E-Book, Deutsch, 300 Seiten
Kolmar / Nörtemann / Wallmoden Die jüdische Mutter | Susanna
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8353-4312-2
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prosa
E-Book, Deutsch, 300 Seiten
ISBN: 978-3-8353-4312-2
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Prosa von Gertrud Kolmar erstmals in einer kritisch kommentierten Ausgabe.
Gertrud Kolmar (1894-1943), die neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit als Lehrerin, Erzieherin und Sekretärin arbeitete, ist hauptsächlich als Lyrikerin bekannt geworden. Sowohl ihre Prosa als auch ihre Theaterstücke wurden zu Lebzeiten nicht veröffentlicht. Gertrud Chodziesner wurde 1943 im Verlauf der 'Fabrikaktion' deportiert und in Auschwitz oder auf dem Weg dorthin ermordet.
Nach den Editionen ihrer Gedichte (2003, 2. Aufl. 2010), Dramen (2005) und Briefe (1997 und 2014) findet durch die Herausgabe ihrer eindrucksvollen Prosa die Veröffentlichung von Gertrud Kolmars Gesamtwerk im Wallstein Verlag ihren Abschluss.
Im Roman 'Die jüdische Mutter' geht es um ein kleines Mädchen, das einem Sittlichkeitsverbrechen zum Opfer fällt, um seinen Tod und die Konsequenzen für dessen alleinerziehende Mutter. In 'Susanna' schildert Gertrud Kolmar eine psychisch gefährdete, faszinierende junge Frau, auf deren Leben eine Erzieherin zurückblickt.
Im Nachwort werden Roman und Erzählung vor dem Hintergrund zeitgenössischer Diskurse über ledige Mütter, den Paragraph 218 und weibliche Sexualität reflektiert.
In der vorliegenden kritischen Edition werden beide Prosaarbeiten der Dichterin erstmals in zuverlässiger Textgestalt abgedruckt und kommentiert.
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Erstes Buch
1
Der neunzehnte August abends. Es herbstete schon. Die dürftigen Straßenbäume gilbten und fröstelten. Der Sturm lief als großer, langstelziger Vogel dahin mit schwarzgrau mächtigen Flügeln und trieb den Regen in Schauern hinein zwischen die Reihen verschmuddelter ältlicher Häuser. Das Pflaster glänzte. Die Straßenbahn surrte rieselnd und spritzend bergauf. Am dunkelrot rußigen Backsteingebäude des Bahnhofs vorbei. Über die Brücke, von deren Geländer der Blick hinabsprang tief in den Schacht, mit seinem enteilenden, nicht zu fern sich verwirrenden Gleisgezücht wie eine Schlangengrube. Die muffligen Häuser fielen zurück. Nun schob zur Rechten des Wagens sich die Krankenhausfestung breit an den Damm mit rötlichen Mauern und eisernen Toren, mit Türmchen und wildweingepanzerten Wänden und einem Uhrblatt vergoldeter Ziffern über dem Hauptportal. Zur Linken schlossen die letzten Gärten des Villenortes sich ab, altfränkische Gärten mit wilden Büschen und Bäumen, mit Bauten, flachdächig, säulengeschmückt, lächerlich südlich, italienisch, und solchen im schottischen Burgenstil mit Stufengiebeln und Zinnen. Über pfleglosem Rasen glomm ein Hochstamm tief safrangelber Rosen, viele tropfenschwer hängend. Und wo jetzt die Bahn das Krankenhaus ließ, erstand eine Welt der Laubengelände, der Schrebergärten, die Vorstadtwelt mit den Namensschildern: »Kolonie Sonntagsfreud«, »Grünfelde«. Zwischen den einzelnen Siedlungen aber öffneten öde Strecken sich, spärlich mit Feldwuchs bedeckt und spärlich von niedren, dichtwipfligen Kiefern behütet, die unter blauem Himmel wohl Pinien einer Campagna vortäuschen mochten, doch im Wolkendüster nur, windgefegt, vom Nordwesten Charlottenburgs sprachen. Über die offene Drahtzauntür lief eine Inschrift: »Zum Roßkaempfer«. Da führte ein ausgetretener Pfad durch schütteres Gras unter splintrigen Birken zur Kneipe, die ganz am Ende des Grundstücks weißschmutzig, bröckelnd und ärmlich lag. Die Straßenbahnhaltestelle. Ein einziger Fahrgast stieg aus. Eine Frau, großgewachsen, im schlanken schwarzblauen Mantel; sie zückte prüfend den Schirm. Es stürmte noch, regnete nicht. Sie ging ein paar Schritt auf der Straße zurück, die sie eben gekommen, und bog in den ungepflasterten Weg, der zwischen das Kolonistenland und die Roßkaempfer-Wirtschaft rückte. Nun folgten sich rechterhand enge Gevierte mit ihren Gemüse- und Erdbeerbeeten und, um die Lauben, zerrauften Büschen lila und roter Dahlien. Links war an der Gasse dem Roßkaempferbau ein wustiger Garten benachbart, ein Holzhäuschen, morsch, mit verschwemmten Lettern unter dem schrägen Dach: Villa Grazietta. Die Siedler wußten, daß die Grazietta einem Fräulein in Riga gehörte, daß nur jener alte, unwirsche Mann jetzt einsiedlerisch darin hauste. Nun aber stellte sich wie zum Hohn neben das brüchige, schiefe Staket eine hohe, starke gelbliche Mauer, deren Pfeiler das eiserne Gittertor hielten; der eine Flügel war festgerammt, der andere stand weit offen. Die dunkle Frau stutzte eine Sekunde und schaute umher; dann trat sie rasch in den Hof. Der Hof war auch nur Sand ohne Pflaster und jetzt von Pfützen verschlämmt. Zwei Ahornbäume beschatteten ihn, verfinsterten wohl auch die Fenster des schmucklos grauen, mehrstöckigen Hauses, das dem Eingange gegenüberlag. Das einen Ellbogen bildete und mit seinem kürzeren Arm den Raum zum Grazietta-Garten hin abschloß. Nach der anderen Schmalseite rannte im Winkel die vordere Mauer herum, überspäht von den grünen Blätteraugen eines verwunschenen Parks. Denn es war eine große Besitzung, »Schloß Binnwald«, aus der einst – und niemand wußte den Grund – dies Rechteck herausgeschnitten worden; da hatte der Erwerber vielleicht ein früheres Kutscher- und Gärtnerheim zum Mietshause umgestaltet. Die dunkelgekleidete Frau wohnte hier in dem rückwärtigen breitern Gebäude. – Sie zögerte. Sie stand, ihre Schlüssel schon zwischen den Fingern, stand wie in Staunen und blickte empor zur Regenrinne unter dem Dach und in das erfrischte, gesättigte Laub der Kronen. Jahre-jahrelang kam sie nun heim, stets wieder hingenommen von Diesem, was sie zum ersten Male betroffen, als sie die Gasse und hinter der Mauer das schweigsame Haus entdeckt, und was sie vermocht, über alle Mängel der Wohnung hinwegzugleiten. Dies war ein Klösterliches, der Friede, die Abgewandtheit, Abseitigkeit eines Stifts, etwas Träumendes, etwas Vergangnes, wiewohl das Bauwerk sein letztes Gesicht kaum vor der Jahrhundertwende erhalten. Solche Häuser liegen immer im Abend, und leise spiegeln die blassen Scheiben verschwelendes Untergangsrot. Nun aber waren sie düster. Die Frau ging hinein. Die Frau stieg zwei Treppen hinauf und klingelte an einer Wohnungstür. Eine kleine freundliche Alte steckte den Kopf hervor, die weißen Haare sauber gescheitelt, die knochigen Backen wie Apfelwangen mit rotem Tupfen bemalt. »Ach, Frau Wolg!« »Guten Abend, Frau Beucker. Ist meine Ursa da?« Die Alte faßte nach einer dünnen silbernen Brosche am Kragen. »Die Ursel, nein, die ist nach der Laube. Mit meiner Anna und Elschen. Die haben den Guß wohl noch abgewartet, sonst wären sie schon zurück. Ich schick’ sie Ihnen gleich, wenn sie kommt.« »Ja, bitte. Und hier, Frau Beucker, sind dreißig Pfennig, von neulich noch, für die Milch.« »Das hätt’ auch noch Zeit gehabt.« Sie schob das Groschengeld in die Tasche der blau-weiß gestreiften Schürze. »Guten Abend.« Das muntere Hutzelweibchen verschwand, die dunkle Frau kehrte sich, schloß gegenüber die eigene Wohnungstür auf. Ein stockfinstrer Flur. Aber die Stube war hoch, war räumig, trug ohne jede Bedrücktheit und Enge das kräftige Mahagonibett in ihrer Mitte wie einen großen gebeizten Kasten, drin das Brot des Schlafes aufbewahrt wird. Ein gelblicher, in sich gemusterter Fransenwurf deckte es zu. Und seine Fülle lag hoch gewölbt, bis an die Kante der Fußwand fast, an die Kugelknäufe der Pfosten. Mehr noch vielleicht als das plüschgrüne Sofa, mehr als der Aufsatz am Spiegelschrank oder der Kachelofen gab dies Bett dem Zimmer sein altväterisches, etwas spießiges Ansehn. Es fehlte nur das perlengestickte fromme Grußwort über der Tür und ein gipsener Schillerkopf auf der Konsole. Dafür hingen zwei rötliche Photographien über der matten geblümten Tapete; das gerahmte Bild eines Mannes stand auf dem Nachttisch neben der Kerze. Und ein kleines nickelnes Kaffeegeschirr auf dem weißen Strickdeckchen glänzte. Da war alles säuberlich eingerichtet, schön abgestäubt und ordentlich hingestellt, doch schaute dies kleinbürgerlich Geputzte so fremd auf die Frau, die hinging, Mantel und Hut an den Riegel hängte, die nassen Schuh streifte und wechselte. Denn sie war einfach, ganz unbewimpelt, wie sie vorm Schrank, vor dem Spiegel stand, den schweren, dumpfen Haarknoten löste in Nacht, ihn ballte und wieder im Nacken steckte. Dann blieb sie noch, blickte sich selbstvergessen in das große Gesicht mit den strengen Zügen, schlich den Querfältchen nach von der Nasenwurzel zur Stirn und anderen, die zu den Mundwinkeln krochen. Und plötzlich, von dieser Eigenbetrachtung wie von einer Unziemlichkeit überrascht und verletzt, wendete sie sich scharf, riß das nächste der beiden Fenster auf und jagte die eingeschlossene grämliche Luft zu den Winden. Und sah ihr nach. Der heimliche Park des Schlosses Binnwald langte mit seinen Ulmen empor, die schon dicht wurden, silhouettenhaft flächig und finster am schwächlich grauen gebückten Himmel. Fern irgendwo schwebte ein leiser Streif, ein zartes, verblichenes Rötlichgelbes, wie flüchtig, ganz absichtslos hingewischt. Das Laubgeäst rauschte zuweilen auf, und einzelne Tropfen schütterten, rasselten nieder: Gepladder, kleine Trommelmusik. Und aus einem Röhrchen floß unaufhaltsam sickriges Spieldosenklingen. Goldschnäblige Amseln huschten umher, doch sangen sie nicht in den Abend mehr die Lieder aus schwarzem Sammet. Sie waren lange verstummt. Die Frau im Dämmer hatte sich schon vom Fenster gewandt; sie hob den Fransenbehang vom Bette und faltete ihn, sie raffte Kissen und Decken und legte sie auf das Plüschsofa hin und machte ein Nest, ein kleines Lager. Dann ging sie über den Flur in die schmälere Küche, verquirlte, weil es nicht lohnte im kalten Herd noch ein Feuerchen anzufachen, auf dem Spirituskocher Milch und Grieß, strich ein paar Butterstullen zurecht und lauschte hinaus in den Hof, als Stimmen und Schritte aufflackern wollten. Ein dünnes, schüchternes Klingeln. Sie öffnete. Zwei junge Ärmchen wuchsen im Dunkeln um ein rundes Gesicht, das feucht und kühl und süß wie die Erdbeere war. Sie beugte sich hin und küßte es, undeutliche Worte murmelnd; ihr ernster, fast harter Blick verfiel und lächelte, nur eine Sekunde. Die Kleine trippelte mit ihr herein, kroch auf den Stuhl am Küchentisch, ließ sich den Pichel binden, lag mit dem Löffel hungrig im Brei und erzählte. »Du, Mutter. Wir haben Rüben gezogen. Elschen hatte eine, die kriegte sie gar nicht ’raus. Und ich hatte eine, die war doppelt, mit zwei Beinen, so wie ein Mann. Frau Lange sagt, ich kann sie behalten. Aber wir haben alles in ihren Korb getan, und nachher haben wir dran vergessen. – Mutter?« »Ja?« »Hast du...