E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Klemperer Sozialmedizin – Public Health – Gesundheitswissenschaften
4., aktualisierte und ergänzte Auflage 2020
ISBN: 978-3-456-76016-2
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lehrbuch für Gesundheits– und Sozialberufe
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-456-76016-2
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Umfassendes und komplexes Grundlagenwissen, kompakt, kritisch und praxisnah auf den Punkt gebracht: • Individualmedizin und Bevölkerungsgesundheit (Public Health) • Gesundheit und Krankheit: Theorien und Modelle • Evidenzbasierte berufliche Praxis • Epidemiologie, Forschungsmethoden, Gesundheitsberichterstattung • Prävention und Gesundheitsförderung • Ungleichheiten der Gesundheit. • Gesundheitssystem und Gesundheitspolitik Für die 4. Auflage wurden alle Kapitel vollständig überarbeitet und aktualisiert. Website des Autors zum Buch: www.sozmad.de Mit Geleitworten von Rolf Rosenbrock, Eckart von Hirschhausen und Michael Marmot.
Zielgruppe
Studierende und Berufstätige in den Gesundheits- und Sozialberufen, Patientenvertreter in der Selbstverwaltung, Krankenkassenmitarbeiter, Mitglieder und Mitarbeiter der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe, Journalisten und alle an grundlegenden Fragen von Gesundheit, des Gesundheitssystems und der Gesundheitspolitik Interessierten
Autoren/Hrsg.
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|15|Geleitwort zur 3. Auflage
von Eckart von Hirschhausen Liebe Leserinnen und Leser, das Blöde an Lehrbüchern ist, dass man ihren Wert erst dann entdeckt, wenn die Prüfung vorbei ist. Am deutlichsten ist mir dieser Zeitverzug beim Fach Sozialmedizin klar geworden. Es hat über 20 Jahre gebraucht. Im Studium hab ich das Fach als Pflicht in den ersten Semestern abgehakt und die entsprechenden Multiple-Choice-Fragen irgendwie beantwortet bekommen. Heute entdecke ich neu, wie wichtig „public health“ und die sozialen Fragen in der Medizin sind, und fange freiwillig an, Lehrbücher dazu zu lesen. Und jetzt darf ich sogar ein Geleitwort zu dieser dritten Auflage schreiben, weil ich den Autor auf dem Kongress „Armut und Gesundheit“ kennen und schätzen gelernt habe. Die großen Herausforderungen liegen nicht auf Zell- sondern auf Gesellschaftsebene. Wissenschaftsvermittlung hat sich lange darauf konzentriert, das was Wissenschaftler herausgefunden haben, verständlich zu machen. Die großen Fragen der Zukunft entscheiden sich aber leider nicht im Labor sondern im prallen Leben. Und Patienten wollen andere Dinge wissen, als das was Forscher interessiert. Wie der Editor des British Medical Journals Tim Weber auf der Tagung des „Netzwerks Evidenz basierte Medizin“ vortrug, landet von 25?000 veröffentlichten Fachartikeln genau ein einziger in der medizinischen Praxis. Angesichts solcher Zahlen braucht es dringend eine Umschichtung der Forschungsmittel hin zu Fragestellungen, die näher dran sind an der Versorgung und den großen therapeutischen Herausforderungen: Diabetes, Herz-Kreislauf, Übergewicht, Rücken, Depression. Alles Erkrankungen die sich zu weiten Teilen verhindern lassen und die nicht ansteckend sind. Außer durch schlechte Vorbilder. Gesundheit folgt der Bildung. Dazu braucht es keine weiteren Studien. Aber wie erreicht man unterprivilegierte Kinder so früh und so wirksam, dass sie gesund bleiben? Die Konzepte dazu gibt es, zahlreiche Projekte haben gezeigt, dass es punktuell geht. Aber wer hat ein echtes Interesse an Prävention? Gute Bücher wie dieses werden nicht müde, auch in die andere Richtung zu schauen und die patientenrelevanten und sozialen Fragen in den Elfenbeinturm zu tragen. Meine erste Stelle als Arzt war in der Kinderneurologie und Psychiatrie. Dort war ich oft mit meinem Latein am Ende, obwohl ich so viele tolle lateinische Fachausdrücke gelernt hatte. Denn die Probleme, mit denen die Familien dort zu kämpfen hatten, ließen sich selten mit einer Diagnose oder einem Medikament beheben, sondern brauchten viele Veränderungen im alltäglichen Leben. Ich wollte weiter lernen und studierte noch Journalismus. Sechs Jahre lang hatte ich trainiert, mich unverständlich auszudrücken, und nun sollte ich plötzlich die Dinge so sagen, dass sie jeder Leser oder Fernsehzuschauer versteht. Aus dieser professionellen Verwirrtheit machte ich einen neuen Beruf, den es bisher noch nicht gab. Medizinischer Kabarettist. Ich wollte testen, ob man den Zeigefinger nicht besser statt zum Drohen und Kitzeln verwenden kann, um Menschen anders |16|über Gesundheit nachdenken zu lassen. Und mich wunderte tatsächlich, warum so wenig von dem, was man weiß, angewendet wird. Nur ein Beispiel: Bluthochdruck ist Killer Nummer Eins. Angst haben wir vor Krebs, sterben tun wir sehr viel häufiger an Herz-Kreislauf-Krankheiten. Ist Blutdruck schwer zu diagnostizieren? Nein. Fehlen wirksame Mittel für die Behandlung? Nein. Warum wissen dann die Hälfte der Leute, die Bluthochdruck haben nichts von ihrer Erkrankung? Und warum werden diejenigen die es wissen, auch zu weniger als der Hälfte nach den besten Leitlinien behandelt? Selbst wenn jemand schon einen Herzinfarkt und teure Operationen hatte, bleiben Risikofaktoren bei mehr als der Hälfte der Patienten bestehen. Das ist so absurd, und noch viel schlimmer finde ich, dass es so wenige Leute gibt, die sich darüber aufregen und forschen, wie man das besser machen könnte. Diese „Non-Compliance“ (das Nichteinhalten von ärztlichen Ratschlägen) betrachtet der Arzt als Trotz, der Patient als Selbsterhaltungstrieb. Tabletten im Werte von geschätzt 20 Milliarden Euro landen so jedes Jahr im Müll. Hier in dem Buch gibt es viele Ideen, was man mit diesem Geld besseres für die Gesundheit von Vielen tun könnte. Neulich durfte ich einen Vortrag vor Herzchirurgen halten. In der Vorbereitung wurde mir das Dilemma der modernen Medizin so klar wie selten. Es gibt gute Studien, die zeigen, dass bei Schmerzen in der Brust eine Umstellung in der Lebensweise zu mehr Bewegung langfristig mehr bringt als einen Stent zu implantieren, eine Art Maschendrahtzaun für die Gefäßwand. Das ist die Theorie. In der Praxis bringt es aber mehr, zu operieren als zu überzeugen, zu üben und zu begleiten. Wenn ich einen Bypass operiere, bin ich ein Held und verdiene viel Geld. Wenn ich heute in einer Schule Jugendlichen beibringe, nicht zu rauchen, so dass er später nie einen Bypass braucht, bin ich kein Held, verdiene kaum Geld und habe aber in der Bilanz diesem jungen Menschen den größeren Dienst und mehr beschwerdefreie Lebensjahr geschenkt als jeder kurative Arzt. Woher kommt das Wort für die größte europäische Klinik, die Charité? Man könnte meinen von Shareholder Value. Irrtum. Charité kommt von Caritas, der Nächstenliebe. Sich um kranke Menschen zu kümmern, war ursprünglich im christlichen Abendland ein Akt der Barmherzigkeit. Ein Patient ist in erster Linie kein Kunde, sondern ein leidender Mensch. Und die wichtigste Frage sollte auch nicht sein, wie mache ich mit dem 20?% Rendite, sondern: Wie kann ich dem helfen? Und wenn wir so viel reden über die Bedrohung der Werte des Abendlandes: Nächstenliebe, Solidarität und Gerechtigkeit sind Werte, für die wir wirklich auf die Straße gehen sollten. Schon vor 2000 Jahren sagte ein Heiler: „Das Wichtigste sind Glaube, Liebe und Hoffnung.“ Drei Entwicklungen machen mir Mut: Patienten werden selbstbewusster und lassen nichtmehr alles mit sich machen. Die Ärzteschaft kapiert langsam selber, dass weniger mehr sein kann. Und die Heilkraft des Humors wird nicht mehr nur belächelt sondern ernsthaft klinisch untersucht. Der Reihe nach. Trend Patientenautonomie und gemeinsam entscheiden Das Internet sollte Wissen demokratisieren und die Verbreitung der Vernunft erleichtern. Dachte man. Leider hat sich dieser auf klärerische Gedanke ins Gegenteil verkehrt. Das Netz ist ein Eldorado für Verschwörungstheoretiker, Außenseitermeinungen und fundamentalen Unsinn – mit einem Wort: „Bullshit“. In vielen Lebensbereichen greift eine Haltung um sich, die keinen Unterschied mehr macht, ob und welche Beweise für eine Behauptung herhalten. Jeder kann alles herausposaunen, und eine absurde These ist immer interessanter als ihre mühsame Widerlegung. Der britische Arzt Andrew Wakefield veröffentlichte 1998 eine Studie, die an 12 Kindern einen Zusammenhang zwischen Masernimpfung und Autismus postulierte. Fragt man heute Menschen auf der Straße, haben viele davon gehört. Aber wer hat davon gehört, dass 2010 diese Arbeit als Fälschung entlarvt, Wakefield die |17|Zulassung entzogen und an über 500?000 Kindern bewiesen wurde, dass es keinerlei Zusammenhang gibt? Der Skandal ist spannend, die Widerrufung nicht. Es bleibt ein diffuser Makel an einer der wichtigsten und segenreichsten Präventionsmaßnahmen, die es überhaupt gibt, mit der Folge, dass Kinder an einer Infektion sterben, die seit 50 Jahren mit zwei kleinen Piksern Geschichte sein könnte. Cornelia Betsch untersucht an der Universität Erfurt, was passiert, wenn besorgte Eltern im Netz zum Thema Impfen herumsuchen und wie sie nach 10 Minuten jede Menge kritischer Informationen zusammen gegoogelt haben, ohne einordnen zu können, was davon stimmt. Deshalb ist eine der großen Aufgaben für Public Health auch Public Understanding! Die Internetseiten, die in staatlichem Auftrag evidenzbasiert und verständlich sind wie gesundheitsinformation.de oder die Seiten der Bundeszentrale für Gesundheitliche Auf klärung, sind in der Bevölkerung nicht ausreichend bekannt. Erst recht nicht in bildungsfernen Schichten. So wie man Medikamente auf ihre Wirksamkeit testet, so kann man auch Texte und Seiten testen, und sollte das auch tun. Was dringend eingerichtet werden sollte: eine Suchmaschine zu Gesundheitsfragen, die gezielt geprüfte und brauchbare Informationen zusammenträgt. In skandinavischen Ländern ...