E-Book, Deutsch, Band 20, 149 Seiten
Kohlmann / Eschenbeck / Jerusalem Diagnostik von Stress und Stressbewältigung
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8444-2010-4
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 20, 149 Seiten
Reihe: Kompendien Psychologische Diagnostik
ISBN: 978-3-8444-2010-4
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stress beeinflusst das Wohlbefinden und die Gesundheit. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Umgang mit Stress zu. Dieses Buch widmet sich aus anwendungsorientierter Perspektive der Diagnostik von Stresssituationen, Stressreaktionen, Formen der Stressbewältigung sowie Ressourcen und Schutzfaktoren. Es informiert für verschiedene Praxisfelder (z. B. aus der Pädagogischen Psychologie, der Klinischen, Medizinischen und Gesundheitspsychologie, der Arbeits- und Organisationspsychologie) über die wichtigsten diagnostischen Verfahren und deren Anwendung.
Nach einer Einführung in den aktuellen wissenschaftlichen Stand zu verschiedenen Konzeptionen von Stress und Stressbewältigung wird ein Überblick über die Anforderungen an die Diagnostik und Klassifikation gegeben. In den nachfolgenden Kapiteln werden Verfahren zur Erfassung von Stressoren, Stressreaktionen, Stressbewältigung und Ressourcen vorgestellt. Den Schwerpunkt der vorgestellten Erhebungsverfahren bilden dabei Selbst- und Fremdberichte über Fragebögen und Interviews, die jeweils differenziert nach dem Einsatz im Kindes- und Jugendalter oder bei Erwachsenen vorgestellt werden. Neben allgemeinen Verfahren mit einem breiten Anwendungsspektrum werden auch Erhebungsinstrumente für spezifische Problemfelder (z. B. Diagnostik von Burnout, Stressbewältigung am Arbeitsplatz, Krankheitsbewältigung) berücksichtigt. Darüber hinaus werden Ansätze aus der psychobiologischen und experimentellen Stressdiagnostik sowie Anwendungsbereiche des Ambulanten Assessments skizziert. Beispiele zur Anwendung der psychologischen Stressdiagnostik in verschiedenen Handlungsfeldern runden den Band ab.
Zielgruppe
Psycholog_innen, Ärzt_innen, Fachkräfte im Gesundheitswesen, Pädagog_innen, Stressmanagement-Trainer_Innen, Studierende und Lehrende verschiedener Fachrichtungen
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Pädagogik Pädagogik Pädagogische Psychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologische Disziplinen Wirtschafts-, Arbeits- und Organisationspsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie Psychologische Diagnostik, Testpsychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Entwicklungspsychologie Pädagogische Psychologie
Weitere Infos & Material
|11|1 Konzeptionen von Stress und Stressbewältigung
1.1 Stressbegriff im Alltag und in der Psychologie
Eltern, Kinder und Jugendliche, Studierende sowie Beschäftigte beschreiben sich als gestresst. Viele Menschen sehen in Hetze und Zeitdruck im Alltag und hohen Ansprüchen von anderen und an sich selbst Auslöser von Stress. Das Stresssymptom Erschöpfung wird nicht selten als Folge erlebt (für einen Überblick siehe Kohlmann & Eschenbeck, 2018a). Sloterdijk (2011) geht in seiner Berliner Rede zu „Streß und Freiheit“ sogar davon aus, dass Stress die Gesellschaft im Sinne einer Sorgengemeinschaft zusammenhält: Nach meiner Auffassung sind die politischen Großkörper, die wir Gesellschaften nennen, in erster Linie als streß-integrierte Kraftfelder zu begreifen, genauer als selbst-stressierende, permanent nach vorne stürzende Sorgen-Systeme. Diese haben Bestand nur in dem Maß, wie es ihnen gelingt, durch den Wechsel der Tages- und Jahresthemen hindurch ihren spezifischen Unruhe-Tonus zu halten. Aus dieser Sicht ist eine Nation ein Kollektiv, dem es gelingt, gemeinsam Unruhe zu bewahren. In ihm muß ein stetiger, mehr oder weniger intensiver Streßthemenfluß für die Synchronisierung der Bewußtseine sorgen, um die jeweilige Bevölkerung in einer sich von Tag zu Tag regenerierenden Sorgen- und Erregungsgemeinschaft zu integrieren. (Sloterdijk, 2011, S. 12) Große Bedeutung besitzen die Themen Stress und Stressbewältigung in der Klinischen Psychologie (Heinrichs, Stächele & Domes, 2015), der Gesundheitspsychologie und Gesundheitsförderung (Knoll, Scholz & Rieckmann, 2017; Kohlmann, Salewski & Wirtz, 2018) oder auch in der Sportpsychologie (Fuchs & Gerber, 2018). Programme zur Stressbewältigung und Prävention von Stress für Kinder und Jugendliche (z.?B. Beyer & Lohaus, 2018; Klein-Heßling & Lohaus, 2021) und Erwachsene (z.?B. Kaluza, 2018) richten sich primär an Kleingruppen und können z.?B. in Schulen, Beratungsstellen, psychotherapeutischen Praxen oder im Kontext der Betrieblichen Gesundheitsförderung eingesetzt werden. Stressprävention ist darüber hinaus ein zentrales Handlungsfeld der gesetzlichen Krankenkassen im Bereich Prävention (GKV-Spitzenverband, 2018). Der Diagnostik von Stress und den individuel|12|len Strategien des Umgangs mit Stress kommt dabei eine zentrale Rolle im Rahmen der Indikation und Evaluation von Maßnahmen zur Stressprävention und -bewältigung zu. Dabei ist jedoch die Komplexität des Stressphänomens zu berücksichtigen. Psychologisch lässt sich Stress umfassend als ein Muster spezifischer und unspezifischer psychischer, körperlicher und verhaltensbezogener Reaktionen eines Individuums auf interne oder externe Reize ansehen, die das Gleichgewicht stören, die Fähigkeiten zur Bewältigung beanspruchen oder überschreiten und Anpassungsleistungen verlangen (Contrada & Baum, 2011). Diese Begriffsbestimmung macht bereits deutlich, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Stress durch eine differenzierte Analyse gekennzeichnet ist, in der zwischen drei zentralen Stressauffassungen unterschieden wird. In reaktionsbezogenen Konzeptionen steht die Analyse stressbezogener Reaktionen im Zentrum. In situationsbezogenen Konzeptionen wird die Rolle von Umweltbedingungen als Stressoren (d.?h. als Stressauslöser) analysiert. In relationalen Konzeptionen wird die Person-Umwelt-Beziehung in belastenden Auseinandersetzungen untersucht und die Rolle von Bewertungsprozessen und der Stressbewältigung thematisiert. 1.2 Reaktionsbezogene Stresskonzeptionen
In den reaktionsbezogenen Stressvorstellungen werden primär physiologische Veränderungen (u.?a. bei Atmung, Herzrate, Blutdruck, Freisetzung von z.?B. Cortisol, ACTH, Noradrenalin, Adrenalin, Glukose), die den Organismus insgesamt aktivieren (insb. Sympathikus-Nebennierenmark-Achse) und Energiereserven bereitstellen (insb. Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse), betrachtet. Selye (1936, 1986) beschrieb mit dem „Allgemeinen Adaptationssyndrom“ die unspezifische Reaktion des Organismus auf unterschiedliche Anforderungen mit dem Ziel der Anpassung. Mit Alarmreaktion, Widerstandsphase und Erschöpfungsphase werden drei Phasen unterschieden. Ist das Individuum einem Stressor ausgesetzt, so ist die Widerstandskraft zunächst herabgesetzt. Auf diesen anfänglichen „Schock“ werden endokrine Prozesse angestoßen, die den Körper zur Bewältigung der Belastung befähigen sollen (sog. Alarmreaktion). Dauert der Stressor an, kommt es in der Widerstandsphase zu einer weiteren Aktivierung metabolischer und endokriner Prozesse. Der Organismus versucht, die Homöostase wiederherzustellen. Hält der Stressor an, folgt die Phase der Erschöpfung. Die Adaptation an die Stresssituation bricht zusammen, Schädigungen von Organsystemen können die Folge sein. |13|Auch aktuelle Modelle betonen die Adaptivität der (akuten) physiologischen Stressreaktion. So bezeichnet McEwen (1998) den psychobiologischen Prozess der Anpassung des Organismus an die Anforderungen als Allostasis („stability through change“). Eine inadäquate Aktivität allostatischer Systeme (z.?B. fehlende Adaptation, verlängerte Stressreaktion; Kirschbaum, Pirke & Hellhammer, 1993) kann zu stressbedingten Erkrankungen führen. Experimentelle Verfahren und Ambulantes Assessment stehen bei der Erfassung physiologischer Stressreaktionen im Vordergrund (siehe Abschnitt 4.2.4 und 4.2.7). Langanhaltender, chronischer Stress ist auch im Zusammenhang mit einer Burnout-Symptomatik (von „to burn out“, ausbrennen) zu sehen. Symptome sind primär emotionale Erschöpfung, Depersonalisation und reduzierte Leistungsfähigkeit bzw. -bereitschaft (Kaschka, Korczak & Broich, 2011). An diesem Beispiel wird deutlich, dass die reaktionsbezogene Stresskonzeption sich nicht auf biologische Prozesse beschränkt, sondern dass Stressreaktionen auch die Symptomwahrnehmung, Emotionen und Verhaltensaspekte (z.?B. nachlassende Leistungsfähigkeit) umfassen können. Zur Diagnostik bieten sich dabei insbesondere Selbst- aber auch Fremdbeschreibungsverfahren an. 1.3 Situationsbezogene Stresskonzeptionen
Im Mittelpunkt situationsbezogener Stresskonzeptionen stehen die potenziellen Stressauslöser. Relevant sind hier kritische Lebensereignisse (z.?B. Arbeitsplatzverlust), Widrigkeiten des Alltags („daily hassles“; z.?B. unzuverlässiger Nahverkehr auf dem Weg zur Arbeit), traumatische Ereignisse und Erfahrungen (z.?B. Naturkatastrophen, sexuelle Übergriffe) oder chronische Stressoren (z.?B. Armut, chronische Erkrankung), aber auch Entwicklungsaufgaben (z.?B. Entwicklung einer Geschlechtsidentität, Ablösung vom Elternhaus) können Stressquellen darstellen. Ein Paradebeispiel für die situationsbezogene Stressmessung stellt die von Holmes und Rahe (1967) eingeführte Social Readjustment Rating Scale (SRRS) zur Messung der sogenannten kritischen Lebensereignisse dar (siehe Abschnitt 3.3.1). Über das Ausmaß der erlebten Stressereignisse wird die auf ein Individuum wirkende Stressbelastung diagnostiziert. Grundannahme ist dabei, dass bestimmte Ereignisse mit größeren Lebensveränderungen („life-change units“, LCUs) einhergehen als andere Ereignisse. Nicht nur negative Ereignisse, sondern auch positive erfordern dabei eine Anpassungsleistung (z.?B. Tod eines Familienmitglieds?=?100 LCUs, Heirat?=?58 LCUs, dauernder Ärger mit dem Auto?=?26 LCUs). Je höher die Summe an LCUs in einem bestimmten Zeitraum, desto größer fällt die Stressbelastung aus. Da der Zusammen|14|hang zwischen dem Ausmaß an Belastung durch kritische Lebensereignisse und dem Gesundheitszustand jedoch eher gering ausfiel, wurde in nachfolgenden Ansätzen nicht nur nach dem Auftreten von Ereignissen gefragt. Auch die Einschätzung der Ereignisse (z.?B. als negativ, neutral, positiv, ggf. mit einer Intensitätsskala, z.?B. von „sehr günstig“ bis „sehr ungünstig“) wurde mit erhoben (z.?B. Life Experiences Survey, LES; Sarason, Johnson & Siegel, 1978). Manchmal werden reaktions- und situationsbezogene...