschichtsforschung übertragen. Aus der bisherigen akademischen Geschichtswissenschaft könne man nur „lerne[n], dass man aus ihr nichts lernt“10. Er forderte stattdessen eine universale „Kulturgeschichte“ auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Nur sie sei in der Lage, den Fortschrittsweg der Menschheit nachzuvollziehen und in die Zukunft zu öffnen.
Die Auflösung des Topos Historia Magistra Vitae, wie sie Reinhart Koselleck für das moderne Geschichtsdenken seit der Zeit um 1800 analysiert hat – gemeint ist nicht, dass man aus der Geschichte nichts lernt, weil sich kein Ereignis wiederhole, sondern dass sie „Möglichkeitsspielräume von Ereignissen“ erkennen hilft11 –, wird von diesen geschichtsschreibenden Naturwissenschaftlern nicht nachvollzogen, sondern auf die herkömmliche politische Geschichte begrenzt. Ausgerechnet du Bois-Reymond, Inbegriff des deutschen Bildungsbürgers, nannte sie abfällig die bürgerliche Geschichtsschreibung. Eine Geschichtsbetrachtung auf den Spuren der Siegesgeschichte der Naturwissenschaft hingegen sei lehrhaft, weil sie die Grundlage der Moderne enthülle – die „naturwissenschaftliche Denkweise“. In ihr verortete er den „Kausalitätstrieb“ des modernen Menschen, der naturwissenschaftlich konditioniert die Geschichte unaufhaltsam auf Fortschritt ausgerichtet habe. „Wir sagen, Naturwissenschaft ist das absolute Organ der Kultur, und die Geschichte der Naturwissenschaft die eigentliche Geschichte der Menschheit.“12
Du Bois-Reymond versuchte sich auch darin, eine solche neue Form von Geschichtsschreibung zu erproben, und dies nicht nur, wie es Justus Liebig in einigen Münchner Akademiereden tat13, entlang der Wissenschaftsgeschichte, sondern auf einem viel beackerten Gebiet der Kultur- und Politikgeschichte: Über das Nationalgefühl, so der Titel seiner Studie. Sie ist darwinistisch-evolutionär angelegt wie generell sein Geschichtsdenken.14 Eine Geschichtsschreibung auf der theoretischen Höhe der Zeit müsse auf Darwin gründen. Dessen Deszendenztheorie habe das gesamte „Gebiet des Lebens“ zu „einem Bilde zusammengefaßt“, so dass nun eine Entwicklungsgeschichte zur Verfügung stehe, die Astronomie, Paläontologie und Geologie mit Anthropologie und Ethnographie verbinde, die ihrerseits „den Übergang vermitteln zur Linguistik, der Erkenntnistheorie und den historischen Wissenschaften“15.
Zwischen dem, was hier für das ausgehende 19. Jahrhundert in wenigen Strichen skizziert wurde, und der heutigen Debatte um die Rolle der Neurowissenschaft in der Gesellschaft und in der Wissenschaft sind zwei Parallelen zu erkennen:
1. Es geht stets – mit allen Weiterungen, die daran hängen – um gesellschaftspolitische Relevanzhierarchien auf dem Wissenschaftsmarkt und um kulturelle Hegemonie. Wenn Neurowissenschaftler erklären, warum das Gehirn, wie sie es erforschen, keinen Raum für die Annahme eines freien Willens böte und daraus Folgerungen für das Strafrecht oder für die angemessene Art von Stadtentwicklung ableiten16, so drückt sich darin ein gesellschaftlicher Prioritätsanspruch aus, wie er im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der Ausrufung des naturwissenschaftlichen Zeitalters verbunden gewesen war. Max Weber hatte diese Art von Wissenschaftsimperialismus an der Energetik-Lehre des Chemiker-Philosophen Wilhelm Ostwald – 1909 erhielt der Vielgeehrte den Nobelpreis für Chemie – sarkastisch kritisiert. Es würden „Wechselbälge gezeugt“, wenn nicht beachtet werde, dass unterschiedliche Disziplinen aus guten Gründen unterschiedliche Methoden anwenden und in unterschiedlichen Perspektiven ihr Untersuchungsobjekt...


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.