E-Book, Deutsch, 105 Seiten
Keune / Hansen / Wettinger Multiple Sklerose
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8444-2913-8
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 105 Seiten
Reihe: Fortschritte der Neuropsychologie
ISBN: 978-3-8444-2913-8
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Multiple Sklerose (MS) gilt als die häufigste chronisch-entzündliche ZNS-Erkrankung des jungen Erwachsenenalters. Der Krankheitsverlauf kann sehr variabel sein und die Behandlung erfordert oft auch ein fundiertes neuropsychologisches Fachwissen.
In diesem Band werden zunächst grundlegende Kenntnisse über das Störungsbild, Ätiologie, Pathogenese und Störungstheorien dargestellt. Anschließend werden grundlegende neuropsychologische Kenntnisse für die fundierte Erfassung kognitiver Beeinträchtigungen vermittelt. Als wichtige zusätzliche Aspekte wird dabei auch auf die bei MS häufig auftretenden Faktoren Fatigue und Depressivität eingegangen. Darauf aufbauend werden die Möglichkeiten neuropsychologischer Therapie bei MS diskutiert. Ein beispielhafter Aufbau einer achtsamkeitsbasierten Intervention wird vorgestellt. Schließlich wird anhand eines ausführlichen Fallbeispiels das komplexe Zusammenwirken neuropsychologischer, psychosozialer und affektiver Variablen beleuchtet.
Zielgruppe
Neuropsycholog_innen, klinische Psycholog_innen, Neurolog_innen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
3 Pathogenese, Pathophysiologie und neuropsychologische Störungstheorien
3.1 Pathogenese und Pathophysiologie
Der geneigten Leserin können zum komplexen Thema der Pathogenese und Pathophysiologie der MS diverse Arbeiten empfohlen werden (Brück & Stadelmann-Nessler, 2006; Compston & Coles, 2008; Lassmann, Brück & Lucchinetti, 2007), deren Inhalte in der hier vorliegenden Arbeit nur in sehr begrenzter Form wiedergegeben werden können. Als grundlegendes Merkmal der MS wurden die im Verlauf der Erkrankung auftretenden sklerotischen Plaques, die als Folge der inflammatorischen Aktivität und Demyelinisierung im ZNS entstehen, beschrieben (Brück & Stadelmann-Nessler, 2006). Obwohl es hier im Verlauf auch zu Remyelinisierung kommt, ist das Resultat dieser Prozesse die chronische Neurodegeneration. Der Entzündungsprozess wird dadurch eingeleitet, dass autoreaktive Lymphozyten die Blut-Hirn-Schranke passieren (Compston & Coles, 2008). In diesem Zusammenhang kommt es zum Ausfall einer wichtigen Überwachungsfunktion von regulatorischen Lymphozyten, die im Normalfall für die Ausschaltung autoreaktiver Zellen sorgen (Compston & Coles, 2008). Die Aktivität von T-Helferzellen (CD4+-Zellen) geht dabei unter anderem mit der Aufregulation diverser Zytokine sowie der Rekrutierung von Makrophagen einher, wobei insbesondere die Aufregulation von Zytokinen mit einer erhöhten Krankheitsaktivität as|20|soziiert ist (Brück & Stadelmann-Nessler, 2006; Rieckmann et al., 1995). Die resultierenden entzündlichen Infiltrate im ZNS bestehen zu einem großen Teil aus T-Lymphozyten, hierunter vor allem den zytotoxischen T-Lymphozyten (CD8+; früher auch als T-Killerzellen bezeichnet), sowie sekundär rekrutierten Makrophagen und Mikrogliazellen, die am Prozess der Entmarkung beteiligt sind (Brück & Stadelmann-Nessler, 2006; Lassmann et al., 2007). Zytotoxische T-Lymphozyten können außerdem Oligodendrozyten schädigen, die für die Myelinisierung von Axonen verantwortlich sind. Neben dem beschriebenen Prozess, bei dem es durch zytotoxische T-Lymphozyten und Makrophagen zur Entmarkung kommt, besteht eine weitere Möglichkeit darin, dass Antikörper spezifisch für Myelin bzw. Oligodendrozyten am Entmarkungsprozess beteiligt sind (Brück & Stadelmann-Nessler, 2006; Compston & Coles, 2008). Folglich ist davon auszugehen, dass Pathogenese und Pathophysiologie über Patientinnen mit MS hinweg durchaus heterogen sind, obwohl allen die Entmarkung und Neurodegeneration im Verlauf gemein sind (Brück & Stadelmann-Nessler, 2006). Bezüglich der Läsionen wird unterschieden, ob es sich um aktive entmarkende Läsionen handelt oder ob ein inaktiver Plaque vorliegt (Filippi, Rocca, et al., 2012). Entzündungsherde können im MRT mithilfe des Kontrastmittels Gadolinium (Gadolinium-Diäthylen-Triamin-Penta-Essigsäure) sichtbar gemacht werden. Durch die lokale Akkumulation von Gadolinium lassen sich Läsionen als Herde darstellen, in denen sich das Kontrastmittel anreichert. Allerdings ist die Kontrastmittelanreicherung nicht zwingend auf Phasen beschränkt, in denen auch klinische Symptome erkennbar sind. Die Myelinscheiden, die die Axone umgeben, sind essenziell für eine saltatorische Ausbreitung der Depolarisation. Aufgrund dessen führt die Demyelinisierung zu einer Störung der Weiterleitung elektrischer Impulse. Die Weiterleitung kann auch über Läsionen hinweg zumindest teilweise noch gegeben sein, allerdings bei geringerer Geschwindigkeit. Klinisch lässt sich dies zum Beispiel anhand der Messung evozierter Potenziale mit einer entsprechenden Verlangsamung objektivieren sowie anhand einer Verlangsamung/Abschwächung elektrischer Impulse entlang des kortikospinalen Traktes nach der Applikation von transkranieller Magnetstimulation (TMS) über dem motorischen Kortex feststellen (Hofstadt-van Oy et al., 2015). Bei Axonen, die teilweise demyelinisiert sind, kann es zu unsystematischen, spontanen Entladungen kommen, was als Erklärung für Phänomene wie Sensibilitätsstörungen und Parästhesien herangezogen wurde. Im Fall der Rückbildung klinischer Symptome ist von einem Rückgang von Leitungsblockaden durch schwindende Entzündungsaktivität und einer Rückbildung assoziierter Hirnödeme auszugehen (Compston & Coles, 2008). Dies ist auch kompatibel mit der Beobachtung, dass nach der Behandlung eines akuten Schubes durch Kortison eine Verbesserung in der klinischen Symptomatik sehr schnell eintre|21|ten kann. Zusätzlich wird angenommen, dass längerfristige Prozesse der Remyelinisierung zu einer Verbesserung der Symptomatik beitragen können (Compston & Coles, 2008). Das Wichtigste auf einen Blick Die Autoimmunerkrankung MS zeigt sich auf molekularer und zellulärer Ebene als Demyelinisierung und Neurodegeneration, die die Folgen entzündlicher Prozesse im ZNS darstellen. Durch das Passieren der Blut-Hirn-Schranke von autoreaktiven Lymphozyten wird im Zusammenspiel mit Zytokinen, Makrophagen und spezifischen Antikörpern eine Entzündungsreaktion ausgelöst. In der Diagnostik wird unterschieden zwischen aktiven, demyelinisierenden Läsionen und inaktiven Plaques. Die gestörte Reizweiterleitung aufgrund der Demyelinisierung zeigt sich unter anderem in einer verminderten Geschwindigkeit der Signalübertragung, in deren Folge klinische Symptome erkennbar werden können. Fatigue-Symptomatik im Kontext der Pathophysiologie Bezüglich des Phänomens der Fatigue-Symptomatik werden in diesem Zusammenhang unterschiedliche Ursachen diskutiert, die konzeptionell jedoch auch eine gewisse Überlappung aufweisen. Eine Annahme besteht darin, dass inflammatorisch bedingte Läsionen der weißen und grauen Hirnsubstanz zu einer Störung der Funktion neuronaler Netzwerke und zum Bedarf der Rekrutierung alternativer kompensatorischer Netzwerke führen (Manjaly et al., 2019). In einigen fMRT-Studien konnte beispielsweise gezeigt werden, dass es insbesondere bei Fatigue, die durch die Bearbeitung von motorischen oder kognitiven Aufgaben bei Patientinnen mit MS induziert wurde, relativ zu gesunden Vergleichspersonen zu einem Anstieg der neuronalen Aktivität in weit verzweigten Netzwerken kam (Arm, Ribbons, Lechner-Scott & Ramadan, 2019; DeLuca, Genova, Capili & Wylie, 2009; White, Lee, Light & Light, 2009). Demzufolge erscheint ein Zusammenhang zwischen neuronaler Hyperaktivität und ineffizienter Rekrutierung neuronaler Netzwerke auf der einen Seite, sowie Fatigue-Symptomatik auf der anderen Seite naheliegend. Hanken et al. (2014) stellten ergänzend zu diesem Erklärungsansatz ein integratives Modell vor, das die direkte Auswirkung inflammatorischer Aktivität auf das subjektive Krankheitsempfinden im Sinne von Fatigue-Symptomatik und hierfür relevante neuronale Strukturen berücksichtigt. Diesem Modell zufolge führt die Erhöhung peripherer proinflammatorischer Zytokine zur Aktivierung von afferenten Verbindungen mit Relevanz für interozeptive und homöostatische Prozesse. Über diese afferenten Bahnen, hierunter die des Nervus vagus, werden insbesondere Regionen des Hirnstammes, der Hypothalamus, die Insula und das anteriore Cingulum innerviert. Der Ef|22|fekt der inflammatorischen Aktivität auf diese neuronalen Strukturen geht mit Fatigue als Krankheitsempfinden einher. Dies wiederum kann dazu führen, dass Patientinnen von der Bearbeitung kognitiver Aufgaben im Sinne einer interozeptiven Interferenz abgelenkt werden. In Kombination mit den Auswirkungen fokaler Läsionen kommt es schließlich zu objektivierbaren Einschränkungen, insbesondere bei Aufgaben, die die Aufmerksamkeitsintensität betreffen (Hanken et al., 2014). 3.2 Neuropsychologische Störungstheorien
Darüber hinaus erklären integrative Ansätze kognitive Defizite bei MS im Sinne eines „Dyskonnektions-Syndroms“, welches durch ein Zusammenspiel der Auswirkungen fokaler Läsionen, Schäden an strategisch bedeutsamen Faserbahnen der weißen Hirnsubstanz sowie an der grauen Hirnsubstanz hervorgerufen wird (Filippi et al., 2010; Llufriu et al., 2017; Rocca et al., 2015). Basierend auf der oben skizzierten Pathogenese der MS liegt hinsichtlich neuropsychologischer Störungstheorien nahe, einen Zusammenhang zwischen der Ausprägung fokaler kortikaler Läsionen und der kognitiven Leistung anzunehmen. Frühe Studien...