E-Book, Deutsch, Band 2076, 126 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
Kappeler Russische Geschichte
9. Auflage 2024
ISBN: 978-3-406-83269-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2076, 126 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-83269-7
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Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Andreas Kappeler ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien.
Autoren/Hrsg.
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I. Grundlagen
Der Gegenstand der russischen Geschichte
Gegenstand der russischen Geschichte ist seit dem Beginn der modernen Historiographie fast immer der Staat gewesen. Die fest verankerte Auffassung von einer über tausendjährigen staatlichen Tradition Russlands ließ nur ausnahmsweise andere Bezugspunkte wie das russische Volk oder den geographischen Raum zu. Zwar stellten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ukrainische Historiker die Kontinuitätslinie Kyjiv-Moskau-St. Petersburg in Frage, indem sie das Kyjiver Reich exklusiv für die ukrainische Nationalgeschichte reklamierten.
Umstrittener war und ist die Frage, ob die russische Geschichte 1917 zu Ende gegangen sei. Die Russische Revolution bedeutete einen tiefen Bruch und führte zu einer neuen politischen Ordnung, zu einer neuen herrschenden Ideologie, zu neuen Eliten und unter Stalin zu einer tiefgreifenden Umwälzung der gesamten Gesellschaft. Andererseits zeigte sich schon nach dem Ende des Bürgerkriegs und noch deutlicher in der Stalinzeit, dass die Sowjetunion die Nachfolge der Großmacht Russland angetreten hatte.
Die Frage nach der Kontinuität russischer Geschichte stellt sich nach dem Kollaps der Sowjetunion neu. Das postsowjetische Russland steht vor der Aufgabe, seine Geschichte neu zu schreiben. Dabei knüpft man an die Zeit vor dem Oktober 1917 an. Allerdings entsprechen Russlands Grenzen nicht denen des zarischen Vielvölkerreiches vor 1917, sondern denen des ethnisch relativ einheitlichen Moskauer Staates im 17. Jahrhundert – die wichtigste Ausnahme sind die Gebiete des nördlichen Kaukasus mit Tschetschenien, die Russland erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts eroberte. Manche Russen stellen sich heute die Frage, ob der Staat immer noch als zentraler Bezugspunkt der russischen Geschichte dienen kann oder ob im Zuge nationaler Umbesinnung als neue Kategorie das Volk, die ethnische Gruppe, herangezogen werden muss. Gehören die fast ausschließlich von Nichtrussen bewohnten Gebiete Polens, Finnlands, Armeniens oder Mittelasiens, die in verschiedenen Perioden zum russischen oder sowjetischen Staat gehörten, zur russischen Geschichte? Sind andererseits die Millionen seit 1917 aus Russland ausgewanderten Russen und die Millionen ethnischer Russen im sogenannten «Nahen Ausland» Gegenstand der russischen Geschichte?
Völker ohne staatliche Kontinuität wie die Deutschen oder Ukrainer hatten schon seit jeher die ethnische Gruppe (das Volk) zum wichtigsten Subjekt ihrer Geschichte erklärt. Für die meisten Russen war eine solche Sicht bis vor Kurzem neu und irritierend. Erschwerend kommt hinzu, dass nicht unbestritten ist, wer als Russe zu gelten hat: Gehören nur die Großrussen zum russischen Volk oder auch die sprachverwandten orthodoxen Belarussen und Ukrainer? Ist vielleicht nicht die Sprache, sondern die Orthodoxie das entscheidende Integrationskriterium? Oder definiert sich ein Russe doch über den Staat, der vor 1917 und heute nicht nach der ethnischen Gruppe der Russen (russkie) benannt ist, sondern mit dem supraethnischen Terminus Rossija (Russland)?
Ich werde mich an das bis heute vorherrschende staatliche Gliederungsprinzip halten und den folgenden Abriss der politischen Geschichte (Teil 2) mit dem Kyjiver Reich beginnen und mit der Russländischen Föderation enden lassen. Da die Russen mit Ausnahme des Kyjiver Reiches, das seinen Schwerpunkt in der heutigen Ukraine hatte, den Kern dieser Staaten bildeten, stehen sie als ethnische Gruppe im Mittelpunkt. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die Geschichte all dieser Staatswesen nicht nur Geschichte der Russen, sondern auch zahlreicher anderer Völker war.
Geographische Gegebenheiten
«Es gibt einen Faktor, der wie ein roter Faden durch unsere ganze Geschichte läuft, der in sich sozusagen ihre ganze Philosophie enthält und der gleichzeitig wesentliches Element unserer politischen Größe und wahre Ursache unserer geistigen Ohnmacht ist – das ist das geographische Faktum», so der russische Philosoph Petr Caadaev in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seiner These von der großen und ambivalenten Wirkungskraft der geographischen Gegebenheiten auf die russische Geschichte ist grundsätzlich zuzustimmen. Sie wird allerdings problematisch, wenn sie zu deterministischen Kurzschlüssen führt wie «Der Weite des russischen Raums entspross die weite russische Seele» oder «Das Fehlen natürlicher Grenzen erforderte in Russland eine Diktatur, um äußere Feinde erfolgreich abwehren zu können».
Offensichtlich ist der Einfluss geographischer Gegebenheiten auf die wirtschaftlichen Verhältnisse. Das rauhe, kontinentale Klima und die wenig ertragreichen Ackerböden haben der Landwirtschaft in allen Perioden der russischen Geschichte Probleme bereitet: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart hören wir periodisch von Missernten, die meist auf Dürren oder plötzliche Kälteeinbrüche zurückgeführt werden. Die fruchtbaren Schwarzerdeböden, deren Erträge allerdings durch Trockenheit gefährdet werden, lagen in den Steppengebieten des Südens und Südostens, die lange von Reiternomaden kontrolliert wurden. Nur die Kosaken drangen seit dem 15. Jahrhundert den Flüssen nach in die Steppe vor, ostslavische Ackerbauern rückten erst seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts allmählich nach.
Traditioneller Lebensraum der Russen war deshalb der Wald: Holz war bis ins 20. Jahrhundert das weitaus wichtigste Bau- und Brennmaterial. Waldgewerbe wie die Waldbienenzucht oder die Jagd stellten lange bedeutende Wirtschaftszweige dar, und Wachs und Pelze waren über Jahrhunderte die wichtigsten Exportgüter Russlands. Auch die geistige Welt russischer Bauern blieb lange von der von Geistern und Nymphen beseelten Welt des Waldes bestimmt. Wald und Sümpfe behinderten den Verkehr, der deshalb in der Regel über die Flüsse ging, die das wichtigste raumgliedernde Element Russlands darstellen. Doch blieben die Mündungen der Flüsse lange unter der Kontrolle anderer Mächte. Die Kontinentalität Russlands, das erst spät Zugang zu eisfreien Meeren erhielt, verzögerte die Entwicklung des Außenhandels und damit auch die von Fernkaufleuten ausgehenden kapitalistischen Impulse.
Deutlich ist auch der Zusammenhang von Geographie und Demographie: Der riesige, kaum durch natürliche Grenzen gegliederte, weitgehend flache Raum der Russischen Tafel und ihrer Fortsetzung im Osten förderte die Mobilität der Bevölkerung. Die kontinuierlichen Migrationen russischer Bauern wurden erleichtert durch die Verkehrswege der großen Flusssysteme vom Dnjepr über Don und Wolga bis zu den Strömen Sibiriens und ihren Nebenflüssen. Die sich aus der ständigen Abwanderung ergebende niedrige Bevölkerungsdichte und die relativ großen Reserven an Land und Rohstoffen förderten eine extensive Wirtschaftsweise und zwangen Russland nicht zu einer Intensivierung der Anbaumethoden oder der Technologie.
Der weitgehend offene Raum war, so hat die russische Historiographie oft betont, ständig Aggressionen von allen Seiten ausgesetzt. Im Süden und Osten war es die Bedrohung durch Reiternomadenvölker, die in der Eroberung Russlands durch die Mongolen kulminierte. Im Westen wechselten sich die Invasoren ab, von den normannischen Warägern über den Deutschen Orden, die Litauer, Schweden und Polen bis zu Napoleon und Hitler. Umgekehrt erleichterten die geographischen Bedingungen die Expansion Russlands auf dem Landweg nach Asien und Mitteleuropa und zu den Meeren. Dennoch geht R. J. Kerner zu weit, wenn er «den Drang zum Meer» als entscheidende Triebkraft der russischen Geschichte betrachtet. Im Bereich der politischen Geschichte stoßen wir überhaupt an die Grenzen geographischer Erklärungen. Für eine Deutung von Invasionen und Expansionen war die Stärke oder Schwäche der staatlichen Organisation der Nachbarn Russlands wichtiger als die räumlichen Bedingungen. Der riesige Raum und die Schwierigkeiten seiner Beherrschung taugen auch nicht als Erklärung der zentralistischen und autoritären Staatsform Russlands; eine...