E-Book, Deutsch, Band 1, 108 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 190 mm
Reihe: Grundfragen der Beratung
Kupfer / Gahleitner / Wesenberg Beratung und Psychotherapie
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-87159-451-9
Verlag: dgvt-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Aktuelle Entwicklungen im Spannungsfeld von Abgrenzung und fruchtbarer Kooperation
E-Book, Deutsch, Band 1, 108 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 190 mm
Reihe: Grundfragen der Beratung
ISBN: 978-3-87159-451-9
Verlag: dgvt-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Das Verhältnis von Beratung und Psychotherapie ist ein konzeptionell, praktisch und professionspolitisch schwieriges. Neben vielen Überschneidungen lassen sich jeweils eigenständige Identitäten identifizieren. In dem vorliegenden Band werden die Unterschiede wie auch Gemeinsamkeiten von Beratung und Psychotherapie grundlegend ausdifferenziert. Auf diese Weise regt das Buch ein Verhältnis von Beratung und Psychotherapie an, das gedeihliche Vernetzung und Kooperation in Hinsicht auf Aufgaben, Settings und Vorgehensweisen von Beratung und Psychotherapie anschaulich erläutert und in der Praxis ermöglicht.
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3 Das Verhältnis von Psychotherapie und Beratung – herrschende Vorstellungen
Zum Verhältnis von Beratung und Psychotherapie existieren seit Langem implizite Vorstellungen bzw. explizite Positionen im psychosozialen Feld und Gesundheitsbereich, in den Fachdisziplinen und in der Öffentlichkeit. Absolute Kongruenz wird dort angenommen, wo die Begriffe wechselseitig genutzt werden oder so renommierte Autor*innen wie Carl Rogers (1942) und andere explizit formulieren, es gebe keinen Unterschied zwischen Beratung/Counselling und Psychotherapie/Psychotherapy (Überblick u. a. Patterson, 1986; Cooper & McLeod, 2011; aktuell z. B. Feltham & Hanley, 2017; s. o.). Das mag einerseits am Modell einer grundsätzlich stark psychologisch und therapeutisch geprägten Beratung (counselling) in England liegen, andererseits aber auch Folge eines breiteren psychosozial angelegten Verständnisses von Beratung (counseling) in den USA sein (Zwicker-Pelzer, 2010; Nestmann, 2004/2014; Schubert, Rohr & Zwicker-Pelzer, 2019). Tatsächlich arbeiteten zentrale Mitbegründer*innen psychotherapeutischer Schulen zahlreich u. a. in Familienberatungsstellen, Kinder- und Jugendberatungssettings. Selbst Sigmund Freuds Psychoanalyse gewann im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in pädagogischen Kreisen mehr Einfluss als in der Psychiatrie, sodass sich „das pädagogische Denken untrennbar mit dem neuen tiefenpsychologischen“ (du Bois & Ide-Schwarz, 2001, S. 1425) verband. Genährt werden diese Vorstellungen seit Längerem auch durch psychotherapeutische Zusatzausbildungen, die spätestens seit den 1970er-Jahren zur beruflichen Qualifikation vieler Berater*innen in den unterschiedlichsten Bereichen gehörten und gehören und die zu Einstellungsvoraussetzungen vieler Beratungsträger und -dienste wurden (vgl. Abbildung 1a). Abbildung 1 Im Gegensatz dazu gibt es die Haltung, psychosoziale Beratung und Psychotherapie seien grundsätzlich und trennscharf verschieden – zwei eindeutig unterscheidbare professionelle Interventionsformen und Versorgungssphären, in sich geschlossen, voneinander abzugrenzen in ihrer Theorie und Praxis (vgl. Abbildung 1b). Die aktuellen Entwicklungen entlang der Psychotherapiegesetzesnovelle haben diese Fokussierung vorangetrieben. Der psychotherapeutische Professionalisierungsschub durch das Psychotherapeutengesetz 1998 (PThG) und die inzwischen beschlossene zugehörige Gesetzesnovelle (PsychThGAusbRefG) wurden mit einer Distanzierung der Psychotherapie vom ‚Rest‘ des psychosozialen Feldes erkauft. Psychotherapie ist gesetzlich dem Gesundheitssystem zugehörig und über etablierte Diagnoseschlüssel und zugeordnete Therapiestundendeputate sowie über Berichts- und Antragswesen der Versicherungsträger institutionalisiert (Engel, Nestmann & Sickendiek, 2004/2014; Großmaß, 2007b; Nußbeck, 2019). Sie fokussiert die Behandlung von Menschen mit (eher schweren) Erlebens- und Verhaltensstörungen sowie abweichendem Verhalten‘, die sie vom ‚Kranksein‘ ‚heilt‘ (vgl. Peavy, 2006; Martin, 1977), so die Theorie. Es wird noch zu diskutieren sein, inwiefern dies die Realität in der aktuellen Versorgungslandschaft widerspiegelt. Eine weitere, häufig im deutschsprachigen Raum dominierende, meist unreflektierte, aber ausformulierte Vorstellung von Beratung ist jene als „‚Ableger‘ von Psychotherapie“ (Nestmann, 2002, S. 403). Beratung sei demnach so etwas wie eine „kleine[] Therapie“ (vgl. Gerstenmaier & Nestmann, 1984, S. 28), orientiert an gleichen Persönlichkeits-, Störungs- und Veränderungskonzepten, aber eben nur für leichtere Probleme und weniger schwere Störungen geeignet, da sie weniger in die Tiefe gehe, kürzer andauere, in weniger abgeschlossenen Settings stattfinde und dadurch auch von weniger gut ausgebildeten Helfer*innen praktiziert werden könne (Engel, 2003; Gerstenmaier & Nestmann, 1984; Nestmann & Engel, 2002). Beratung findet nach dieser Vorstellung gewissermaßen als ‚verdünnte‘ Form therapeutischen Handelns und ‚verkürzte Therapie‘ für ‚weniger schwere Störungen‘ statt: klient*innenzentrierte Beratung statt Gesprächspsychotherapie, Gestaltberatung statt Gestalttherapie, verhaltensorientierte Beratung statt Verhaltenstherapie und psychoanalytische Beratung statt Psychoanalyse (vgl. auch Redlich, 1997). Zusätzlich gefördert wird dies seit den 1970er- und 1980er-Jahren durch eine therapienahe Beratungsperspektive, die Beratungspraxis und -diskussion über Jahrzehnte als eine Debatte von therapienahen Handlungsmodellen versteht. Dabei wird die Eigenständigkeit von Beratung und Psychotherapie in der Geschichte immer dann am stärksten infrage gestellt, wenn die Entwicklungslinien beider Hilfeformen aufeinander zulaufen. So z. B. in den 1950er-Jahren, als sich beide generell verstärkt an nicht-medizinischen und psychotherapeutischen Interventionskonzepten orientierten, als sich Ansätze für Kurzzeitpsychotherapien entwickelten, Psycholog*innen die institutionelle Beratungsarbeit dominierten und der therapeutische Blick auf die Probleme von Kindern und Familien für andere Berufsgruppen – wie eben auch Berater*innen in Pädagogik und Sozialer Arbeit – obligatorisch wurde (Hutter, 2003); oder als sich in den 1970er-Jahren die Beratungspsychologie stärker der psychosozialen und Gesundheitsversorgung annahm als der bis dahin für sie traditionellen und zentralen Bildungs- und Berufsberatungsbereiche (vgl. ausführlich Engel, 2003; Großmaß, 2007a; Nestmann, 1997a, 2002). Eingebunden in die Vorstellung von Beratung als kleine Psychotherapie droht hier die Annahme, Psychotherapeut*innen könnten Berater*innen ausbilden, die dann selbst jedoch nicht therapieren, sondern ‚nur‘ auf Grundlage der therapeutischen Kenntnisse ‚beraten‘ dürften. Dies ist ein verbreitetes unterschichtendes Professionalisierungsmodell, das auf beiden Seiten ein spezifisches Bewusstsein und Selbstverständnis schafft. „Ist das noch Beratung oder schon Psychotherapie?“ lautet hier die symptomatische Frage (Abbildung 1c) (Nestmann, 2002). Eine Attraktivität der Therapienähe für Beratung ist auch nicht von der Hand zu weisen. Nestmann und Engel (2002) begründen dies zum einen mit dem noch immer reizvollen Therapeut*innennimbus, der sich auf Beratung überträgt und für die Berater*innen u. a. über manualisierte Methodik und Technik Sicherheit im Expert*innenstatus bereithält. Auch für psychotherapeutisch fundierte und geleitete Ausbildungsinstitute gibt es Vorteile. Über einen lukrativen Aus-, Weiter- und Fortbildungsmarkt, der von zukünftigen Berater*innen in Anspruch genommen wird, kann Geld verdient und Psychotherapie gleichzeitig gewissermaßen professionell ‚unterschichtet‘ werden. Letztlich ist die Nähe zur Psychotherapie für Beratung auch deshalb attraktiv, weil in einer elaborierten und hoch entwickelten Psychotherapieforschung erwiesene Therapiewirkungen eine Wirksamkeit der Beratungsableger und der Beratung insgesamt nahelegen, die in einer (zumindest in Deutschland) bisher nur gering entwickelten Beratungsforschung nicht hinreichend eigenständig nachgewiesen ist (Engel et al., 2004/2014; s. u.). Neben der Vorstellung von Beratung als einem ‚Ableger von Psychotherapie‘ oder einer ‚kleinen‘ Therapie kann Beratung im Integrationsmodell auch – unter dem Label „psychotherapeutische Beratung“ – als Teil von Psychotherapie betrachtet werden. So expliziert z. B. Peter Fiedler (2019) Beratung als psychosoziales Problem- und Konfliktmanagement in der Patient*innenberatung, -schulung und -supervision auf der Grundlage einer guten Therapieausbildung und warnt davor, dies anderen Professionen zu überlassen. Eine Vielzahl von Beratungsstellen fußt auf und arbeitet aus dieser Perspektive mit psychotherapeutisch geprägten Ansätzen, Methoden und Techniken. Umgekehrt lässt sich Psychotherapie auch als ein fokussiertes Sonderelement im Beratungskontext begreifen, wie es z. B. in manchen Beratungskonzepten Sozialer Arbeit ausformuliert ist. Dorfman (1996) stellte sich diesem Spannungsverhältnis ausdrücklich und prägte in den USA den Begriff der „psychotherapy plus“ (S. 41). Dieses „Plus“ ist definiert durch die Vielzahl von Aufgaben der Sozialarbeiter*innen, die vermitteln, unterstützen, Ressourcen erschließen, begleiten, koordinieren, beraten. Aus dieser Perspektive kann von der Psychotherapie sogar als „Spezialfall sozialer Beratung“ (Crefeld, 2002, S. 32) gesprochen werden, bzw. Beratung könnte aus dieser Perspektive mit ihrer gelungenen „Interdependenz“ (Schulze, 2006, S. 11) von Psychodynamik und Soziodynamik als Dach für psychosoziale Formen der Beratung und Therapie dienen (Gahleitner & Pauls, 2010, S. 370) (Abbildung 1d). Das Überschneidungsmodell (als fünftes Modell) legt dagegen neben vielen Überschneidungen und entwicklungshistorischen, methodischen und systematischen Gemeinsamkeiten eigenständige Identitäten beider psychosozialer Interventionsformen nahe (Abbildung 1e). Beratung und Psychotherapie werden hier als zwei theoretisch wie empirisch differenzierbare Wissenschafts- und Praxisbereiche mit eigenständigen Traditionen, Funktionen und Zuständigkeiten sowie eigenen professionellen Selbstverständnissen und Profilen gesehen, bei denen jedoch in fast allen Dimensionen erhebliche Ähnlichkeiten und Kongruenzen festzustellen sind (Deloie, 2011; Engel, 2003; Feltham, 1997a; Gahleitner & Pauls, 2010; Gelso & Fretz, 2001; Jones-Smith, 2021; Nelson-Jones, 2013; Nestmann, 2002; Wälte & Lübeck, 2018). Nach diesem Modell lassen sich psychosoziale Beratung und Psychotherapie bezüglich der Dimensionen Anlässe, Settings und Kontexte, Funktionen und Prozesse, Hilfeformen und -beziehungen, Zuständigkeiten und Organisationsformen als Pole von Kontinuen beschreiben, die...